Wissenschaftlich fehlerhaft und auf die moderne Welt nicht anwendbar

Marx gegen Keynes: Warum Marx doch näher an der Wahrheit war.

Michael Roberts

Michael Roberts ist seit über dreißig Jahren als Finanzökonom in der City of London tätig. In seinem Buch "The Great Recession: a Marxist view" sah er die globale Finanzkrise voraus. In seinem jüngsten Buch "The Long Depression" (Haymarket 2016) fragt er nach den Ursachen der Stagnation der Weltwirtschaft seit 2009.

Als John Maynard Keynes sich 1926 daran machte, die widerstreitenden Konzepte der klassischen Ökonomie (die er als Laisser-faire bezeichnete) und ihrer revolutionären Alternative (des Marxismus) miteinander zu vergleichen, war er bereits der gefeiertste Wirtschaftstheoretiker und politischer Autor seiner Zeit. In "Laissez-faire and Communism" versuchte Keynes, ein Zeitgenosse der bolschewistischen Anführer Lenin und Trotzki, zu zeigen, dass die russische Revolution, die die Herrschenden überall auf der Welt nur wenige Jahre zuvor in Angst und Schrecken versetzt hatte, eigentlich keine große Bedeutung habe.

Dem Kommunismus, so sein Argument, könne nichts Lohnendes entspringen, beruhe er doch auf den Ideen und Theorien von Karl Marx. „Wie kann ich eine [kommunistische] Lehre akzeptieren“, schrieb Keynes, „die als ihre Bibel, jenseits jedweder Kritik und darüber hinaus, ein veraltetes ökonomisches Lehrbuch festlegt, von dem ich weiß, dass es nicht nur wissenschaftliche Irrtümer enthält, sondern dass es für die moderne Welt uninteressant und nicht auf sie anwendbar ist“. Weiter schrieb er: „Angenommen wir bräuchten tatsächlich eine Religion, wieso sollten wir sie gerade im Müllhaufen des roten Buchladens finden? Für einen gebildeten, anständigen und intelligenten Spross Westeuropas ist es schwer, hier seine Ideale zu finden, außer er hat sich vorher irgendeinem seltsamen und schrecklichen Prozess der Verwandlung unterzogen, der alle seine Werte verdreht hat.“ (Keynes, "Laissez-Faire and Communism", zitiert in Hunt 1979: 377).

Keynes schrieb rund 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Karl Marx' Kapital. Können wir heute noch, wo sich dieses Datum bald zum 150. Mal jährt, noch Keynes' vernichtende Kritik an den Marxschen Ideen teilen? Das Kapital von Karl Marx war eine Kritik der politischen Ökonomie seiner Zeit, aber gleichsam eine messerscharfe Analyse dessen, was wir heute Kapitalismus nennen. Auf Grundlage der Arbeitswerttheorie wollte Marx aufzeigen, wie Ausbeutung von Arbeit trotz scheinbar gleichberechtigtem Tausch auf dem Markt funktioniert. Marx' Analyse legt dabei vor allem nah, dass dem Kapitalismus unüberbrückbare Widersprüche innewohnen, die sich nur lösen lassen, wenn die private, profitorientierte Produktion durch eine bedarfsorientierte Produktion mit sozialisiertem Besitz und Kontrolle ersetzt wird.

Vulgär-Ökonomie überall!

Keynes stellte der seiner Ansicht nach unlogischen und hinfälligen Arbeitswerttheorie die Grenznutzentheorie der Mainstream-Ökonomie entgegen. Als diese in den späten 1870ern die Arbeitswerttheorie verdrängte und zur anerkannten Erklärungsgrundlage für wirtschaftliche Produktionskosten wurde, merkte Engels an: „Mode ist hier gerade die Theorie von Stanley Jevons, nach der der Wert durch die Nützlichkeit bestimmt wird, i.e. Tauschwert = Gebrauchswert, und auf der anderen Seite durch die Größe des Angebots (i.e. durch die Produktionskosten), was nur eine konfuse Manier ist, hintenherum zu sagen, daß der Wert durch Angebot und Nachfrage bestimmt werde. Vulgär-Ökonomie überall!“ (Aus einem Brief von Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson in Petersburg vom 5.01.1888, in MEW 37).

Alsbald wurde die Grenznutzentheorie jedoch selbst in Mainstream-Kreisen unhaltbar, weil sich subjektiver Wert weder messen noch aggregieren lässt, weshalb die psychologische Grundlage der Grenznutzentheorie auch schnell aufgegeben wurde, ohne dass dies jedoch bedeutet hätte, auf die Theorie als Ganzes zu verzichten. Folglich hielt Keynes an einer wissenschaftlich erwiesenermaßen falschen und nicht überprüfbaren Theorie der Preisbildung fest, während er die objektive und nachprüfbare Marxsche Werttheorie, die auf der in ein Produkt investierten Arbeitszeit basiert, für Unsinn erklärte. Für Marx ist die Triebkraft zur Akkumulation von Kapital der Profit. Der Profit gibt den Ton an. In Das Kapital und weiteren Werken beschreibt Marx, wie dem kapitalistischen System eine Tendenz zum Fall der Profitrate innewohnt, ein Druck auf die Profitmargen, der langfristig zu einem Einbruch der Profite und damit zu Krise und Rezession führen muss. Sollte Marx Recht haben, lohnt es, darüber nachzudenken, wie sich eine auf fallende Profite zurückführbare kapitalistische Krise lösen lässt. Denn eigentlich lässt sie sich nur in den Griff bekommen, wenn genug KapitalistInnen Bankrott gehen, genug alte Maschinen stillgelegt und Fabriken geschlossen und genug ArbeiterInnen entlassen werden. Nur so können die Kosten für Produktion und Investitionen irgendwann so weit sinken, dass die überlebenden KapitalistInnen wieder investieren und profitabel produzieren können. Nach einer gewissen Zeit jedoch (evtl. nach einigen Jahren oder Dekaden) würde der Druck durch das Gesetz der fallenden Profitrate wieder steigen und der „ganze Scheiß“, wie Marx es nannte, würde wieder von vorne beginnen. Dies führt zu Zyklen von wirtschaftlichem Aufschwung und Krise.

Wer also hatte Recht?

Keynes hingegen, der die Idee negierte, wonach der unbezahlte Teil der Arbeit im Produktionsprozess die Quelle jeden Profits ist, ging davon aus, dass Krisen durch die „effektive Nachfrage“ ausgelöst werden, insbesondere durch einen Abschwung bei Investitionen und Konsum, die in der Folge zu einem geringeren Bedarf an Arbeitskräften, niedrigeren Löhnen und Profiten führt. Wer also hatte Recht? Keynes' Theorie legt nahe, dass wir die Wirtschaft, sobald sie in die Rezession abzugleiten droht, bloß zu „steuern“ brauchen und dann alles gut wird. Hebel für eine solche Steuerung der Wirtschaft sind ein erleichterter Zugang zu Geld durch Zinssenkungen sowie staatliche Konjunkturpakete in Form von Investitionen bezahlt durch die Aufnahme neuer Schulden.

Hierzu lohnt ein Blick auf die Hochzeit keynesianischer Wirtschaftspolitik Ende der 1960er Jahre, als staatliche Wirtschaftssteuerung gang und gäbe war. „Mittlerweile sind wir alle Keynesianer“, erklärte damals selbst US-Präsident Nixon. Ende der 1970er jedoch hatten sich die StrategInnen des Kapitals von Keynes freigemacht und setzten nun auf das heute von uns als „neoliberal“ bezeichnete Rezept, Regierungen zu schrumpfen, zu privatisieren, die Gewerkschaften zu schwächen, Märkte zu liberalisieren (inklusive der Finanzmärkte) und strikte geld- und fiskalpolitische Sparprogramme zu implementieren (die allerdings nicht für Militärausgaben und Kriege galten). Wie war es dazu gekommen? Ganz einfach: Die von Keynes inspirierten Maßnahmen hatten neue Krisen, unter anderem den größten globalen Wirtschaftseinbruch des Kapitalismus seit dem Krieg 1974–1975 und dann einen noch stärkeren und verheerenderen Einbruch 1980–1982, nicht verhindern können. Wie war es zu diesen neuen Krisen gekommen, wo doch die Wirtschaftspolitik überall auf Keynes beruhte? Darauf hatte die auf Keynes basierende Wirtschaftspolitik keine Antwort.

Was könnte Marx zum Verständnis der Krise der 1970er beitragen, wo Keynes versagt? Marx hatte geschrieben, dass der Schlüssel zum Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise in der Natur der Produktion von Waren zum profitorientierten Verkauf auf einem Markt lag. Der Profit war der Schlüssel. Marx sagt: Setzen wir beim Profit an. Fällt der Profit, dann investieren KapitalistInnen nicht mehr, kündigen den ArbeiterInnen und dadurch fallen dann die Löhne und der Konsum bricht ein. Und das betrifft nicht nur die Krisen der 1970er. Analysieren wir die Veränderungen bei Investitionen und Konsum vor jeder Rezession oder jedem Wirtschaftseinbruch in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg, zeigt sich, dass die Konsumnachfrage kaum eine bzw. gar keine Rolle als Auslöser für wirtschaftlichen Abschwung gespielt hat. Der entscheidende Faktor waren vielmehr die Investitionen. Ein Beispiel dafür ist der letzte große Crash. Für einen Zeitraum von etwa zwei Jahren drückten die fallenden Unternehmensprofite den Investitionen und dem BIP ihren Stempel auf, während die Erholung der Profite in der Zeit nach 2009 den gegenteiligen Effekt hatte.

Keynesianisch inspirierte Maßnahmen können die Erholung der kapitalistischen Wirtschaft verzögern

Maßnahmen wie Zinssenkungen oder die Erhöhung der Staatsausgaben, sprich keynesianische Maßnahmen, verhindern solche Abschwünge nicht und können auch keine wirtschaftliche Erholung einläuten. In der Tat können höhere Sozialausgaben und großzügigere Arbeitslosenhilfe zu Steuererhöhungen führen, während eine höhere Neuverschuldung zu einem Anstieg der Zinsen führen kann. Eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben, die Investitionen durch den Privatsektor ersetzen oder mit diesen konkurrieren, können sogar die Ertragskraft des Kapitals schmälern. Auf diese Weise könnten keynesianisch inspirierte Maßnahmen sogar die Erholung der kapitalistischen Wirtschaft verzögern.

In Wirklichkeit sind die Sparprogramme der meisten Regierungen nicht so irrsinnig wie manche Keynes-AnhängerInnen glauben. Die KeynesianerInnen fragen: Warum verstehen die KapitaleignerInnen es nicht, dass es in ihrem besten Interesse ist, wenn Regierungen in einem wirtschaftlichen Abschwung mehr anstatt weniger ausgeben? Neoliberale Maßnahmen gründen jedoch auf dem Wunsch, Kosten zu kürzen, um den Profit zu steigern. Insbesondere die Lohnkosten, aber auch die Belastungen durch Steuern und Zinsen sollen sinken und ArbeiterInnenorganisationen geschwächt werden. Aus der Sicht des Kapitals ist das eine völlig rationale Politik, weshalb auf Keynes beruhende Maßnahmen weder in den 1930ern noch in der aktuellen großen Depression in bedeutendem Umfang Anwendung fanden.

Nur die Theorien von Marx und nicht Keynes konnten die 1970er erklären. Auf gewisse Weise haben das auch die VordenkerInnen des Kapitals erkannt. Ihre Strategie verfolgte das Ziel, anstatt auf eine von Keynes inspirierte „Nachfragesteuerung“ zu setzen, die Ertragskraft des Kapitals um jeden Preis zu steigern. Keynes selbst stand bei seiner Lösung für wirtschaftliche Abschwünge nicht auf der Seite der ArbeiterInnen. „Während wir die Punkte hervorheben, in denen wir vom klassischen System abweichen, dürfen wir einen wichtigen Punkt der Übereinstimmung nicht übersehen. […] Es bedeutet, dass - bei gegebener Organisation, Ausrüstung und Technik – Reallöhne und Produktionsmenge (und daher Beschäftigungsmenge) in einer eindeutigen Wechselbeziehung stehen, so daß im allgemeinen die Beschäftigung nur zunehmen kann, wenn die Reallöhne gleichzeitig fallen. Ich bestreite daher diese wesentliche Tatsache nicht, welche die klassischen Ökonomen (ganz richtig) als unantastbar bezeichnet haben.“ Lohnkürzungen waren somit, genau wie bei neoliberalen Sparprogrammen, für Keynes bei einem wirtschaftlichen Abschwung Teil der Lösung.

Auch Keynes hatte eine Theorie zu fallenden Profitraten. Allerdings ging er davon aus, dass der Fall der Profitrate nicht auf die Notwendigkeit einer revolutionären Transformation der Produktionsweise verwies, sondern vielmehr Kennzeichen einer Aufweichung des Antagonismus zwischen KapitalistInnen und Arbeiterklasse ist. In dem Maße, in dem das Kapital relativ zur Arbeit „verfügbarer“ wird, fällt die Profitrate und steigen die Reallöhne. Ein größerer Teil der Gesamtproduktion geht somit an die ArbeiterInnenklasse und weniger an die KapitalistInnen, die Ungleichheit nimmt ab. Verringert sich der „Knappheits-Wert“ des Kapitals, so Keynes, sinkt auch das Wirtschaftswachstum. Die Zinssätze würden gegen Null tendieren und ganz langsam die verhassten „Geldkapitalisten“ aussterben lassen. Hierdurch könnten Industrie- und HandelskapitalistInnen ein bisschen mehr verdienen, indem sie „unternehmerische“ Risiken eingehen, kurzum: Löhne hoch, Profite hoch in einer „stabilen“ Welt des Überflusses.

1931, auf dem Höhepunkt der Großen Depression, sagte Keynes zu seinen StudentInnen an der Cambridge University, von denen sich viele von den „überholten“ Theorien von Marx angezogen fühlten, dass sie sich keine Sorgen zu machen bräuchten. Die Große Depression würde vorübergehen, sie sei ein behebbares „technisches Problem“. „Unter der Annahme, dass keine bedeutenden Kriege und keine erhebliche Bevölkerungsvermehrung mehr stattfinden, komme ich zu dem Ergebnis, dass das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte, oder mindestens kurz vor der Lösung stehen wird. Dies bedeutet, dass das wirtschaftliche Problem − wenn wir in die Zukunft sehen − nicht das beständige Problem der Menschheit ist.“ Bei fortgesetzter technologischer Entwicklung, ohne weitere Kriege (!) und bei gleichzeitiger Kontrolle des Bevölkerungswachstums, sei die langfristige Aussicht im Kapitalismus eine Welt des Müßiggangs bei einer 15-Stunden-Woche und Überfluss für alle lange vor dem 200. Geburtstag von Marx. Dies ist aber das genaue Gegenteil von dem, was laut Marx eintreten würde. Wer also hatte Recht?

Eine Welt des Müßiggangs? Fehlanzeige.

Seitdem Keynes Marx' Theorien verworfen hat, zeigen die Fakten, dass das Finanzkapital mitnichten der Geschichte angehört, sondern ganz im Gegenteil auf globaler Ebene nie so mächtig war wie heute. Reichtum und Einkommen waren, seitdem der Kapitalismus zum dominanten Produktionssystem wurde, weder innerhalb einzelner Länder noch global zwischen Ländern je so extrem ungleich verteilt wie heute. Die meisten Menschen in den westlichen Ländern arbeiten weiterhin mit einer 40-Stunden-Woche und Armut bleibt auch in den „reichen“ modernen Wirtschaften verbreitet. Im Rest der Welt gehören Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Armut zu den zentralen Lebenserfahrungen vieler. Eine Welt des Müßiggangs? Fehlanzeige.

Für Keynes war der Kapitalismus das einzig vorstellbare System zur gesellschaftlichen Organisation, das ihm und seinesgleichen wirtschaftliche und politische Macht verlieh. Marxismus und Kommunismus stellten eine Bedrohung dieses Ideals dar. „Wie kann ich ein Glaubensbekenntnis übernehmen, das den Schlamm dem Fisch vorzieht und das rüpelhafte Proletariat über die bürgerliche Intelligenz verherrlicht, die doch, welche Fehler sie auch immer haben, das Leben lebenswert machen und sicherlich den Keim allen menschlichen Fortschritts tragen?“ In "Laisser-faire and Communism" schlussfolgerte Keynes: „Ich für meinen Teil bin der Ansicht, dass ein klug geleiteter Kapitalismus die wirtschaftlichen Aufgaben wahrscheinlich besser erfüllen wird als irgendein anderes, vorläufig in Sicht befindliches System“, während der Sozialismus „in Wirklichkeit nicht viel mehr ist als das verstaubte Überbleibsel eines Planes, der auf die Lösung der Probleme von vor fünfzig Jahren zugeschnitten war und sich auf einem Missverständnis dessen aufbaut, was jemand vor hundert Jahren gesagt hatte.“ Jetzt, da wir uns Marx200 nähern, zeigen die Fakten, dass das Gegenteil stimmt. Marx' Vorstellungen waren näher an der Wahrheit.

Zum Weiterlesen:
Paul Mattick Snr, Marx and Keynes: the limits of the mixed economy, Horizon Books, Boston, 1969
Geoff Pilling, The crisis of Keynesian economics; a Marxist view, Croom Helm, London, 1987
John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, Macmillan, Cambridge, 1936