Neu zu Entdecken: Leben und Wirken von Roman Rosdolsky

1968, genau zur rechten Zeit, so könnte man meinen, wurde Roman Rosdolskys Kommentar „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital“ auf Deutsch veröffentlicht. Es war eine textgenaue Kommentierung der Grundrisse, der Vorarbeiten zum Kapital. Weil Rosdolsky detailliert dem nachgeht, was Marx unter „abstrakter Arbeit“ verstand, auch dem Warenfetischismus einige Beachtung schenkte und festhielt, dass man sich aufgrund der Entwicklung des „automatischen Maschinensystems“ vom Wertgesetz lösen könne und müsse, gilt er als Ahnherr und „Wegbereiter der Wertkritik“ (Anselm Jappe).

Auch ließ er im Gegensatz zu den strukturalistischen französischen Marxisten wie Althusser und Poulantzas gelten, dass die Hegelsche Logik für den methodischen Aufbau von Marx bedeutenden Schriften zentral ist. Der Kern der Wertkritik, die unter Hegelscher Methode oft nur versteht, dass bereits im geschickt gewählten Anfang alles weitere enthalten sei, besteht jedoch aus drei zusammenhängenden Annahmen: Das Proletariat und von ihm ausgehende Kämpfe haben für die Entwicklung und vor allem die Aufhebung des Kapitalverhältnisses keine Bedeutung; das Kapitalverhältnis ist vor allem durch Fetischverhältnisse gekennzeichnet, die es dem Proletariat nicht erlauben, die Verhältnisse zu erkennen und der eigenen verändernden Potenz gewahr zu werden; das Kapitalverhältnis würde durch objektive Verlaufsformen ein Ende finden – wegen des Abschmelzens der Wertmasse bzw. dem tendenziellen Fall der Profitrate.

Ob sich Rosdolsky, der in Wien bis 1931 an der ursprünglichen MEGA mitarbeitete, hier so problemlos einreihen lässt, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Eine objektivistische Krisentheorie findet sich bei ihm beispielsweise nicht, eher bleibt eine Beschäftigung mit dem Krisenbegriff ausgespart. Auch zum revolutionären Erbe der Arbeiterbewegung hat der 1898 in Lemberg Geborene ein vollständig anderes Verhältnis, was sich an dem durchgängig positiven Bezug auf Lenin zeigt: Nicht nur in Hinsicht auf revolutionäre Taktik und Strategie, sondern auch in Hinblick auf die Marx-Lektüre. Diskussionen mit dem undogmatischen Marxisten Karl Korsch, dem Schweizer Ökonomen Otto Morf und natürlich mit dem trotzkistischen Ökonomen Ernest Mandel unterfütterten und prägten Rosdolskys späte Arbeiten. Und diese sind durch Empirismus, kritische Orthodoxie und arbeiterbewegungsfixierter Radikalität geprägt – was von der Wertkritik nicht unbedingt behauptet werden kann.

Dank einer beim Wiener Mandelbaum Verlag erschienenen äußerst detailliert nachgezeichneten Rosdolsky-Biographie kann nun das Leben und Wirken des „ganzen“ marxistischen Theoretikers erschlossen werden. Wobei das Kapitel zur kritischen Kapitallektüre circa 40 Seiten von 440 Buchseiten umfasst; schnell wird deutlich, dass Rosdolskys Beitrag zu einer kritischen Marx- und Kapitalforschung bei weitem nicht den interessantesten Teil des Lebenswerk des altösterreichischen und ukrainische Wurzeln aufweisenden Kommunisten darstellt.

Rosdolsky entstammt der linken Opposition und wird gerne als Trotzkist bezeichnet, was ein viel zu grobes Etikett für diesen eigenständigen Denker ist. Natürlich war er aber von den trotzkistischen Debatten und von Schriften Trotzkis geprägt. So kennzeichnete Rosdolsky die Sowjetunion in Debatten mit einem Rätekommunisten wie Paul Mattick, der 1964 Kontakt zu ihm aufnahm, in trotzkistischer Diktion als „staatssozialistisch“, während für Mattick lediglich „Staatskapitalismus“ in Russland vorherrschen würde. Rosdolskys Lebensthema ist jedoch eines, das lange Jahre im Zentrum der marxistischen und sozialistischen Linken stand: die Nationalitätenproblematik. Sie wurde als „nationale Frage“ in den politischen Schriften von Marx und Engels, bei den daran anschließenden sogenannten Austromarxisten und schließlich auch bei Lenin und Stalin (1) verhandelt.

Wo ist Rosdolsky, der schließlich 1967 in Detroit verstarb, hier einzuordnen? Mit etwas Augenzwinkern könnte man Rosdolsky zum Vertreter eines emanzipatorischen und antideutschen Befreiungsnationalismus erklären. Er kritisierte die mit allerhand – im übrigen auch hegelianisch gestimmter - Geschichtsphilosophie aufgeladenen Annahmen von Marx und Engels, wonach ein großer deutscher Nationalstaat unter Bismarcks Führung als Voraussetzung der Entfaltung der Produktivkräfte dem Proletariat zugute kommen würde und die kleineren slawischen Völker als „geschichtslos“ von der Landkarte zu verschwinden hätten. Außerdem würdigte Rosdolsky mit deutlicher Kritik an Rosa Luxemburgs prinzipieller Ablehnung eines „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ die Politik Lenins. Den sogenannten „unterdrückten Völkern“ ein Recht auf Selbstbestimmung einzuräumen und damit deren Aufbegehren gegen den großrussischen Chauvinismus dem sozialistischen Revolutionsprozess zuzuführen, erschien dem ukrainischen Bolschewiken als plausibelste Strategie und wünschenswerte Orientierung.

Der Wiener Marxist Karl Reitter hat sich zuletzt in einer Veröffentlichung ausführlich mit Rosdolskys Verständnis der nationalen Frage auseinandergesetzt und kommt eher zu dem kritischen Urteil, dieser sei schlicht ein Linksnationalist und operiere mit nicht minder geschichtsmythologischen Konzeptionen wie Engels und Marx, bloß würde in Bakunistischer Manier „in den slawischen Bauernvölkern .. ein nationalistisch-revolutionärer Volksgeist hausen“. (2)

Der Kölner Publizist Felix Klopotek, der für die Reihe Dissidenten der Arbeiterbewegung beim Unrast Verlag eine Textsammlung von Rosdolsky herausgeben wird (3), äußert sich in einem Brief an den Rezensenten durchaus wohlwollender als Reitter über die Intention Rosdolskys:

„Er ist ohne Zweifel ein Drittinternationalist, aber einer, der an die Weltpartei die Probleme seiner Region heranträgt (und von ihr die Lösung erwartet). Daraus ergibt sich diese eigenartige Mischung aus Heimatliebe und Internationalismus. Die ist nicht konsistent, aber sie macht sensibel. Und die Sensibilität bewährt sich darin, wie subtil er die galizischen Bauernaufstände des 19. Jahrhunderts ablauscht ... Die Bauern sehen nämlich in den – demokratischen, liberalen – Bürgern íhre Unterdrücker in spe, deshalb verweigern sie das Bündnis mit ihnen. Das ist bei Rosdolsky nicht nur eine geschichtsphilosophische Spekulation, sondern er kann das detailliert (wenn auch bisweilen etwas spitzfindig) belegen.“

Ob uns in Zeiten eines sich reaktivierenden Nationalismus und Separatismus wie in Katalonien oder angesichts der sogenannten „kurdischen Frage“ die Perspektive Rosdolskys einen anderen Blick auf diese Prozesse im 21. Jahrhundert eröffnet, sei dahingestellt. Der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Ostgaliziens ist ein Kind der „Bloodlands“ (Timothy Snaider) und des 20. Jahrhunderts, der vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit Stalinismus und Faschismus aufs 19. Jahrhundert blickt. Rosdolsky lebte im Wiener Exil, er kämpfte gegen die Nazis und durchlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück.

Um den bislang recht unbekannten marxistischen Autor kennenzulernen, eignet sich das Buch des um John-Paul Himka, Stefanie Klamuth und Pablo Hörtner entstandene Rosdolsky-Kreis hervorragend, bietet es doch eine überfällige skrupulös recherchierte Chronologie seines Lebens und seiner Frau Emmy. Seine Schrift Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der 'geschichtslosen Völker' ist nur noch antiquarisch für relativ viel Geld zu erstehen. Um so mehr kann man auf die schon lange angekündigte Textsammlung dieses eigenständigen Kopfs im Unrast Verlag gespannt sein, die auch bislang unbekannte Aufsätze aus Rosdolskys Feder beinhalten soll.

  1. Immer noch ein guter Überblick: Ditte Gerns, Nationalitätenpolitik der Bolschewiki. Die Herausbildung der bolschewistischen Konzeption der Nationalitätenpolitik von den Anfängen der marxistischen Bewegung in Rußland bis zur ersten Verfassung der UdSSR (Schriften der Marx-Engels-Stiftung), Edition Marxistische Blätter, Düsseldorf 1988
  2. Karl Reitter, Marx und Engels und die „geschichtslosen Völker“. Eine Auseinandersetzung mit Roman Rosdolsky und eine kurze Erinnerung an das Nationalismus-Verständnis von Luxemburg und Lenin, in: Gerhard Hanloser (Hg.), Deutschland. Kritik, Münster 2015, S. 195-227, hier: S.225
  3. Roman Rosdolsky, Eine revolutionäre Parabel von der Gleichheit der Menschen (Hg. Felix Klopotek), Dissidenten der Arbeiterbewegung Bd. 5, für März 2018 angekündigt

Rosdolsky-Kreis (Hg.), Mit permanenten Grüssen. Leben und Werk von Emmy und Roman Rosdolsky, Mandelbaum Verlag Wien, 2017, 22.00 €,  440 Seiten

Dissertation von Rosdolsky: Friedrich Engels und das Problem der "geschichtslosen" Völker : (die Nationalitätenfrage in der Revolution 1848 - 1849 im Lichte der "Neuen Rheinischen Zeitung")