50 Jahre Sgt. Pepper’s – 150 Jahre Kapital, 200 Jahre Marx

Vor 50 Jahren, am 1. Juni 1967, erschien das legendäre Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles, versehen mit dem wohl berühmtesten Cover der Pop-Geschichte. Auf ihm zu sehen sind die „Fabulous Four“ vor einem bunten Strauß illustrer Personen. Darunter ist auch Karl Marx.

Die Veröffentlichung fiel zufällig zusammen mit dem 100. Jahrestag der Veröffentlichung des Kapital und dem 150. Jahrestag von Karl Marx’ Geburtstag. Kein Zufall war dagegen, dass Marx in das Gruppenbild aufgenommen wurde: In den Staaten des Realsozialismus längst zu einem versteinerten Monument geworden, wurde Marx in den kapitalistischen Staaten bereits im Vorlauf zum „langen Jahr 68“ zu einer regelrechten Pop-Ikone. Obwohl wir auf dem Cover ebenjenes althergebrachte Bild des „reifen“ Marx sehen, das in den Staaten des Realsozialismus das graue Marx-Bild prägte, ist es bezeichnenderweise der Kontext, der Marx als Pop präsentiert, nämlich die Collage aus einer Reihe prominenter und doch ganz unterschiedlicher Personen.

Auf den ersten Blick scheint der Marx-Kopf in der Collage ein bloßes zwangloses Zitat zu sein, mit dem die Nachkriegsgeneration auf das Begehren nach einer anderen Gesellschaft anspielt. Marx erwartete ja zu seiner Zeit nichts weniger als eine Revolution und sah bereits im Kapitalismus die neue, kommunistische Gesellschaft im Kommen. Allein, die Revolution ist nicht nur zu Marx’ Lebzeiten ausgeblieben, auch die Bewegungen um 1968 haben zu keiner kommunistischen Gesellschaft geführt. Und doch hat das lange Jahr 68 einen gesellschaftlichen Umbruch und sogar eine Revolution mit sich gebracht, und die Art und Weise, wie Marx auf dem Cover aufgriffen wurde, bildet diese Revolution ab. Es handelt sich jedoch um diejenige Revolution, die Marx in seinem berühmten Manifest explizit allein dem Kapitalismus attestiert hatte: Die kapitalistische Produktionsweise ist revolutionär, nicht weil sie zum Sozialismus führt, sie ist „zuerst“ revolutionär, weil sie sich ständig selbst „revolutionieren“ muss. Pop schien eine solche immanente Revolution des Kapitals zu sein, wenn auch „nur“ in der Kultur.

Indes war Pop mehr als eine Revolution allein im Bereich der Kultur. In der Kultur artikulierte sich vielmehr eine anti-autoritäre Revolte, die alle gesellschaftlichen Bereiche betraf. Sie richtete sich gegen die Normierung, Formalisierung und Standardisierung der fordistischen Produktionsweise, und zwar nicht nur an der „ökonomischen Basis“, sondern auch in der Sexualität und in den Geschlechterverhältnissen, in der Familie und in der Erziehung, im Bildungswesen und im Kunstbetrieb usw., kurz gesagt in all den Bereichen, die der klassische Marxismus als Phänomene des „Überbaus“ der ökonomischen Basis zusammenfasste und aus der Basis regelrecht ableiten wollte.

Diesem Basis-Überbau-Schema entgegen waren es indes zunächst gerade die Bereiche des gesellschaftlichen „Überbaus“, in denen die anti-autoritäre Revolte wirksam wurde. Die anti-autoritäre Revolte von 68 führte zu einer zivilen und kreative Verwirklichung des Potenzials der fordistischen Ökonomie oder eben dieser „Basis“ – nachdem das Potenzial in zwei Weltkriegen zunächst militärisch und destruktiv verwirklicht worden war und dadurch die anschließenden „Wirtschaftwunderjahre“ ermöglicht hatte, also die Jahre eines bloßen Wiederaufbaus. Das Potential hatte zwar bereits in ebendieser Wiederaufbauphase seine zivile Nutzung gefunden, vor allem im individuellen Massenkonsum. Gleichwohl waren die Gesellschaften im kapitalistischen Westen wie im realsozialistischen Osten noch immer bestimmt durch eine industriell-fordistische Standardisierung und Normierung, und zwar nicht nur der Arbeit und der Produktion, sondern auch des gesamten Bereichs der gesellschaftlichen Reproduktion, von den Familienverhältnissen und der Sexualität über die Bildung und die Medien bis zu den politischen Repräsentations- und Organisationsformen. In den heutigen Zeiten der Prekarität, der Beschleunigung und einer regelrechten Ökonomie der Entgrenzung und Unsicherheit schwer vorstellbar, war das vorherrschende Lebensgefühl jener Generation die – Langeweile.

Die Revolte von 68 war ein Umbruch, der mit der Form der fordistischen Produktionsweise brach, aber der Bruch bestand darin, ihr Potenzial für eine Ausdifferenzierung der Lebensweisen und für neue, kreative, experimentelle und selbstbestimmte Formen in allen Bereichen der gesellschaftlichen Reproduktion zu nutzen, in der Sexualität und den Geschlechterverhältnissen ebenso wie im Bildungswesen und an den Universitäten, in den politischen (Selbst-)Organisierungen ebenso wie in der Kunst und der Kultur. „Pop“ wurde einer der Namen für diese neuen Formen, und so wurde Pop zum Teil der Massenkultur wie das Automobil, das Radio oder der Kühlschrank. Auch das Beatles-Cover stellt einen solchen anti-autoritären, popkulturellen Gebrauch von Marx dar, insbesondere durch den assoziativen, spielerischen Bezug, der Marx ironisch zitiert, ohne sich explizit auf in zu berufen, ganz wie es für die Uneigentlichkeit der Popkultur und das „post-heroische Zeitalter“ insgesamt bezeichnend ist.

Ironischerweise war es die anti-autoritäre Revolte gegen die fordistische Normierung und Standardisierung der individuellen und der sozialen Reproduktion, war es dieser popkulturelle Umbruch im „Überbau“, der, statt den Kapitalismus zu überwinden, zu der von Marx angesprochenen Selbstrevolutionierungen wurde und in diejenige Phase führte, die später als post-fordistisch bezeichnet werden wird. Der Umbruch begann in genau denjenigen Ländern, in denen 68 zu einem echten „Ereignis“ wurde, während in den realsozialistischen Staaten eine solche anti-autoritäre Revolte ausblieb oder unterdrückt wurde. Obwohl die sozialistischen Staaten doch zumindest eine nachholende und aufholende Industrialisierung ins Werk setzten und insofern der kapitalistischen Produktionsweise zu folgen vermochten, brachten sie diese Fähigkeit des Kapitalismus zur Selbstrevolutionierung nicht auf.
Während somit die Staaten des Realsozialismus mit ihren autoritären, bürokratischen Partei- und Erziehungsregimes wirksam wurden allein für die Phase einer spezifisch fordistischen Industrialisierung und ohne den Umbruch in den Post-Fordismus dem Niedergang geweiht waren, mussten sich im kapitalistischen Westen die sozialen und antikapitalistischen Bewegungen wiederum als eine Modernisierung und als eine Art Selbstkritik genau derjenigen kapitalistischen Gesellschaft rekonstruieren, die sie überwinden wollten.

Die Collage auf dem Cover von Sgt. Pepper’s präsentiert bereits ein Bild dieser kommenden post-fordistischen Produktionsweise, vielleicht sogar das Bild schlechthin: Eine Zusammenschau einzelner Produzenten, die jeweils von ihrem individuellen Vermögen her produktiv zusammenwirken. Wir sehen darin aber auch bereits das Gegenbild, auf das sich die sozialen Bewegungen und die progressiven Kräfte fortan berufen werden. Denn beide, sowohl die post-fordistische Produktion als auch die Neuen Sozialen Bewegungen, werden das Subjekt adressieren als ein selbstbestimmtes Individuum, das, obwohl es durch und durch gesellschaftlich bestimmt ist und auch nur im Zusammenwirken zu einer gesellschaftlichen Kraft wird, nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner wie die Arbeiterklasse, die Massen oder das Volk zu bringen und einheitlich zu repräsentieren ist, zumindest nicht mehr auf eine ökonomisch und sozial fortschrittliche Weise. Die Produktivkraft der Gesellschaft ist nicht mehr verkörpert im Heer namenloser, enteigneter, homogener und formierter Arbeitermassen, sie erscheint vielmehr zerstreut in eine Menge irreduzibler Singularitäten, in der eine produktive Kraft, sei sie ökonomisch oder sozial und politisch, auf eine ebenso immanente wie emergente Weise durch anti-hierarchische Beziehung, Kommunikation und freiwillige Selbstregulierung entsteht statt durch äußere Disziplinierung und Kommando. Wo im Zeitalter der Industrialisierung das revolutionäre Subjekt im Marxismus als industrieller Massenarbeiter auftritt, politisch repräsentiert und angeführt von einer homogenen, hierarchischen Massenpartei, entstand um 68 ein neues Bild eines emanzipatorischen Subjekts: die Selbstorganisation eher assoziativ verbundener Individuen, die nur mehr intersektional und eher temporär zusammenkommen, ganz wie auf der Cover-Collage.

Die von Marx beschriebene Selbstrevolutionierung gilt also ebenso für die kapitalistische Produktionsweise wie für deren Kritik, und beides ist auf dem Cover ins Bild gesetzt, sowohl die kommende post-fordistische Produktivkraft unter den Bedingungen individualisierter, flexibilisierter und entgrenzter Subjektivität als auch die Idee eines neuen emanzipatorischen „Subjekts“. Das Collagenhafte des Album-Covers wird sogar beider Ideal adäquat, wenn es aus den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen die jeweils kreativsten und innovativsten Gestalten versammelt und so zum einen das beste Humankapital für die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ (Marx) zusammenstellt und zum anderen die, wie es heute heißt, „Multitude“ adäquat ins Bild setzt. Es ist, als ob die Individualität, die in der kommenden Epoche in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zur Produktivkraft werden wird, bereits auf dem Cover versammelt wird, um die gestaute, aber bislang ungenutzte Produktivkraft der Nachkriegsgesellschaft zu präsentieren.

Das berühmte Cover wurde 2008 für eine Ausstellung modernisiert: Karl Marx verschwand aus der Gruppe um die Fab Four und wurde durch die Schauspielerin Halle Berry ersetzt. Auch Marlon Brando und Shirley Tempel wurden ersetzt, nämlich durch den Fußballer Michael Owen sowie durch Mike Myers aka Austin Powers. Die Modernisierung, vorgenommen von Peter Blake selbst, der bereits das Original erstellt hatte, sollte Liverpools Bewerbung zur „Kulturhauptstadt Europas“ unterstützen. Die Selbstrevolutionierung des Kapitalismus ist eine permanente Revolution.

(Der Beitrag erscheint auf Englisch in einem Sammelband zum 50. Jahrestag des Sgt. Pepper’s Album. Jede Person auf dem Cover erhält dort einen eigenen Beitrag.)