Westlicher und heterodoxer Marxismus

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit Che Guevara  in Kuba, 1960
Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit Che Guevara in Kuba, 1960 Foto: Alberto Korda Public Domain

Bereits in der Periode, in welcher der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution theoretisch verarbeitet wurden, liegt der Ursprung desjenigen Strangs der Marx-Diskussion, der später als „Westlicher Marxismus“ bezeichnet wurde. Er entstand zum Teil in kritischer Auseinandersetzung zur beginnenden „Verstaatlichung“ des Marxismus und zum „Marxismus-Leninismus“ in der Sowjetunion. In diesen Debatten wurde aber auch auf eine allgemeine „Krise des Marxismus“ reagiert, die unter anderem durch das Scheitern der Zweiten Internationale und der Novemberrevolution in Deutschland ausgelöst worden war.

Ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zum „Klassischen Marxismus“, liegt im Status der Theorien und Debatten. Während in der vorherigen Periode Theorie und politische Praxis noch enger verbunden waren, löst sich diese Bindung im Westlichen und heterodoxen Marxismus. Waren zuvor die führenden TheoretikerInnen bis einschließlich des Austromarxismus meist auch einflussreiche politische Akteure (neben Marx und Engels selbst u.a. Karl Kautsky, Karl Liebknecht, Georgi Plechanow, Antonio Labriola, Rosa Luxemburg oder Otto Bauer – um nur die bekanntesten zu nennen), kennzeichnet den „Westlichen Marxismus“ eine eher akademische und von der Philosophie beeinflusste Diskussion.

Auf theoretischer Ebene wandte sich der Westliche Marxismus zudem neuen Problemen und Fragen zu. Kreiste der „Klassische Marxismus“ vor allem um den Widerspruch von Arbeit und Kapital, den Klassenkampf und um Fragen der Organisierung und des politischen Kampfes, werden im „Westlichen Marxismus“ mehr und mehr Fragen der Erkenntnis, des Bewusstseins und der Subjektivität gestellt, auch die (Alltags-)Kultur, die Kunst und die Ästhetik werden dabei stärker einbezogen.

Der „Westliche Marxismus“ geht überdies auf kritische Distanz zu den emphatischen Erwartungen, die der „Klassischen Marxismus“ noch mit den gesellschaftlichen Widersprüchen und mit ihrer geschichtlichen Entwicklung sowie mit dem Klassenkampf und dessen politische Organisationsformen verband. Dieser kritische Abstand ist nicht zuletzt der Entwicklung in der Sowjetunion und dem Stalinismus geschuldet. Der dogmatischen Schließung der Marx’schen Texte in einer „marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ wird eine eher fragende Haltung entgegengesetzt, die in Marx‘ Texten bestimmte Problemstellungen sieht und sie zudem für andere philosophische und theoretische Einflüsse öffnen will.

Vor allem in der Nachkriegszeit kommt es zudem zu einer Abgrenzung von den Schriften Engels und Lenin, die mit einem Rückgriff auf Marx‘ humanistisch geprägte frühere Schriften einhergeht. Überhaupt war besonders in den beiden Jahrzehnten der Nachkriegszeit die Suche nach einem „humanistischen Marx“ ein Kennzeichen der verschiedenen Strömungen des „Westlichen und heterodoxen Marxismus“.

An den Beginn des „Westlichen Marxismus“ werden meist der junge Georg Lukács und seine Essaysammlung „Geschichte und Klassenbewusstsein“ sowie Karl Korschs „Marxismus und Philosophie“ gestellt. Beide Werke erschienen 1923. Ein ähnlicher „Grenzgänger“ zwischen dem „klassischen“ und dem „Westlichen Marxismus“ ist Antonio Gramsci. Als weitere Protagonisten gelten u.A. Galvano Della Volpe, Ernst Bloch, Jean-Paul Sartre, Henri Lefebvre sowie, mit Einschränkungen, die Autoren der Kritischen Theorie. Das Ende der Epoche des Westlichen Marxismus und der Beginn der „neuen Marx-Aneignung der 1960er Jahre“ wird oft an den Schriften von Louis Althusser festgemacht.

Allerdings legt der Begriff „Westlicher Marxismus“ eine räumliche Ein- und Abgrenzung nahe. Um die kritischen und heterodoxen Marx-Aneignungen in den Ländern des Realsozialismus nicht zu unterschlagen, also gleichsam den „Marxismus des Ostens“, wird der „Westliche Marxismus“ hier um den „heterodoxen Marxismus“ ergänzt.

Da das „Westliche“ ohnehin nicht rein geographisch gemeint sein kann, sondern eher auf eine inhaltliche Abgrenzung gegenüber der dogmatischen Schließung der marxistischen Theoriebildung in den realsozialistischen Ländern zielt, aber auch im westlichen „Marxismus-Leninismus“, werden unter dem Titel „Westlicher und heterodoxer Marxismus“ auch die Marx-Diskussionen des globalen Südens aufgeführt; dazu gehören auch die später so genannten Schwellenländer. Diese Diskussionen waren zwar sowohl vom „Marxismus-Leninismus“ des Ostens als auch vom „Westlichen und heterodoxen Marxismus“ beeinflusst. Es entstand aber auch eine eigenständige Debatte, die von der kolonialen Geschichte, den Kämpfen gegen Kolonialismus und Imperialismus sowie von der Politik der nationalen Befreiung beeinflusst war. Sie beeinflussten wiederum in den 1970er und 1980er Jahren Strömungen wie die Post-Colonial Studies und die Subaltern Studies.

Der „Westliche und heterodoxe Marxismus“ lässt sich einerseits nicht, wie zuvor der „Klassische Marxismus“, in Generationen unterteilen. Andererseits ist er aber auch noch nicht derart stark pluralisiert und fragmentiert, wie das dann im Zuge der „Marx-Aneignung seit den 1960er Jahren“ der Fall wurde. Der Westliche und heterodoxe Marxismuslässt sich am ehesten an bestimmten Personen festmachen sowie, der damaligen Aufteilung der Welt entsprechend und trotz aller Überlagerung, den Debatten in den drei genannten Weltregionen zuordnen: Marx im Westen, im Osten und im globalen Süden.

Weiterführende Einführungen zum Thema finden sich unter anderem in Perry Andersons Considerations on Western Marxism aus dem Jahr 1976, das auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Eine Kritik dieses Versuchs, die marxistische Theorie zu historisieren, hat Wolfgang Fritz Haug vorgelegt. 2016 ist im Schmetterling-Verlag die Einführung Westlicher Marxismus von Diethard Behrens und Kornelia Hafner erschienen. Eine grobe Übersicht über zentrale Lesarten der Marx’schen Theorie bietet auch Ingo Elbes Text Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen.

Kritische Theorie (ab 1920er Jahre)

Die Kritische Theorie, auch Frankfurter Schule genannt, entstand bereits in den 1920er Jahren und etablierte sich, als Max Horkheimer 1931 das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main übernahm.

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Heterodoxer Marxismus in den USA, Kanada und Australien

Die heterodoxe Marx-Diskussion in den USA entstand wie der „Westliche Marxismus“ in Abgrenzung zum dogmatischen „Marxismus-Leninismus“ und setzte ihm eine im weitesten Sinne humanistische und philosophische Lesart der Marx‘schen Texte entgegen.

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Jugoslawien und die Praxisgruppe (1960-1975 / ab 1981)

In Jugoslawien suchte die so genannte Praxisgruppe in den 1960er und 70er Jahren dem Stalinismus und dem „Marxismus-Leninismus“ einen humanistischen Marx entgegenzusetzen. Sie war, wie ähnliche Strömungen im Westen, vor allem an Marx‘ Frühschriften sowie allgemein an der Philosophie orientiert.

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Japan und Südkorea (ab 1920)

In Japan gab es ähnlich wie in Deutschland bereits in den 20er Jahren intensive Debatten, sowohl innermarxistisch als auch zwischen Marxisten und bürgerlichen Ökonomen. So gab es bereits in den 1920er Jahren in Japan erste werttheoretische Debatten.

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Die Marx-Diskussion des globalen Südens

Die geographische Bezeichnung „Süden“ soll diejenige Debatten und Theorien im Anschluss an Marx zusammenfassen, die ihren Ursprungsort weder in Westeuropa oder Nordamerika noch in der Sowjetunion und den realsozialistischen Staaten Osteuropas hatten. Gleichwohl wurde der Marxismus im globalen Süden natürlich auch von diesen beiden großen Lagern beeinflusst. So bezogen sich die sozialistischen Befreiungsbewegungen im globalen Süden vor allem auf die Sowjetunion, während die akademische Debatte stärker an den Marx-Debatten des Westens orientiert war.

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