Bewegung versus Avantgarde?

Mythologie der linken Debatten über die Russische Revolution 1917

Die linken Debatten zur Russischen Revolution folgen seit Jahrzehnten zwei konkurrierenden Paradigmen.

Das erste betont vor allem die schwierigen Bedingungen, mit denen die sozialistischen Experimente konfrontiert wurden. Die Politik der Bolschewiki wird in erster Linie als Reaktion auf den widrigen Bedingungen, auf die Rückständigkeit des Russischen Reiches, die feindliche Umgebung und die durch den Krieg überlastete Infrastruktur gesehen. Das zweite Paradigma misstraut diesem Narrativ als eine indirekte Entschuldigung der diktatorischen Maßnahmen der Bolschewiki und betont demgegenüber vor allem den Kampf zwischen der bolschewistischen Partei als selbst ernannte Avantgarde und der Bewegung „von unten“. Das erste Paradigma sieht in der industriellen Unterentwicklung Russlands ein grundlegendes Problem für den Sozialismus, das zweite interpretiert sie als einen Hinweis auf die Intensität des Widerstandes gegen die kapitalistische Modernisierung. Das erste Paradigma beerbt die russischen MarxistInnen, also Bolschewiki und Menschewiki, das zweite die Narodniki („Volkstümler“) und ihre Nachfolger, die Sozialrevolutionäre. Das erste Paradigma findet ihre Anhänger vor allem unter den LinkssozialistInnen, TrotzkistInnen und verbliebenen Anhängern der ehemaligen prosowjetischen Parteien; das zweite wird vor allem von AnarchistInnen, einige RätekommunistInnen und OperaistInnen geteilt und war in der 1960er Jahren für die ganze „antiautoritäre Linke“ prägend.

Aus: PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 187, 47. Jg. 2017, Nr. 2, 325 – 336

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