Frieden im Zwielicht (Teil 2)

Die ersten zwei Seiten des Vertrages von Brest-Litowsk
Die ersten zwei Seiten des Vertrages von Brest-Litowsk Foto: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/a/a7/Traktat_brzeski_1918.jpg/800px-Traktat_brzeski_1918.jpg Public Domain

In der Geschichtsschreibung, nicht nur der bolschewistisch-kommunistischen, werden die Prozesse im Umfeld des Friedensschlusses von Brest-Litowsk meist sehr knapp und aus der Sicht Lenins bzw. Stalins dargestellt. Verschwiegen oder übersehen wird dabei, dass sich im ersten Halbjahr 1918 im Zusammenhang mit den Kontroversen um die Frage Krieg-Frieden unter den Bolschewiki und in der Partei der Sozialisten-Revolutionäre (PLSR) ernsthafte Alternativen zum Kurs des leninschen Flügels entwickelten.

Die PLSR entwickelte sich zu einer gewichtigen Komponente der russischen Revolution und ihre VertreterInnen spielten auch nach dem Ausscheiden der Partei aus dem Rat der Volkskommissare im März 1918 eine wichtige Rolle in den Sowjets, in der Armee und auch im Sicherheitsapparat. Die Sozialstrukturen beider Parteien näherten sich an – bei den Bolschewiki durch den Zuwachs aus der Bauernschaft, bei den PLSR durch Zulauf aus der Arbeiterschaft. Beiden Parteien gemeinsam war die Dominanz von Intellektuellen (also Kleinbürgern, auch Lenin oder Trotzki waren bekanntermaßen keine Proletarier) in der Führung. (vgl. Häfner 1994, 445ff.) Damit ist also die hier zu betrachtende Zeit unter dem Gesichtspunkt zweier weitgehend gleichgewichtiger (in praktischer wie in theoretischer Hinsicht) sozialistischer Parteien zu betrachten, die allerdings in teilweise unterschiedlichen Traditionen standen und unterschiedliche Auffassungen bezüglich des Weges zum Sozialismus hatten. Beide hatten im Frühjahr 1918 ähnliche Chancen auf die Macht, wobei die Bolschewiki nicht Kraft ihrer besseren Argumente oder einer besseren Politik, sondern eines geschickteren Hantierens mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtinstrumenten gewannen. Die Reduktion auf „marxistisch“ oder „nichtmarxistisch“ hilft für die Bewertungen des Handelns dieser revolutionären Strömungen nicht weiter, weil es hier um Fragen ging, die Marx noch gar nicht in Rechnung stellen konnte. Die Strömungen der Bolschewiki und der PLSR (und weiterer, wie etwa der AnarchistInnen und der Sozialisten-Revolutionäre-Maximalisten) wären hinsichtlich ihrer Vorschläge zur Überwindung der Probleme bestenfalls gleichberechtigt aus marxscher Sicht zu betrachten und zu kritisieren, nicht aus dem von Lenin bestimmten Blickwinkel einer Charakterisierung als „kleinbürgerliche“ Parteien. Außerdem vertrat die leninsche Fraktion nicht DIE, sondern auch nur EINE der marxschen Traditionen, die sich z.B. von der Rosa Luxemburgs unterschied.

Die Situation in Russland

 

Die Lage war verworren: ein Krieg gegen die Mittelmächte war nicht mehr (oder noch nicht wieder) führbar, trotzdem mußte ein Mindestmaß an Verteidigungsmöglichkeiten geschaffen werden, da der Waffenstillstand keineswegs bedeutete, dass die deutsche Seite ihre Annexionspläne aufgegeben hatte. Die Argumente für einen Friedensschluss schienen für sich zu sprechen und waren aktenkundig. Eine Befragung von Kommandeuren und Delegierten des Demobilisierungskongresses am 31.1.1917 (vgl. W.I. Lenin 1961) kam zu dem Ergebnis, dass die Armee nicht mehr kampffähig und kampfbereit ist. (vgl. Rabinowitch 2010, 183–185) Die innere Konterrevolution war zu bekämpfen, während die Armee zerfiel. Nur der Waffenstillstand mit den Mittelmächten (Mitte Dezember 1917) hatte es möglich gemacht, dass die noch verfügbaren Einheiten von Armee und Roten Garden zur Niederschlagung der konterrevolutionären Bewegungen eingesetzt werden konnten. Ein Preis des Friedens war erst einmal die Verschärfung der sozialen Situation in den Dörfern und Städten durch die Demobilisierung und das Rückfluten der Soldaten in ihre Heimatorte. Die landwirtschaftlichen und industriellen Verluste in der Ukraine, erst durch die dort laufenden Kämpfe, dann durch den Verlust des Gebietes in Folge des Friedens von Brest-Litowsk, verschlechterten die materiellen Bedingungen, um aus dem Frieden wirklich eine Atempause zu machen. Die Bauern erwarteten die Achtung ihrer Interessen und Forderungen, aber um die befriedigen zu können, musste man in den Städten produzieren, was Austausch zwischen Stadt und Land erzwang, der aber organisiert werden musste. Dafür brauchte man Fachleute, die aber der Rätemacht zu einem guten Teil feindlich gegenüberstanden und teilweise auch, ähnlich wie das Unternehmertum, diese sabotierte. Es konnte vor diesem Hintergrund 1917/1918 gar keinen Plan, auch keinen leninschen geben; es sei denn, man betrachtet die Verteidigung der Sowjetmacht als Plan, was allerdings eher Ziel war.

Läßt man also die tradierten Vorbehalte beiseite, so ist es also erstaunlich, dass die Auseinandersetzung um einen Friedensschluss in dem völlig ruinierten Land eine derartige Schärfe annahm. Eine Atempause an der Front mit den Mittelmächten schien die einzige Möglichkeit, die Situation zu stabilisieren und gleichzeitig Schritte zum Sozialismus zu gehen. Aber bereits da fangen die Probleme an: Was verstanden die einzelnen Akteure unter Sowjetmacht? Was bedeutet Verteidigung? Wer sind die Gegner, wer legitime Kritiker, wer konterrevolutionär? Lenin war bei der Verteilung des Adjektivs „konterrevolutionär“ sehr freigiebig. Es bildeten vor diesem Hintergrund zwangsläufig unterschiedliche Tendenzen heraus, sie wurden nicht unbedingt bewusst geschaffen, wobei natürlich persönliche Präferenzen, in diesem Falle zweifellos die Rolle Lenins, in einer solchen Situation oft eine ungeahnte Bedeutung erlangen können. Das Verständnis dieses Prozesses ist keine Nebensächlichkeit, baut sich die Legitimation einer bestimmten Art revolutionären Handelns in wesentlichen Teilen der linken Bewegung eben auf die vermeintliche Sicherheit eines „leninschen Plans“ auf. Daraus wiederum wird vor allem nach Lenins Tod eine Alternativlosigkeit bis ins Detail abgeleitet, aus der wiederum die Alternativlosigkeit des Handelns des gerade amtierenden Politbüros oder Generalsekretärs konstruiert wurde. Insofern ist eine genauere Betrachtung der Ereignisse und der mit ihnen verbundenen Entscheidungsprozesse eben keine akademisch-historische Arbeit, sondern Befragung des heutigen Verhaltens in linken Organisationen, der Organisationskultur, der Konstruktion der Entscheidungsprozesse. Dazu gehört es auch, die nahezu blitzartigen Wendungen der leninschen Politik nachzuvollziehen, wie auch die Motive seiner Opponenten. Denn, und dies muss immer in Rechnung gestellt werden, beide scheitern, genauer konnten nur scheitern. Die Art des Scheiterns bestimmt aber auch immer, was von den Nachfolgenden als Lehre und als Konsequenz mitgenommen werden kann.

Der unentwirrbare Knoten und zwei verunsicherte Kriegsparteien

 

Das Verhalten zu der Frage „Krieg oder Frieden“ war dabei Ende 1917/Anfang 1918 elementar. Die Frage, wie man zu einem Friedensschluss kommen könnte, nicht nur zu einem Waffenstillstand, wie er ja Mitte Dezember geschlossen worden war, war entscheidend für die möglichen Wege einer gesellschaftlichen Umgestaltung.

Die unterschiedliche Haltung zum Friedensschluss wurde ja schon kurz beleuchtet, ebenfalls die gegensätzlichen Positionen unter den Bolschewiki. Zu ergänzen ist, dass auch innerhalb der PLSR diese Gegensätze bestanden. Häfner verweist darauf, dass die Zustimmung zum Friedensschluss generell keinesfalls so deutlich war, wie die Abstimmung auf dem Sowjetkongress und die Reden Lenins suggerieren. Beschlüsse und Meinungsäußerungen aus den örtlichen und regionalen Sowjets (in denen die PLSR stark vertreten waren) zeigen, dass das Verhältnis bestenfalls 50:50 war, wahrscheinlich aber die Ablehnung überwog. (vgl. Häfner 1994, 380–389) Dabei waren vor allem ländliche Regionen und kleine Städte eher für den Frieden. In der Ukraine, die ja unter deutsche Hoheit fiel, war die Ablehnung des Friedens dementsprechend stark. Alle AkteurInnen waren viel unsicherer, als es im Rückblick dargestellt wird. Die Widersprüche in der Sowjetregierung und in der Sowjetbewegung waren den Mittelmächten bekannt, wurden aber in den Berichten der Gewährsleute offensichtlich überzeichnet. Die deutsche Seite wußte auch, dass sie nur in begrenztem Maße weiter in russisches Gebiet vorstoßen könnte, weil in diesem Falle die beabsichtigte Entlastung der Westfront nicht zu realisieren gewesen wäre. Im Unterschied zu den Militärs rechneten einige deutsche Politiker durchaus mit der Möglichkeit, dass es im Falle der Wiederaufnahme von Kampfhandlungen zu neuen Unruhen unter den ArbeiterInnen in Deutschland kommen könnte. Beide Seiten bewegten sich auf einer dünnen Grundlage und mussten viele Unwägbarkeiten auf der Gegenseite in Rechnung stellen.

Grundlage der Verhandlungen waren die Friedensbedingungen, die die Mittelmächte am 28.12.17 eingebracht hatten. (vgl. Chwostow et al. 1967a) Sie standen im Geiste der deutschen Expansionspolitik, sollten sich aber als „milde“ im Vergleich zu dem dann im März erfolgten Friedensschluss erweisen. (vgl. Strauch 2018) Es war damit klar, dass die Positionen der Sowjetregierung, die am 22. Dezember übergeben worden waren, nicht durchsetzbar sein würden. (vgl. Chwostow et al. 1967b)

Eine eindeutige Positionierung der verschiedenen Gruppierungen im revolutionären Flügel zu den Forderungen der Mittelmächte konnte nicht erreicht werden. Auch Lenin schwankte in seiner Haltung. Dass der Friedensschluss auch unter den gegebenen ungünstigen Bedingungen nötig sei, war für ihn seit der oben erwähnten Umfrage auf dem Demobilisierungskongress klar. Im Januar kam er auch zu der Erkenntnis, dass ein revolutionärer Aufschwung nicht so bald zu erwarten sei und legte in diesem Sinne am 20. Januar 1918 seine Thesen über den sofortigen Abschluss eines annexionistischen Separatfriedens vor. (W. I. Lenin 1961g, 446) Er blieb damit aber in der Minderheit. Zur gleichen Zeit schrieb der führende PLSRer S.D. Mstislavskij einen Artikel unter dem Titel „Nicht Krieg, sondern Aufstand“. Mit Rücksicht auf die bevorstehende Revolution in Westeuropa dürfe der Separatfrieden nicht geschlossen werden. (vgl. Häfner 1994, 344f.) Aufstands- und Widerstandsbewegung in der Ukraine nach der Besetzung des Landes durch das Deutsche Reich ab März 1918 bestätigten in gewisser Weise die Linie der PLSR. (vgl. ebd., 393f.)

Unter dem Eindruck der Streiks in Österreich-Ungarn und Deutschland fand Lenin auf dem III. Sowjetkongress wiederum großes Vertrauen in die Weltrevolution:

„Wir haben niemals die Hoffnung gehegt, daß wir sie [die Revolution] ohne Hilfe des internationalen Proletariats beenden können.“ (W. I. Lenin 1961b, 465)

Zum Abschluss des Kongresses sagte er:

„Man kann mit vollem Recht behaupten, daß der dritte Sowjetkongreß eine neue Epoche in der Weltgeschichte eröffnet hat, und heute, unter den Bedingungen der Weltrevolution, beginnt man die ganze Bedeutung dieses Kongresses… zu erkennen.“ (W. I. Lenin 1961c, 478) „… ich bin fest überzeugt, daß sich die verschiedenen einzelnen Föderationen freier Nationen immer mehr und mehr um das revolutionäre Rußland sammeln werden.“ (ebd., 480) „Wir schließen den historischen Sowjetkongreß unter dem Zeichen der immer mehr anwachsenden Weltrevolution, und die Zeit ist nicht mehr fern, wo die Werkstätigen aller Länder sich zu einem einzigen, die ganze Menschheit umfassenden Staat zusammenschließen werden… Der Weg zu diesem Aufbau führt über die Sowjets als eine Form der beginnenden Weltrevolution.“ (ebd., 481)

Drei Tage später, am 3. Februar, sieht Lenin bereits Liebknecht als deutschen Regierungschef:

„Gerüchten zufolge soll Karl Liebknecht frei sein und bald an die Spitze der deutschen Regierung treten. Morgen wird in der Sitzung des Petrograder Sowjets über eine Grußbotschaft an den Berliner und den Wiener Arbeiterrat beraten.“ (W. I. Lenin 1961e, 511)

Diese zu diesem Zeitpunkt schon wieder realitätsferne Sicht auf die Prozesse in Westeuropa erklärt, warum sich die unterschiedlichen Seiten in Sowjetrussland auf eine hinhaltende Verhandlungsführung einigen konnten, wie sie Trotzki unter der Losung „Weder Krieg noch Frieden“ betrieb. Man war sich weitgehend einig, dass vor allem Deutschland zu schwach sei, um die Kampfhandlungen trotz der offensichtlichen eigenen Schwäche wieder aufzunehmen. Verwunderlich ist auch, dass die weitgehende Ruhe unter den ArbeiterInnen in Frankreich und Großbritannien bei der Beurteilung der Lage kaum eine Rolle spielte.

Die Entscheidung Trotzkis am 10.2.1918, eine Unterschrift unter den schon länger vorliegenden Vertragsentwurf zu verweigern, aber den Krieg für beendet zu erklären, findet in diesen allgemein anerkannten Fehleinschätzungen ihre Erklärung.

„Im Namen des Rates der Volks-Kommissare der Regierung der russischen Republik bringen wir den Regierungen und Völkern der mit uns Krieg führenden verbündeten und der anderen Länder zur Kenntnis, daß, indem wir auf die Unterzeichnung eines annexionistischen Vertrages verzichten, Rußland seinerseits den Kriegszustand mit Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei für beendigt erklärt. Gleichzeitig wird den russischen Armeen der Befehl der Demobilisierung an allen Fronten übergeben.“ (von Kühlmann 1971, 540)

Es erklärt auch, warum Trotzki meint, in dieser Sache im Namen des Rates der Volkskommissare zu sprechen. Denn so eindeutig, wie in der „Geschichte der KPdSU“ behauptet, schienen seine Anweisungen für den Fall einer nicht mehr zu umgehenden Entscheidung für oder gegen den vorgelegten Friedensvertrag nicht gewesen zu sein. Das Telegramm, auf das zum Beweis für eine Anweisung Lenins, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, verwiesen wird, hat den etwas kryptischen Wortlaut:

„Unser Standpunkt ist Ihnen bekannt; er hat sich in letzter Zeit und besonders nach dem Brief Joffes nur gefestigt. Wir wiederholen nochmals, daß von der Kiewer Rada nichts mehr übriggeblieben ist und daß die Deutschen gezwungen sein werden, diese Tatsache anzuerkennen, wenn sie das noch nicht getan haben. Informieren Sie uns öfter.“ (W. I. Lenin 1961a)

Diese Uneindeutigkeit zeigt sich auch darin, dass die Aktion Trotzkis, genauer der scheinbar erreichte Friedenszustand, erst einmal begrüßt wurde. Mit dem Befehl zur Demobilisierung der Armee vom 11. Februar 1918 (vgl. Krylenko 1971) verlieh die Sowjetregierung ohnehin nur dem bereits laufenden Zerfall der Armee demonstrativ Legitimation. Das war auch der deutschen Seite bekannt.

Auf deutscher Seite setzte sich die Lesart durch, dass die Erklärung Trotzkis als Kündigung des Waffenstillstands zu betrachten sei:

„Durch die einseitige russische Erklärung ist selbstverständlich der Kriegszustand nicht beseitigt und der Friedenszustand nicht an seine Stelle gesetzt worden. Vielmehr hat die Weigerung, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, die Herstellung des Friedens unmöglich gemacht. Gerade zur Herbeiführung eines Friedens aber war der Waffenstillstandsvertrag vom 15. Dezember 1917, wie der Vertrag in seiner Einleitung ausdrücklich hervorhebt, abgeschlossen worden. Mit dem Verzicht auf den Frieden hat daher das bolschewistische Rußland auch auf die Fortdauer des Waffenstillstandes verzichtet. Dieser Verzicht ist einer Kündigung gleichzusetzen.“ (Regierung 1971, 562)

Die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen ging vor allem auf die Oberste Heeresleitung zurück, die sich in diesem Punkt gegen den Außenminister Richard von Kühlmann durchsetzte. In den Tagen bis zum Beginn des deutschen Vormarsches finden sich in den Lenin-Werken keine Dokumente. Am 16. Februar, praktisch zeitgleich mit der Erklärung Deutschlands zur Beendigung des Waffenstillstandes, billigte der Rat der Volkskommissare die Arbeit der Friedensdelegation unter Trotzki. (vgl. Volkskommissare 1971) Die Mehrheit der Führung wiegte sich offensichtlich in der von Trotzki in völliger Verkennung der Realitäten imaginierten Sicherheit.

Am 19.2.18, kurz nach Beginn des deutschen Vormarsches, setzen Lenin und Trotzki um 8:10 Uhr einen Funkspruch an die deutsche Regierung ab, in dem Sowjetrussland a) gegen die unangekündigte Wiederaufnahme der Kampfhandlungen protestierte und b) die Bereitschaft erklärte, den angebotenen Friedensvertrag sofort zu unterzeichnen. (vgl. Volkskommissare 1967; siehe auch W. I. Lenin 1961d) Dem waren harte Diskussionen im ZK der Bolschewiki vorausgegangen. (vgl. W. I. Lenin 1961f)

Der Schriftwechsel der deutschen Regierungsstellen zeigt, dass in den Tagen nach der Annahme der Friedensbedingungen durch Sowjetrussland immer weitergehende Forderungen in territorialer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht diskutiert wurden. Deutschland, die deutsche Wirtschaft, die Türkei und Rumänien sowie die deutschen Marionetten in der Ukraine wollten ihren Anteil an der Beute. Am 10. März 1918 übermittelt der preußische Kriegsminister von Stein dem Reichskanzler eine Denkschrift, in der weitreichende wirtschaftliche Ziele gegenüber den Gegnern in Ost und West formuliert werden und die von einer völligen Verkennung der eigenen Potentiale in maßgeblichen Kreisen der deutschen Führung zeugt. (vgl. von Stein 1967) Sowjetrussland figuriert hier unter anderem als Lieferant von Arbeitskräften. Die Ukraine, so die Planungen, wie sie auch im Friedensvertrag mit der Ukraine vom 9. Februar fixiert waren, sollte vor allem landwirtschaftliche Erzeugnisse in großen Mengen liefern – ein Ziel, das nur zu Bruchteilen erfüllt wurde. Der Frieden von Brest-Litowsk war auch ein Teil der Planungen des Deutschen Reiches und der Interessenverbände der deutschen Wirtschaft für den Übergang zur Friedensordnung, in denen der Gestaltung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, das durch die russischen Revolutionen in Veränderung begriffen war, eine eigene Rolle spielte. (vgl. Baudis/Nussbaum 1978, 325ff.) Die von Bolschewiki und PLSR aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis der russischen Revolution zu den Kampfbedingungen der verschiedenen sozialen Bewegungen in anderen Teilen der Welt war durchaus berechtigt, wenn auch nicht auf die Formel der Weltrevolution zu reduzieren.

Beide Seiten saßen so diversen Fehleinschätzungen auf – die russische Seite bezüglich der revolutionären Situation in Westeuropa und der Fähigkeit der Mittelmächte zur Kriegführung, die deutsche Seite hinsichtlich der eigenen militärischen Situation und der Instabilität der russischen Seite.

(wird fortgesetzt)

Quellen und zum Weiterlesen

 

Baudis, Dieter/Nussbaum, Helga (1978). Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19, Berlin: Akademie-Verlag

Chwostow, W.M./Doernberg, S./Fischer, O./Kobljakow, I.K./et al. (Hrsg.) (1967a). Die österreichisch-deutschen Friedensbedingungen, unterbreitet in der Sitzung der Politischen Kommission der Friedenskonferenz in Brest-Litowsk, in: Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages : 1917-1918. Dokumentensammlung Bd. 1, Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages ; 1. Berlin: Staatsverl. d. DDR, 206–211

Chwostow, W.M./Doernberg, S./Fischer, O./Kobljakow, I.K./et al. (Hrsg.) (1967b). Erklärung der russischen Delegation auf der ersten Vollsitzung der Friedenskonferenz in Brest-Litowsk 9. (22.) Dezember 1917 [Dok. 52], in: Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages : 1917-1918. Dokumentensammlung Bd. 1, Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages ; 1. Berlin: Staatsverl. d. DDR, 167–169

Häfner, Lutz (1994). Die Partei der linken Sozialrevolutionäre in der russischen Revolution von 1917/18, Köln [u.a.]: Böhlau

Krylenko, N.V. (1971). 11.2.1918: Russischer Funkspruch über die Beendigung des Kriegszustandes, in: Hahlweg, Werner (Hrsg.): Der Friede von Brest-Litowsk : ein unveröffentlichter Band aus dem Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, Düsseldorf: Droste, 551–553

von Kühlmann, Richard (1971). 10.2.1918: Sitzung der Kommission für politische und territoriale Fragen (Dok. 301), in: Hahlweg, Werner (Hrsg.): Der Friede von Brest-Litowsk : ein unveröffentlichter Band aus dem Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, Düsseldorf: Droste, 537–543

Lenin, W. I. (1961a). Brest-Litowsk. Russische Friedensdelegation. An Trotzki., in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 519

Lenin, W. I. (1961b). Dritter Gesamtrussischer Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten 10.-18. (23.-31.) Januar 1918. Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare 11. (24.) Januar, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 455–472

Lenin, W. I. (1961c). Dritter Gesamtrussischer Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten 10.-18. (23.-31.) Januar 1918. Schlusswort vor Beendigung des Kongresses 18. (31.) Januar, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 478–481

Lenin, W. I. (1961d). Entwurf eines Funkspruchs an die Regierung des Deutschen Reichs, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 529

Lenin, W. I. (1961e). Funkspruch. An Alle. An die Friedensdelegation in Brest-Litowsk im Besonderen, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 511

Lenin, W. I. (1961f). Reden in der Sitzung des ZK der SDAPR(B) 18. Februar 1918 (Abendsitzung). Protokollarische Niederschrift, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 524–526

Lenin, W. I. (1961g). Thesen über den sofortigen Abschluss eines annexionistischen Separatfriedens, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 442–450

Lenin, W.I. (1961). Fragen an die Delegierten des Demobilisierungskongresses der Armee, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 393–394

Rabinowitch, Alexander (2010). Die Sowjetmacht: das erste Jahr 1. Aufl., Essen: Mehring

Regierung (1971). 16.2.1918: Erklärung der deutschen Regierung zur Kündigung des Waffenstillstandsvertrages, in: Hahlweg, Werner (Hrsg.): Der Friede von Brest-Litowsk : ein unveröffentlichter Band aus dem Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, Düsseldorf: Droste, 562f.

von Stein, Hermann (1967). Schreiben des preußischen Kriegsministers an den Reichskanzler und Denkschrift des Kriegsministeriums, in: Chwostow, W.M./Doernberg, S./Fischer, O./Kobljakow, I.K./et al. (Hrsg.): Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages : 1917-1918. Dokumentensammlung Bd. 1, Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages ; 1. Berlin: Staatsverl. d. DDR, 547–562

Strauch, Christoph (2018). Erster Weltkrieg: Von Brest-Litowsk zum Generalplan Ost?, in: FAZ.NET, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/der-erste-weltkrieg/erster-weltkrieg-... (letzter Zugriff: 5.3.2018)

Volkskommissare (1971). 16.2.1918: Funkspruch des Rates der Volkskommissare, in: Hahlweg, Werner (Hrsg.): Der Friede von Brest-Litowsk : ein unveröffentlichter Band aus dem Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, Düsseldorf: Droste, 563

Volkskommissare (1967). Funkspruch des Rates der Volkskommissare an die deutsche Regierung, in: Chwostow, W.M./Doernberg, S./Fischer, O./Kobljakow, I.K./et al. (Hrsg.): Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages : 1917-1918. Dokumentensammlung Bd. 1, Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages ; 1. Berlin: Staatsverl. d. DDR, 416