Abendroth digital

„Wahrscheinlich hörst Du da auch eine meiner 60 Gauloises von damals“, sagt Thomas Händel und lacht. Händel ist Europaabgeordneter der LINKEN und im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Fast vier Jahrzehnte lang lagen bei ihm zu Hause, im Arbeitszimmer, zwölf Kassetten in der Schublade. „‘Pfoten weg‘ stand da drauf,“ so Händel. Etliche Male ist er mit dem Tonmaterial umgezogen. Der gewichtige Inhalt: Vorlesungen von Abendroth, entstanden 1978 -79 an der Akademie der Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Frankfurt am Main.

Händel selbst war damals zunächst Student – später dann Assistent für die Lehrveranstaltungen von Abendroth – an der liebevoll genannten „Ada“. Zu jeder Abendroth-Vorlesung trug er seinen Kassettenrecorder mit in den Hörsaal, zeichnete alles auf: „Wir waren überzeugt, dass diese geschichtsträchtigen Lesungen von Abendroth der Nachwelt erhalten bleiben müssen.“ Jetzt hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit dem Offizin-Verlag die Tonbänder digitalisiert und ins Internet gestellt. Nicht nur Abendroth ist da zu hören, sondern auch, unaufhörlich, das Husten und Schneuzen von 44 aufmerksamen StudentInnen. „Ein Raummikro, das ging nicht besser“, erklärt Händel die Hintergrundgeräusche, und: „Wir haben damals viel geraucht“.

Dem Material tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Authentisch, so könnte man sagen, wirken die Vorlesungen von Abendroth, der ohne Pause erzählt, druckreif, man hört, was Frank Deppe schreibt: „Dass Abendroth eine Persönlichkeit mit außerordentlicher Ausstrahlungskraft war…ein großartiger Redner, dessen Vorlesungen meist überfüllt waren“.

Abendroth, seinerzeit von der konservativen Presse zum „Übervater“ der 68er-Bewegung stilisiert, war nach seiner Emeritierung 1972 zehn Jahre lang Lehrer für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der Akademie der Arbeit. Er prägte eine ganze Generation junger GewerkschafterInnen. Zentral war für den Marxisten Abendroth immer die gründliche Untersuchung gesellschaftlicher und politischer Kräfteverhältnisse, dazu gehörten  – für einen Staatsrechtler selbstverständlich – nicht nur historische, sondern auch juristische Analysen. Die Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung sollte nicht abstrakt bleiben, so beschreibt Deppe die Haltung Abendroths. Tut sie das, schrumpft sie „zur bloßen Ideologiekritik, die deshalb auch keine Verbindung mehr zur Praxis der sozialen und politischen Auseinandersetzungen in der konkreten historischen Situation herzustellen vermag“.

Vor diesem Hintergrund sind die digitalisierten Aufnahmen eine Hörlektüre, die zum Denken über das Verhältnis von Theorie und Praxis, über die Analyse im Handgemenge, auffordert. Man kann Abendroth zu ganz unterschiedlichen Facetten der Geschichte der Arbeiterbewegung sprechen hören, zum Beispiel über die politische Strategie von Marx und Engels um 1848, anhand derer Abendroth zeigen möchte, dass wirksame emanzipatorische Arbeiterorganisationen nicht durch Abspaltungen entstehen, sondern durch langfristig angelegte Klassenkämpfe. Er spricht über die Geburt des Kommunismus, über die Niederlage der französischen Linken 1848 oder über die blinden Flecken von Bürokratie und ökonomischer Wissenschaft, wo er erläutert, wie wichtig es ist, sich mit der Sozialisation und den Strukturen in Verwaltungen zu beschäftigen, als Voraussetzung zur Veränderung des Staatsapparats.

Als Abendroth zu Beginn der 1980er Jahre an der Akademie der Arbeit lehren sollte, war das Kuratorium der Gewerkschaftsschule nicht begeistert. „Er war nicht gut gelitten“, erinnert sich Händel, „Abendroth hat auch Gewerkschaften immer gegen den Strich gebürstet“. Aber die StudentInnen wollten ihn unbedingt haben. Es kam zum Studienstreik, erfolgreich. Noch ein Kampf, der sich gelohnt hat.    

Links:
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WASG Stiftungsgesellschaft
Europäische Akademie der Arbeit