„…eine internationale solidarische Schuld“

Eine Ausgabe der Spartakus-Briefe Foto: Karl Dietz Verlag

Die Frage von Krieg und Frieden war eine der entscheidenden der russischen Februarrevolution. Das galt auch für die Entwicklung in Deutschland. Das war die Frage, die überhaupt die Entwicklungen in allen europäischen Ländern verband. Sie war das Bindeglied für alle revolutionären Bewegungen dieser Zeit.

Anfang April 1917 gründete sich in Deutschland die Unabhängige Sozialdemokratische Partei als Sammelbecken einer sehr vielgestaltigen Opposition gegen den Kurs der Mehrheit der Reichstagsfraktion und des Apparates der „alten“ SPD. Die Spartakusgruppe als linker Flügel der oppositionellen sozialdemokratischen Bewegung verfolgte die Entwicklung in Russland sofort mit großer Aufmerksamkeit. Im Spartakusbrief Nr. 4 vom April und in der Nr. 5 vom Mai 1917 sind ausführliche Überlegungen zur Rolle der Revolution und zu ihrem Verlauf abgedruckt. Dokumente der Revolution werden in der Mai-Ausgabe ausführlich dokumentiert.

Eine zentrale Rolle spielt von Anfang an die Frage nach Rolle und Verantwortung des deutschen Proletariats in dem begonnen Revolutionszyklus. Spartakus konstatiert, dass es jetzt um Solidarität mit den russischen Volksmassen gehe, eine „solidarische Schuld“. Dieser Gedanke wird in den nächsten Monaten gerade bei Rosa Luxemburg eine große Rolle spielen und ist der entscheidende Ausgangspunkt ihres berühmten Manuskripts „Zur russischen Revolution“. Verantwortung und Versagen des deutschen Proletariats seit 1914 sieht sie als eine der entscheidenden Ursachen für den aus ihrer Sicht problematischen Verlauf der russischen Revolution ab Oktober/November 1917 – neben dem Partei- und Organisationsverständnis der Bolschewiki. Die Diskussion beginnt nicht erst nach der Oktoberrevolution, sondern schon kurz nach der Februarrevolution.

Hier einer dieser Texte:

Die Revolution in Russland (Spartacus Nr. 4 vom April 1917)

Der Krieg hat um einige Jahre hinausgeschoben, er konnte nicht verhindern, was bereits vor seinem Ausbruch vernehmbar heranrückte: das Wiederaufflammen der Revolution. Das russische Proletariat, das schon seit 1911 die bleierne Last der konterrevolutionären Periode überwunden und von Jahr zu Jahr in steigendem Maße in wirtschaftlichen und politischen Massenstreiks und Demonstrationen die revolutionäre Fahne von 1905 wieder aufgegriffen hatte, das russische Proletariat ließ sich nur 2 ½ Jahre lang durch den imperialistischen Krieg desorganisieren, durch die Säbeldiktatur knebeln, durch den Nationalismus beirren. Es ist wieder aufgestanden, um das Joch des Absolutismus abzuschütteln, und hat die russische Bourgeoisie gezwungen, augenblicklich vorwärtszumarschieren.

Wenn heute die Revolution in Rußland so rasch in wenigen Tagen gesiegt hat, so ist es einzig und allein deshalb, weil sie eben in ihrem historischen Wesen nur die Fortsetzung der großen Revolution von 1905-1907 ist. Die Konterrevolution vermochte sie nur für eine kurze Zeitspanne niederzustampfen, aber das ungelöste Werk der Revolution heischte gebieterisch seine Lösung, und die unerschöpfliche Klassenenergie des russischen Proletariats loderte denn auch jetzt unter den schwierigsten Verhältnissen auf. Es waren die frischen Erinnerungen an die Jahre 1905-6, die Revolution in Rußland an die teilweise schrankenlose politische Herrschaft des Proletariats in Rußland, an seine kühnen Vorstöße, an sein extremes revolutionäres Programm, was heute der russischen Bourgeoisie so wunderbar rasch den Entschluß eingab, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Es war die Angst vor der ungehemmten Entfaltung der Volksrevolution, wie sie der bürgerlichen Klassenherrschaft in den Jahren 1905-7 ihr Medusenhaupt gezeigt hatte, was die Rodsjankos, Miljukows und Gutschkows sofort bewog, sich auf die Seite der Revolution zu stellen und ihrerseits ein entschlossenes liberales Programm zu vertreten. Es ist dies ein Versuch des vor zehn Jahren gewitzigten besitzenden Bürgertums Rußlands, sich der Volksbewegung zu bemächtigen, ihre politischen Aufgaben in bürgerlich-liberalen Formen auszuführen, um ihre extrem demokratischen sowie sozialen Tendenzen auszuschalten.

Hier zeigt sich jedenfalls - allen Besserwissern, klugen Vorsichtsräten und kleingläubigen Pessimisten zum Trotz -, daß das Werk der Revolution von 1905 nicht verlorengegangen ist, daß die Opfer, die sie damals kostete, nicht vergeblich dargebracht waren, daß der kühn-revolutionäre Charakter der Forderungen, die von der sozialistischen Arbeiterschaft vertreten wurden, wohl eine sehr "praktische" Politik darstellte. Der heutige Mut und die Tatkraft der russischen liberalen Bourgeoisie sind nichts als ein schwacher Widerschein der Feuersbrünste von 1905/7. Dieselbe Machtentfaltung des Proletariats, die sie damals nach kurzer Zeit in die Arme der Konterrevolution geworfen hatte, stieß sie heute gleich im ersten Moment an die Spitze der Bewegung, gerade um der Wiederholung einer ähnlichen Machtentfaltung vorzubeugen.

Die Revolution in Rußland hat so heute im ersten Anlauf über den bürokratischen Absolutismus gesiegt. Aber dieser Sieg ist nicht das Ende, sondern nur ein schwacher Anfang. Denn einerseits muß sich die rückläufige Bewegung der Bourgeoisie von ihrem momentanen vorgeschobenen Posten des entschlossenen Liberalismus mit unvermeidlicher Logik aus ihrem allgemeinen reaktionären Charakter und ihrem Klassengegensatz zum Proletariat über kurz oder lang ergeben. Andererseits muß die einmal geweckte revolutionäre Energie des russischen Proletariats mit ebenso unvermeidlicher geschichtlicher Logik wieder in die Bahn einer extrem demokratischen und sozialen Aktion einlenken und wieder das Programm von 1905: demokratische Republik, Achtstundentag, Enteignung des Großgrundbesitzes usw. aufrollen. Vor allem ergibt sich aber für das sozialistische Proletariat in Rußland als die dringendste Losung, die mit allen anderen unablösbar verknüpft ist: Ende dem imperialistischen Kriege!

Hier verwandelt sich das Programm des russischen revolutionären Proletariats in den schärfsten Gegensatz zur russischen imperialistischen Bourgeoisie, die für Konstantinopel schwärmt und bei dem Kriege Profite macht. Die Aktion für den Frieden kann eben in Rußland wie anderwärts nur in einer Form entfaltet werden: als revolutionärer Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, als Kampf um die politische Macht im Staate.

Dies sind die unabweisbaren Perspektiven der ferneren Entwicklung der russischen Revolution. Weit entfernt davon, ihr Werk beendet zu haben, hat sie erst eine knappe Einleitung zustande gebracht, der die gewaltigsten Klassenkämpfe um den Frieden und das radikale Programm des Proletariats folgen werden.

Dem großen historischen Drama an der Newa fehlt nicht sein niedliches Satyrspiel an der Spree. Wenn uns das Gedächtnis nicht trügt, hieß die Losung am 4. August 1914: Befreiung Rußlands vom zarischen Despotismus. Dies war ja angeblich das hehre Ziel des Völkermordes, und um dieses "alten Programms von Marx und Engels" willen haben sich ja die Mannen von der sozialdemokratischen Fraktion für die Unterstützung des Krieges entschlossen.

Und nun wo ist der Jubel über das erreichte Ziel der deutschen Kriegführung? Wo der Triumph in der Regierungspresse: "Wir haben's erreicht, hurra!" Wie begossene Pudel schauen die deutschen "Befreier" auf das Werk der russischen Revolution. Nicht einmal mehr zu einer anständigen Grimasse, zur "guten Miene" beim bösen Spiel, können sie's bringen. Die Komödie der ersten Kriegsmonate, diese von der deutschen Sozialdemokratie und für die deutsche Sozialdemokratie behufs Nasführung der Volksmassen inszenierte Posse ist dermaßen vergessen, daß die Schauspieler nicht einmal mehr versuchen, ihre schlechte Laune durch das Hervorholen der verstaubten Masken halbwegs zu verdecken.

Die bleiche Angst vor der Stärkung Rußlands durch seine innere Renovierung, die Angst vor dem in die Augen springenden und hohnsprechenden Vergleich zwischen dem durch die Revolution selbstbefreiten Rußland und dem durch "deutsche Fäuste" befreiten "Unabhängigen Polen", die Angst vor allem vor dem schlechten russischen Beispiel, das die guten Sitten des deutschen Proletariats verderben könnte, guckt wie ein Pferdefuß allenthalben heraus. Und im Mosseschen Freisinnsblatt sucht eine Leuchte des deutschen Liberalismus ganz naiv den tröstlichen und beruhigenden Beweis zu erbringen, daß die famose "Befreiung Rußlands", die das hehre Ziel des Krieges war, doch an inneren Schwierigkeiten zerschellen und in der Anarchie untergehen werde.

Aber auch das deutsche Proletariat ist durch die Vorgänge in Rußland vor eine Ehrenfrage und vor eine Schicksalsfrage gestellt.

Solange in allen kriegführenden Ländern Kirchhofsstille und Kadavergehorsam herrschen, ist das Versagen des Proletariats eine internationale solidarische Schuld, ein gemeinsames Weltunglück, das sich auf alle Seiten, wenn auch nicht in gleichem Maße, verteilt. Sobald jedoch in Rußland das Proletariat den "Burgfrieden" durch offene Revolution aufgesagt hat, fällt ihm das deutsche Proletariat, indem es die Kriegsaktion ruhig weiter unterstützt, nunmehr direkt in den Rücken. Jetzt wirken die im Osten fechtenden deutschen Truppen nicht mehr gegen den "Zarismus", sondern gegen die Revolution. Und sobald das russische Proletariat bei sich zu Hause den Kampf für den Frieden aufrollt - dies ist sicher bereits begonnen und wird mit jedem Tage mehr der Fall sein -, verwandelt sich das Verharren des deutschen Proletariats in der Haltung eines gehorsamen Kanonenfutters in offenen Verrat an den russischen Brüdern.

"In Rußland fiel der erste Schuß." Rußland befreit sich selbst. Wer wird Deutschland von Säbeldiktatur, ostelbischer Reaktion und imperialistischem Völkermord befreien?

Aus: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.) (1958). Spartakusbriefe, Dietz Verlag: Berlin. S. 302-305

 

Quellen und zum Weiterlesen

 

Die Spartakusbriefe sind digitalisiert hier abrufbar

Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.) (1958). Spartakusbriefe, Dietz Verlag: Berlin.