Regierung und Bürgertum schaufeln ihr eigenes Grab...

Rote Garden formieren sich in den Betrieben Foto: mit freundlicher Unterstützung des Karl Dietz Verlages Public Domain

Der Krieg wird fortgesetzt und die Agrarreform verschoben – so lässt sich die Situation im Zeitraum Mai/Juni kurz zusammenfassen. Die Proteste gegen den Krieg gehen weiter und ArbeiterInnen und Bauern versuchen, die Versprechen nach Verbesserung ihrer Situation in den Betrieben und hinsichtlich der Bodenfrage selbst zu verwirklichen. Land wird besetzt. In den Betrieben werden Rote Garden als Arbeitermilizen geschaffen, die mehr oder weniger stark mit den Sowjets, aber nicht mit der Provisorischen Regierung, verbunden sind.

Im Umfeld des Maifeiertages (nach julianischem Kalender der 18. April) kommt es zu massiven Protesten gegen die Fortsetzung des Krieges – ein Protest, dem das Bürgertum mit unverhohlenem Hass begegnet und der durch die Regierung brutal unterdrückt wird. Diese Proteste finden ihren Höhepunkt Ende Juni und die Forderung „Alle Macht den Räten“ steht in deren Zentrum.

Vor diesem Hintergrund polarisieren sich im Verlaufe der Monate Mai und Juni die Kräfte im Lande.

Die radikale Forderung nach Frieden, Land und Macht der Sowjets fand auf der Gegenseite ihre konsequente Entsprechung. Der VII. Parteitag der Kadetten 22.-25.05. wandte sich gegen Umgestaltungen in der Landwirtschaft und auf dem Gebiet der nationalen Beziehungen vor Entscheidungen einer Konstituierenden Versammlung – deren Einberufung aber völlig offen ist. Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass die Forderung des Februar die UNMITTELBARE Einberufung der Konstituierenden Versammlung gewesen war. Der IX. Parteitag vom 5. – 10. August forderte schließlich die Errichtung einer zeitweiligen Militärdiktatur. Die Demokratie stand zur Disposition. Für breite Kreise des Bürgertums habe, so Issak Steinberg, ein jüdischer linker Sozialist-Revolutionär, die Revolution ohnehin in erster Linie die Befreiung der Armee im Interesse einer erfolgreichen Kriegsführung, nicht die Befreiung des Volkes bedeutet. Die unterschiedlichen Antworten auf die Frage des Krieges zerstörte die Hülle des Gemeinsamen von Bürgertum und Volksmassen. (vgl. Štejnberg 1920, 8) Er betrachtet die Ereignisse des 4. Mai 1917 als entscheidenden Wendepunkt: am 1. Mai hatte sich der Außenminister Miljukow mit einer Note an die verbündeten Entente-Mächte gewandt, in der er die alten Kriegsziele faktisch bestätigte. Gegner und Befürworter des Krieges gingen auf die Straße und am 4. Mai erreichten die Auseinandersetzungen ihren Höhepunkt; nach Worten Steinbergs wurde hier der Keim des späteren Bürgerkrieges gelegt. (ebd., 20) Obwohl Miljukow dann zurücktreten musste, war der Interessengegensatz zwischen Führung und Massen deutlich sichtbar geworden. Ein anderer Chronist der Ereignisse und Aktivist in diesen Prozessen, Suchanov, bezeichnete ganz ähnlich die Losung des Bürgertums „Krieg bis zum Ende“ als Form der politischen Mobilisierung der Konterrevolution. (vgl. Suchanov 1967, 240ff.) Die in dieser Propaganda praktizierte Gleichsetzung von Krieg und Verteidigung der Revolution war zweitweise, bis in den Juni hinein, auch erfolgreich. Zeitweise, so Suchanov, drohte das Bündnis von Arbeitern und Soldaten daran zu zerbrechen. Mit dem Bekanntwerden des Faktes, dass die Regierung an den alten Kriegszielen festhielt und dem immer offensichtlich werdenden konterrevolutionären Verhalten der Offiziere verlor sie aber ihre Kraft. Trotzki zitiert aus einer Sowjetsitzung im Armee-Hauptquartier:

„88 Prozent der Offiziere des Hauptquartiers schaffen durch ihre Handlungen die Gefahr konterrevolutionärer Vorgänge.“ (Trotzki 2010 [1930], 318)

Die sich daraus ergebende Krise sollte durch eine „Koalitionsregierung“ beigelegt werden. An dieser Regierung waren nun auch Sozialisten-Revolutionäre, Menschewiki, Trudoviki und Volkssozialisten beteiligt – also die nichtbolschewistisch-sozialdemokratische und linksliberale Strömung der Revolution, die ja auch zu diesem Zeitpunkt die Sowjets dominierte. Ministerpräsident blieb Fürst Lwow. Diese Regierung bestand vom 18. Mai bis 15. Juli 1917. Damit veränderten sich aber nicht die Fixpunkte der Politik – Fortsetzung des Krieges, Offenhalten der Land- und der nationalen Frage. Hinzu gesellte sich nun zunehmend der Kampf um die Sowjets, in denen die Unzufriedenheit mit dem Kurs der Regierung und der Führung der Sowjet-Bewegung wuchs.

Die ungelösten Probleme des Landes führen immer wieder zu Regierungskrisen, die am 20. Juli Alexander Kerenski (Sozialisten-Revolutionäre) an die Spitze der Regierung bringen. Er versuchte bereits einige Wochen zuvor in seiner Eigenschaft als Kriegsminister am 1. Juli mit einer militärischen Offensive gegen die deutschen Truppen die Front zu stabilisieren und letztlich auch mit einem Erfolg die Legitimation der Regierung zu stärken – eine fatale Fehleinschätzung, die zu einer militärischen Katastrophe führte und die Proteste im Lande nur anfachte. Kerenski sah die Ursache der Niederlage in der schlechten Vorbereitung der Operation durch die Armeeführung und die fehlende Bereitschaft der Truppen, den Krieg weiterzuführen. Er berichtete der Regierung:

„Ein Grund für die unbeständige Stimmungslage ist neben der Kriegsmüdigkeit das ungenügende Verständnis von Sinn und Zweck des Krieges und die fehlende Einmütigkeit im Lande und in der Armee. Besonders häufig beschweren sich die Soldaten über das unwürdige Auftreten der rückwärtigen Truppen, die es ablehnen, Auffüllung zu stellen, sowie über die Tatsache, dass Leute, die sich weigern, in den Kampf zu gehen, straffrei bleiben... Diese massenweise Weigerung kann zu einer bedrohlichen Erscheinung werden, denn oftmals wird sie mit dem ideologischen Banner des Bolschewismus gedeckt.“ (Hedeler, Schützler, und Striegnitz 1997, 272f.)

Vor diesem Hintergrund erlangten die Forderungen der Bolschewiki nach Frieden und „Alle Macht den Räten“ wachsende Akzeptanz unter den Massen. Genauer: die Forderung wurde in den Massen selber erhoben – und sie fanden in den Positionen der Bolschewiki das Echo ihrer eigenen Forderungen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Sowjets angesichts des völligen Zerfalls des Staatsapparates ohnehin in weiten Gebieten die eigentliche Staatsmacht waren. Die Losung war so eine Kampfansage gegen die Unterordnung der Sowjets unter die zwischen dem Sowjetkongress und der Regierung ausgehandelten politischen Richtlinien, letztlich also auch gegen den dominierenden rechten Flügel in den Sowjets. In Kronstadt hatte schon am 29. Mai der örtliche Sowjet beschlossen, nur noch den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten als höchste Autorität anzuerkennen. Damit war die erste Sowjetrepublik entstanden. Getragen wurde sie von AnarchistInnen, linken Sozialisten-Revolutionären, Parteilosen und den Bolschewiki. (vgl. Smoljanskaja 2017, 165) Das war nicht einfach eine Episode am Rande des Geschehens – Kronstadt und seine Garnison waren ein wesentlicher Machtfaktor, verfügten über modernste Technik, militärisch qualifizierte und politisch geschulte ArbeiterInnen und Matrosen. Obwohl sich der Petrograder Sowjet und die Regierung gegen die Aktion der Kronstädter aussprechen, bleiben diese bei ihrem Standpunkt und handeln entsprechend. Die Regierung erlangt nie wieder die Kontrolle über Kronstadt.

Zeitgleich mit dem Beginn der Kerenskischen Offensive fanden große Demonstrationen gegen die Weiterführung des Krieges statt. Nachdem die Sowjets in den Monaten vor Juni 1917 weitgehend auf einer Linie mit der Regierung lagen und der I. Gesamtrussische Sowjetkongress 16. Juni – 7. Juli diesen Kurs bestätigte, verliert diese Position nun rapide an Einfluss. Das zeigt sich etwa am 1. Juli 1917, als während des Sowjetkongresses dieser zu einer Kundgebung zur Unterstützung der Revolution aufruft, um nach Darstellung Trotzkis die unbedeutende Rolle der Bolschewiki sichtbar zu machen. Allerdings wird die Demonstration von bolschewistischen Losungen dominiert…

Dieser Polarisierungsprozess beschleunigt sich in den folgenden Monaten weiter. So verweigert der einflussreiche Zentrale Sowjet der Baltischen Flotte, sich an der Niederwerfung der Proteste um den 17. Juli herum zu beteiligen. Er charakterisiert die Politik der Provisorischen Regierung unumwunden als konterrevolutionär. Eine gemeinsame Beratung des ZK und der Schiffskomitees forderte die Machtübernahme durch die Sowjets. (vgl.Hedeler, Schützler, and Striegnitz 1997, 278ff.)

Das Zentralexekutivkomitee des Sowjet-Kongresses erkennt am 22. Juli der Provisorischen Regierung „unbeschränkte Vollmachten“ zu, während zur gleichen Zeit machtvolle Demonstrationen unter der Losung „Alle Macht den Sowjets“ stattfinden.

Ein Konsens zwischen den Revolutionären des Februar über die weitere Entwicklung wird in wachsendem Maße angesichts der Neuformierung der Interessen in Arbeiterschaft, Bauernschaft und Bürgertum gleichermaßen unwahrscheinlich und immer weniger möglich.

Quellen und zum Weiterlesen

Hedeler, Wladislaw, Horst Schützler, und Sonja Striegnitz, (Hrsg.) 1997. Die russische Revolution 1917 : Wegweiser oder Sackgasse? Berlin: Dietz Verlag.

Smoljanskaja, Natalja. 2017. "Die erste Sowjetrepublik: das revolutionäre Kronstadt im Juli 1917." In Die russische Linke zwischen März und November 1917, hrsg. von W. Hedeler, 160-174. Berlin: Karl Dietz Verlag.

Štejnberg, Isaak Zacharovič [Steinberg, Isaak]. 1920. "Ot fevralja po oktjabrʹ 1917 g." doi: http://stabikat.de/DB=1/FAM?PPN=718139305.

Suchanov, Nikolaj Nikolaevič. 1967. 1917: Tagebuch der Russischen Revolution. München: Piper.

Trotzki, Leo. 2010 [1930]. Geschichte der Russischen Revolution: Februarrevolution. Bd. 1. Essen: Mehring-Verlag. [https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap19.htm]