Nicht nach Schema F

Die Diskussionen zu den Revolutionen des Jahres 1917 in Russland in der deutschen Sozialdemokratie drehten sich sehr schnell um die Frage, ob denn die Situation überhaupt „reif“ für eine sozialistische Revolution sei, ob ein solcher Schritt nach dem Marx-Verständnis der II. Internationale überhaupt „erlaubt“ sei. Luxemburg tritt schon weit vor der Abfassung ihres Manuskripts „Zur russischen Revolution“ in diese Debatte ein und verteidigt die Bolschewiki, indem sie sie gleichzeitig kritisiert; ein Meisterstück von Kritik in marxscher Tradition.

Generell ist diese Auseinandersetzung bis heute interessant, blickt man auf Kurdistan oder auf die ZapatistInnen.

Sie schreibt im Januar 1918:

„Es geht in Rußland entschieden nicht nach Schema F. Kautsky, der Theoretiker, vermißt in der Berufsstatistik Rußlands, das ein vorwiegend agrarisches Land ist, den Nachweis für seine ökonomische Reife zur sozialen Revolution. Er vergißt, daß nach der Berufsstatistik sowohl die große Revolution in Frankreich wie die Märzrevolution in Deutschland gar nicht hätte stattfinden dürfen.

Was ist’s also mit der Statistik und mit dem historischen Materialismus? In Deutschland, wo nach der Statistik das volle Reifeattest für die proletarische Machtergreifung vorliegt, erlebt ein mittelalterlicher Halbabsolutismus die schönsten Tage. In Rußland, das nach der Statistik ökonomisch und sozial rückständig ist, hat das städtische Proletariat, gestützt auf das Bauerntum, bereits das Staatsruder ergriffen.

Der große Theoretiker des Sumpfes und alle, so mit ihm voller Wohlwollen, aber zugleich voller Pessimismus im Herzen auf den Umsturz in Rußland blicken, hätten vielleicht recht, wenn Rußland auf dem Monde wäre. Rußland ist aber wirtschaftlich wie politisch nur ein Teil Europas. In der blauen Luft der Abstraktion lieben es die marxistischen Theoretiker vom Schlage Kautskys über die Weltwirtschaft, die internationale Entwicklung und ihre Zusammenhänge zu spintisieren. Sobald sie jedoch auf der flachen Erde mit der Nase auf diese Zusammenhänge gestoßen werden, fallen sie unversehens in rein bürgerliche Denkweise zurück: Die Staatsgrenze bildet für sie auch die Grenze sozialer Kräfte und Wirkungen. Rußland tritt für sich als isolierte Welt auf, Deutschland für sich usw.“

aus: Spartacus, Nr. 8, Januar 1918. Wiederveröffentlicht in: Spartakusbriefe (Neudruck), hrsg. von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), Berlin 1920, S. 153-156; Spartakusbriefe, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1958, S. 414-417, ungez.

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