Nichts wächst mehr im globalen Kapitalismus?

Über das Gespenst der »säkularen Stagnation« und was dagegen zu tun wäre

Joachim Bischoff

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, langjährige Beschäftigung mit der Kritik der politischen Ökonomie, Verlagslektor und Zeitschriftenredakteur, Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus.

»Ein Gespenst geht um in der Weltwirtschaft, das Gespenst der ›säkularen Stagnation‹« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 17.7.2016) – so die These des Mitgliedes im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Peter Bofinger.

Der Grund für die Erscheinung ist das in den letzten Jahren verbreitete tiefe Unbehagen über den Zustand der Weltwirtschaft, die nun schon seit mehreren Jahren an einer gravierenden Funktionsstörung leidet. Die Globalökonomie ist zehn Jahre nach der großen Krise in einem Modus der verhaltenen Expansion. Seit Ausbruch der Großen Krise 2007/08 durchlaufen wir eine Kaskade verschiedener Erscheinungsformen: Zwischen Phasen der Zuspitzung der Widersprüche beruhigen sich die Finanzmärkte und erholt sich der gesellschaftliche Reproduktionsprozess, wenngleich nicht in allen Ländern gleichermaßen.

Entschuldung ist ein langwieriger Prozess

Ausgangspunkt für die Strukturkrise im Unterschied zu einer üblichen Konjunkturkrise war eine drastische Preiskorrektur auf den Immobilienmärkten und in der Folge von notleidenden Hypothekenkrediten in vielen kapitalistischen Ländern. Daraus entwickelte sich eine globale Banken- und später eine Staatsschulden- und Kreditkrise. Die Ergebnisse der folgenden Regulierung sind bescheiden: Entschuldung ist ein langwieriger Prozess, er nimmt nach aller historischen Erfahrung Jahre in Anspruch.
Zugleich sind vor allem die unteren und mittleren Arbeitseinkommen infolge der hohen Arbeitslosigkeit und der Schwächung der Gewerkschaften deutlich hinter der Gewinnentwicklung zurückgeblieben. Eine Rückkehr zur beschleunigten Kapitalakkumulation zeichnet sich nicht ab, stattdessen zeigen sich bei geringerer Akkumulationsrate Symptome einer erneuten Finanzkrise.

Finanzkrisen sind Ausprägungen einer grundsätzlichen Instabilität der kapitalistischen Ökonomie. In längeren Phasen beschleunigter Kapitalakkumulation mit wirtschaftlichem Wachstum verlieren Banken, Unternehmen und Konsumenten ihre Risikoorientierungen und beginnen sich immer mehr gewagteren Finanzierungen auszusetzen. Unternehmen, Finanzinstitute oder Privatpersonen bauen schließlich auf erwartete Preissteigerungen der Vermögensgüter. Das Ende der Party wird in der Regel durch ein eigentlich nebensächliches Ereignis ausgelöst. Neben einer wirksamen Regulierung der Finanzsektoren steht die Politik vor dem Problem einer Stabilisierung des Wirtschaftswachstums. Das ist der Hintergrund für den hartnäckigen Spuk des Gespenstes »säkulare Stagnation«.

Das Konzept der säkularen Stagnation geht auf einen Beitrag des US-amerikanischen Ökonomen Alvin Hansen aus dem Jahr 1939 zurück. Der englische Begriff lautet »secular stagnation«, was langfristige oder langjährige Stagnation bedeutet. Im Zuge des weltweiten Wirtschaftsbooms nach dem Zweiten Weltkrieg geriet das Konzept in Vergessenheit. Eine Renaissance erlebte Hansens Idee durch einen Vortrag des ehemaligen US-Finanzministers Lawrence Summers im November 2013.

Der wichtigste empirische Indikator für eine säkulare Stagnation ist eine dauerhaft niedrige Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts. Das empirische Bild ist nicht eindeutig, folglich gibt es darüber Debatten, ob wir es mit einem tendenziell niedrigeren Niveau gegenüber dem Vorkrisenzeitraum zu tun haben. Daneben gibt es weitere Indikatoren, die auf eine Stagnationstendenz hinweisen – etwa wenn eine Volkswirtschaft über einen längeren Zeitraum Ersparnisse bildet, die grösser sind als die Nettoinvestitionen des Landes. Die Ersparnisse einer Volkswirtschaft stellen das Kapitalangebot dar, während die Investitionen eine Kapitalnachfrage bedeuten. Eine säkulare Stagnation hat zur Folge, dass das Kapitalangebot größer ist als die Kapitalnachfrage. Dieser Angebotsüberschuss bewirkt einen Rückgang des Preises für Kapital, also eine Verringerung der Zinssätze. Eine Tendenz zur Stagnation zeichnet sich daher durch Nominalzinssätze nahe null aus. Im Fall der säkularen Stagnation betrifft der Nachfragemangel das gesamte Warenangebot. Dies hat ein sinkendes Preisniveau zur Folge bzw. eine Deflationstendenz.

Die Konzeption der säkularen Stagnation ist ein Deutungsangebot

Die Konzeption der säkularen Stagnation ist somit keine rein theoretische Überlegung, sondern für hochentwickelte Industrienationen ein Deutungsangebot für verschiedene Phänomene: Abschwächung der Akkumulationsrate, Absinken der Kapitalinvestitionen, Abschwächung der Produktivitätsentwicklung, unzureichende Erneuerung des Kapitalstocks, deflationäre Preisentwicklung und chronische Niedrigzinsen.

In nahezu allen kapitalistischen Hauptländern haben nach der Großen Wirtschafts- und Finanzkrise die Prekarisierung der Lohnarbeit und die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen zugenommen. Auch bei geringen Akkumulationsraten ist es gleichwohl möglich gewesen, in Deutschland, im Euro-Raum und den USA die Beschäftigung deutlich zu erhöhen und die Zahl der Arbeitslosen zu reduzieren. Eine breite Teilhabe am Wirtschaftserfolg ist jedoch nicht zu verzeichnen, vor allen die unteren und mittleren Lohneinkommen sind deutlich zurückgeblieben. Wenn die Einkommensentwicklung dazu führt, dass das untere Drittel über eine ganze Generation hinweg nicht mehr am allgemeinen Anstieg des Wohlstands partizipieren kann und sich dabei zugleich einer größeren Unsicherheit in Bezug auf den Arbeitsplatz und die soziale Absicherung gegenübersieht, hat dies ökonomische Konsequenzen und führt zu einem Legitimationsverlust der bürgerlichen Gesellschaft.

Einkommensungleichheit schwächt das Wirtschaftswachstum

Steigende Einkommensungleichheit hat zur Folge, dass der Anteil einkommensreicher Haushalte wächst. Diese zeichnen sich in der Regel durch eine überdurchschnittlich hohe Sparquote aus. Wachsende Ersparnisse bedeuten, dass die Warennachfrage zurückgeht. Wenn dieser Nachfrageausfall nicht durch entsprechend hohe Investitionsausgaben kompensiert wird, kommt es zu einem gesamtgesellschaftlichen Nachfragerückgang. Sofern sich die Unternehmen daran anpassen, indem sie ihre Produktion reduzieren, sinkt das BIP. Einkommensungleichheit schwächt somit das Wirtschaftswachstum.
Hohe Ersparnisse sind für sich genommen noch keine Wachstumsbremse, weil die fehlende Konsumgüternachfrage durch Investitionen ausgeglichen werden könnte. In entwickelten Volkswirtschaften ist der Kapitalbestand jedoch so hoch, dass der Investitionsbedarf tendenziell gering ist. Es wären sehr große Investitionen erforderlich, um kleinere Fortschritte in der Produktivitätsentwicklung zu erreichen.

Wenn dann noch die Konsumnachfrage nachlässt, gibt es keine Anreize mehr für weitere Investitionen. Der Ausfall der Konsumnachfrage wird folglich nicht durch neue Investitionen kompensiert. Qualitativ hochwertige staatliche Infrastrukturangebote (z.B. Verkehrsnetz, Strom- und Energieversorgung, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen) und staatliche Bildungsangebote (frühkindliche, schulische und universitäre Bildung sowie berufliche Aus- und Weiterbildung) sind eine notwendige Voraussetzung für eine hohe gesamtwirtschaftliche Produktivität. Bei einer hohen öffentlichen Verschuldung muss der Staat immer größere Anteile seiner Einnahmen für den Schuldendienst ausgeben. Im Fall einer alternden Gesellschaft steigen die Ausgaben für Renten, Pensionen, Pflege und Gesundheit. In beiden Fällen bleiben immer weniger Mittel für Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Wenn die Politik durch Korrekturen der Einkommens- und Vermögensverteilung nicht gegensteuert, schwächt dies die Produktivitätsfortschritte und damit auch das Wirtschaftswachstum.

Zusammengefasst: Nachfrageseitig kommt es in hochentwickelten Industrienationen zu einem Rückgang der Investitionen. Nachlassende Investitionen bedeuten, dass die Zuwächse des gesamtwirtschaftlichen Kapitalstocks geringer werden, er wird unzureichend modernisiert. Somit kommt es angebotsseitig zu einer Tendenz der Stagnation.

Ein stagnierendes BIP kann eine Reihe von negativen Folgen haben. Ohne Wachstum kommt es zu keinem Beschäftigungsanstieg, d.h. Arbeitslosigkeit kann nicht abgebaut werden, ggf. sogar ansteigen. Selbst bei einem nur geringen technischen Fortschritt hat ein konstantes BIP zur Folge, dass die gleichbleibende Warenmenge mit immer weniger Arbeitseinsatz hergestellt werden kann und die Beschäftigung zurückgeht. Ein permanenter Überschuss der Ersparnisse eines Landes über dessen Investitionen hat einen Angebotsüberschuss auf dem Kapitalmarkt zur Folge, der zu sinkenden Zinsen führt. Damit steigt die Gefahr einer Kreditblase. Gleichzeitig erhöht ein niedriger Zinssatz den Anreiz, Ersparnisse für Vermögenswerte anzulegen und auf Kurssteigerungen zu hoffen. Damit wächst die Gefahr einer neuen Spekulationsblase.
Wenn Produktion und Beschäftigung wachsen, steigen auch die staatlichen Einnahmen. Gleichzeitig sinken die notwendigen Ausgaben zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ohne Wirtschaftswachstum kommt es nicht zu höheren Staatseinnahmen. Eine Sanierung der öffentlichen Finanzen wird daher schwieriger.

Die Standardantwort auf eine wirtschaftliche Schwächephase ist die Erhöhung der Geldmenge, um über sinkende Zinsen die Investitionstätigkeiten der Unternehmen zu steigern und so das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Diese Form der Geldpolitik versagt jedoch im Fall der säkularen Stagnation: Erstens liegen die Zinsen in Ländern mit Stagnationstendenzen meistens schon nahe null, so dass weitere Zinssenkungen unwirksam sind. Darüber hinaus vergrößern die Unternehmen wegen der pessimistischen Absatzerwartung selbst bei Zinsen nahe null ihre Produktionskapazitäten nicht, weil sie befürchten, dass zusätzliche Produkte nicht verkauft werden können.

Die Konsequenz ist eine um sich greifende Ratlosigkeit

Auch der Versuch, über eine Steigerung der Exporte den inländischen Nachfrageausfall zu kompensieren, gerät an seine Grenzen, weil die Länder mit Importüberschuss zunehmend wirtschaftliche Probleme erleiden (steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Auslandsverschuldung). Konsequenz ist ein Patt von Ansichten und Modellen und eine um sich greifende Ratlosigkeit. Aufgrund angeblich tiefer Inflationsraten, angeblich zu geringen Wachstums (gemessen am BIP), angeblich tiefer Investitionstätigkeit, anscheinend immer noch zu hoher Arbeitslosigkeit und offenbar geringer Kredittätigkeit der Banken, kurz einer angeblichen »säkularen Stagnation«, wird auch Jahre nach der Banken- und Staatsschuldenkrise massives Geldmengenwachstum angestrebt und werden zu diesem Zwecke die Zinsen extrem tief gehalten.

Die Zentralbanken haben mit ihren Interventionen den traditionellen Konjunktur- und Finanzzyklus in einen gefährlichen »Vermögenspreiszyklus« verwandelt. Diese Wirtschaftspolitik hat nicht nur die zunehmende Erlahmung der Antriebskräfte übertüncht, sondern die Probleme verstärkt. Die expansive Kreditpolitik führt dazu, Konsum und Spekulation zu finanzieren. Überall sind die Vermögenswerte in Folge dieser Verschuldung deutlich gestiegen. Die Zinsen für diese Schulden müssen jedoch nach wie vor aus dem Einkommen finanziert werden, was letztlich zu einer geringeren Nachfrage führt.

Was wäre die Lösung? Abgesehen von einem Crash, bei dem wacklige Unternehmen und Banken aus dem Markt gefegt werden, gibt es eine Alternative: Die Notenbanken können, unterstützt durch die Politik, die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad bringen. Zum Beispiel dadurch, dass über die Geld- und Fiskalpolitik eine überbrückende Stützung organisiert wird, damit sich Haushalte und Unternehmen sanieren können, Banken gesunden und die Wirtschaft wieder selbsttragend funktionieren kann. Eine schwere Finanzkrise kann so durch das Eingreifen des Staates, sei es in Gestalt der Notenbank, der Aufsichtsbehörden oder des Finanzministeriums, entschärft und Verwerfungen bereinigt werden.

Eine Rosskur mit der Bereinigung von wertlosen Vermögenstiteln dagegen wäre nicht populär, die zukünftige Sicherung des Wohlstandes würde durch eine längere Durststrecke mit hoher Arbeitslosigkeit erkauft. Die Alternative zum staatlich begleiteten Bereinigungs- und Anpassungsprozess ist ein außergewöhnliches Reformpaket, eine Art New Deal aus Geld-, Fiskal- und Strukturpolitik, mit dem die wichtigen nationalen Ökonomien und damit die Weltwirtschaft wieder in einen Entwicklungspfad zurück bugsiert werden. Leihkapital zu niedrigen Zinsen ist vorhanden und selbst mit einer erforderliche Erhöhung der Leitzinsen würden die auf den Weg gebrachten Investitionen in die Infrastruktur die Lebens- und Produktionsverhältnisse deutlich verbessern.

Literatur

  • Coen Teulings/Richard Baldwin, Secular Stagnation: Facts, Causes and Cures, CEPR, August 2014.
  • Jason Lu/Coen Teulings, Secular stagnation, bubbles, fiscal policy, and the introduction of the contraceptive pill, CEPR, Oktober 2016.
  • Joachim Bischoff/Klaus Steinitz, Götterdämmerung des Kapitalismus, Hamburg 2016.
  • Joachim Bischoff/Fritz Fiehler/Stephan Krüger/Christoph Lieber, Vom Kapitel lernen. Die Aktualität von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, Hamburg 2017