Revolution: Lokomotive oder Notbremse der Geschichte?

Dieser Gegenüberstellung liegt wie so oft ein fatales Missverständnis zu Grunde. Beide Zitatfetzen werden bei Karl Marx bzw. Walter Benjamin aus dem Zusammenhang gerissen und so Aussagen suggeriert, die von beiden nicht getroffen wurden. Gleichzeitig wird den Positionen der eigentlich interessante Inhalt genommen.

Bei Marx heißt es: „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.“ Darum kann man nun eine universalgeschichtliche Weisheit konstruieren, wie dies auch oft gemacht wurde. Worum geht es Marx aber eigentlich? Warum kommt er zu dieser Aussage? Das Zitat stammt aus seiner Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“ (Marx 1960, 85). An der bewußten Stelle beschäftigt er sich aber nicht mit der Revolution als solcher oder ihrer weltgeschichtlichen Rolle, sondern mit der Veränderung der französischen Bauernschaft im Zuge revolutionärer Ereignisse: Die Bauern lernen im Zuge der Revolution durch die Maßregeln der bürgerlichen Republik, dass das Bürgertum kein verläßlicher Partner ist; Bauern, Kleinbürger usw. radikalisieren sich im Bestreben der Verteidigung demokratischer Rechte und Institutionen und treten dabei neben das Proletariat. (ebd., 87) In ihrem entsprechenden gemeinsamen Handeln, das erst einmal vor allem Selbstverteidigung ist, wird die Geschichte vorangetrieben. Indem dieses Handeln die bisherigen gesellschaftlichen Begrenzungen aufbricht und alle gesellschaftlichen Gruppen, selbst jedes Individuum, zu Veränderungen zwingt, wird die Gesellschaft erneuert, werden, selbst im Falle der Niederlage, neue Institutionen, neue Beziehungen, neue Perspektiven geschaffen. Man möge sich vor Augen halten, was die „Locomotive“ im Jahre 1850 war: ein Symbol der Überwindung von Begrenzungen in Raum und Zeit, deren Verständnis über Jahrhunderte durch Postkutsche und Segelschiff geprägt war!

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