Sankt Marx

Karl-Marx-Stadt, Jugendfestival, Mai 1980 Foto: Bundesarchiv, Bild 183-W0525 112 Wolfgang Thieme/ADN CC BY-SA

Marx in der DDR - über den heiligen Karl, die Verwandlung einer Weltanschauung in ein Religionssurrogat und eine Feststellungsfestveranstaltung. Eine Reise ins Jahr 1983. Teil II

Aus einem großen Haufen mit Exemplaren der Zeitung »Neues Deutschlands« würde die Ausgabe vom 12. März 1983 nicht herausstechen. Jedenfalls nicht besonders, das Zentralorgan macht, was es den zeitgenössischen Moden der realsozialistischen Herrschaft entsprechend immer getan hat: Es stellt die Bilder, die die SED zwecks Untermalung, Legitimierung, Bestätigung ihrer Politik zuvor produziert hat, ins Schaufenster.

Teil I der Serie über Marx in der DDR:
Über die Schwierigkeiten des Zurückblickens, politische Legitimation durch Bilder und Debatten in der Nische.

Es ist der Vorabend des 100. Todestags von Karl Marx, dessen »Lehre« die Zeitung in der Schlagzeile als »in der Welt von heute lebendiger denn je« bezeichnet. Die etwas aus dem üblichen Rahmen fallende Gestaltung der ersten Seite zeigt ein großes Foto, das Konterfei »des größten Sohnes des deutschen Volkes« prangt kugelrund und mehrere Meter im Durchmesser auf einem wellenden Vorhang, darunter die Jahreszahlen 1883 und 1983, und ganz unten auf einer Bühne zu sehen ein Ausschnitt der Tribüne mit dem »Präsidium der Festveranstaltung«, die »starken Männer« der SED, Honecker, Axen, Sindermann, Stoph, Herrmann klatschen Beifall. Wem?

Die Inszenierung hat mehrere Ebenen. Natürlich wurde Marx von der SED nicht bloß instrumentalisiert, er war ja tatsächlich eine Traditionen begründender Bezugspunkt, wie man ihn las, zu welcher Strömung der mit Marx verknüpften Debatten und Spaltungen der Arbeiterbewegung man sich zugehörig fühlte, wirkte wirklich identitäts- und legitimitätsbegründend. Marx-Lektüren, jedenfalls die der Hefte mit entsprechenden Bildungsprogrammen der Arbeiterbewegung, gehörten auch zu den Biografien der Protagonisten wie so etwas überhaupt aus der Geschichte der kommunistischen und sozialdemokratischen Organisationen nicht wegzudenken war. Der Name Marx war aber darüber hinaus auch so etwas wie eine größtmögliche Komplexitätsreduktion, in der das große, vielschichtige Ganze, auch die Hoffnung auf das Andere, die sich aus der scheinbaren Überlegenheit der Kritik am Bestehenden speiste, in einem Wort Platz fand. Insofern wohnte der Ehrung im großen Saal des Palastes der Republik ein auch subjektives Bedürfnis nach Bewahrung inne - indem man Marx zu dessen Todestag ehrte, ehrte man auch sich selbst als Träger einer Fackel, die von Generation zu Generation weitergereicht wurde.

Auf einer anderen Ebene erzählt gerade diese Inszenierung vom März 1983 von einer Ästhetik einer sich selbst unsicheren Macht, die solche Bezugspunkte braucht um sich zu stützen - und dabei eine Praxis an den Tag legt, die schon beinahe mit jener von Religionen vergleichbar ist oder sogar über sie hinausreicht. Der riesige, kreisrund gefasste Kopf von Marx schwebt wie eine Sonne über den irdischen Vertretern eines Denksystems, aus dem die kritische Skepsis an sich selbst längst ausgetrieben, das zu einem Katechismus realsozialistischer Herrschaftsausübung geworden war. Ironie: Mit der Masse, die das Bild von Marx und den alten Männern nicht zeigt, ist auch das »historische Subjekt« aus der Inszenierung herausgefallen, die Werktätigen, sie werden gar nicht gezeigt.

Dabei spielt es nicht einmal eine so große Rolle, ob man annimmt, die SED-Führung habe diese Inszenierung »absichtlich«, also auf der Grundlage eines gemeinen Plans oder dergleichen ins Werk gesetzt. Oder ob man stärker in Rechnung stellt, dass die Instrumentalisierung von Marx ein Ergebnis der politischen Realgeschichte des auf ihn zurückgehenden Denkens ist: von Marx zum »Marxismus«, zu Lenins Avantgarde-Gedanken, zur Spaltung der Arbeiterbewegung, zum Marxismus-Leninismus und einer »Theorie«, die vom gesetzmäßigen Untergang des Kapitalismus ausging und der die DDR als eines der praktizierten Gegenmodelle galt, auf dass die SED dann verwies, wenn sie von der »Verwirklichung« der »Lehren« sprach.

Lehren, hier gemeint nicht als Schlussfolgerungen kritischer Reflexion, sondern als Glaubenssätze, die mit einer Überfigur verknüpft sind: Man wird diese quasireligöse Inszenierung von Marx nicht einfach der Abteilung »Opium des Volks« zuordnen wollen. Ein »Seufzer der bedrängten Kreatur« war diese Form der politischen Inanspruchnahme aber auf eine gewisse Weise tatsächlich. Je größer der Marx strahlte, den sie meinten, desto eher konnten sie hoffen, es werde auch Licht auf ihr Tun fallen, dessen Begrenztheit sogar für jene augenfällig gewesen sein muss, die so redeten, als sähen sie es nicht. »Mit dem Werden und Wachsen der DDR wurde auch bei uns das Vermächtnis von Karl Marx erfüllt. Seine Lehre hat bereits auf vier Kontinenten Fuß gefasst und dort starke Bastionen eingenommen«, so das »Neue Deutschland« an jenem 12. März 1983. Und weiter: »Diese Feststellungen bestimmten die Festveranstaltung.«

Eine Feststellungsfestveranstaltung also, die übrigens mit einem Festprogramm endete. Die Führung der führenden Partei sendete von ihr »die herzlichsten Grüße« an alle Werktätigen, von denen es im Zentralorgan dann weiter heißt, diese würden »die Ehrung für Karl Marx zum Anlass nehmen, den ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden allseitig zu stärken«, wobei sie »zu jener besseren Welt« beitragen, »die Karl Marx zeitlebens erstrebte«. Damit war der Kreis zwischen Avantgarde-Partei, historischem Subjekt und »dem Vermächtnis« geschlossen, eine symbolpolitische Übung, die auch mit anderen Namen funktionierte, seien es Ernst Thälmann oder Martin Luther. Es kam auf den Jahrestag an und die Umstände.

Die »Tendenz zur Verwandlung der Marxschen Weltanschauung in ein Religionssurrogat« hatte freilich schon lange vor der DDR begonnen. Verschiedene Faktoren wirkten auf diesem Weg, darunter die Verselbständigung der Theorie gegenüber der Bewegung; die Auffassung, »den Arbeitern« könne nicht die ganze, komplizierte Gedankenwelt von Marx zugemutet werden, sie bräuchten stattdessen kurze Lehrsätze; die wachsende Bedeutung von Eigenlogiken wie der Organisationsidentität der kommunistischen und sozialdemokratischen Bewegung; die Transformation von Elementen der Theorie in unhinterfragbare Prämissen und die Rolle der mehr und mehr von ihrer eigentlichen Substanz abgetrennten Marxschen Terminologie, die sich gerade in der SED immer mehr zu einem eigenen, hermetischen Sprachkosmos verwandelte, in dem die »führenden Genossen« kraft der Verwendung bestimmter Formeln zu »Personifikationen des Marxismus« wurden. »Die Massen wurden in diesen Tendenzen zum Objekt der Belehrung über richtiges Verhalten und konnten sich so den Marxismus nur quasireligiös aneignen«, so formuliert es Lutz Brangsch. »Die Sinnsetzung jenseits der menschlichen Emanzipation und das Fehlen einer Vermittlung von Wissensproduktion und den Massen ließen den Marxismus zu einer Äußerlichkeit werden.«

Wie es weitergeht? Lesen Sie in Teil III über die Berliner Marx-Konferenz von 1983, öde Sprechrituale und den Auftakt zu einem systemübergreifenden Dialog »im Interesse des Friedenskampfes«