Der Karl Dietz Verlag Berlin ist seit geraumer Zeit darum bemüht, Widersprüchlichkeiten aufzuarbeiten, die die Entwicklung der linken Bewegungen im 20. Jahrhundert bestimmten. Es geht um Bewegungen und Persönlichkeiten, die in den verschiedenen Phasen dieses „Jahrhunderts der Extreme“ zwischen die Mühlsteine der Sozialdemokratie auf der einen und der bolschewistisch-kommunistischen Strömung auf der anderen Seite gerieten.
Vor diesem Hintergrund dokumentierte der Verlag in den vergangenen Jahren bisher weniger oder nicht bekannte Schriften von Rosa Luxemburg und Paul Levi, Debatten aus den linken russischen nichtbolschewistischen Strömungen 1917 und aus den Diskussionen um das Verhältnis zu den russischen Revolutionen 1917 in der linken deutschen Sozialdemokratie. Nun also ist ein Band über „Anarchismus und russische Revolution“ erschienen, für den der Herausgeber Phillipe Kellermann einen illustren Kreis von Autoren aus Russland, Italien, den USA, der Schweiz und Deutschland hat gewinnen können. Es kommen so unterschiedliche Sichten auf die Entwicklung der anarchistischen Bewegungen und die in ihnen vertretenen Auffassungen zu Wort.
LeserInnen, die einen generellen Überblick über die Reaktionen und Aktionen der vielen Strömungen der anarchistischen Bewegung im Zuge der Revolutionen 1917 bis 1918 erhalten wollen, sei der Beitrag von Dimitri Rublew „Die politischen Positionen der Anarchisten in der russischen Revolution 1917-1918“ empfohlen. Zur Geschichte und zu den Konzepten des Anarchismus liegt bereits eine durchaus umfangreiche Literatur vor. Trotzdem gelingt es Rublew aus den anarchistischen Bewegungen selbst ein so noch nicht gesehenes Bild der Vielfalt, der Motive und der Aktionen anarchistischer Akteure zu zeichnen. Dabei vermeidet er in einer der Komplexität des Problems angemessenen Weise jede Parteinahme, indem er die unterschiedlichen Bewegungen als eine Suche nach richtigen Wegen der Emanzipation, das heißt als eine Suche beschreibt, die zwangsläufig auch Fehler einschloss und immer einschließen wird. Soweit man der russischen Sprache mächtig ist, sollte LeserIn bei der Lektüre die 1998 bei ROSSPEN erschienene zweibändige Dokumentation „Anarchisten. Dokumente und Materialien 1883-1935“ (Autor V.V. Krivenkij) zur Hand nehmen, auf die sich Rublew auch bezieht.
Weitere Beiträge befassen sich zuvorderst mit den Wirkungen einzelner Strömungen und Persönlichkeiten in den revolutionären Prozessen auf die anarchistischen Bewegungen in Westeuropa. Sie vermögen es, Brücken in die Gegenwart zu schlagen. Wenn Alexander Schubin die gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Machno-Bewegung analysiert, beschreibt er zugleich die Vision einer könföderalen Ordnung, wie sie z.B. in den gegenwärtigen kurdischen Kämpfen unter strukturell durchaus ähnlichen Bedingungen beständigen Krieges vertreten wird. Er verschweigt dabei auch nicht Probleme der praktischen Realisierung derartiger Projekte. Insofern fängt er die Widersprüchlichkeit besser ein, als das etwa Peter A. Arschinoff in seiner sehr zu empfehlenden, erstmals 1923 erschienenen Geschichte der Machno-Bewegung tat. Lutz Häfner widmet sich einem Thema, das die LeserInnen in diesem Zusammenhang vielleicht nicht unbedingt erwarten würden: der Rolle des Anarchismus in den und für die Parteien der Sozialisten-Revolutionäre (so korrekter als die oft gebrauchte Übersetzung Sozialrevolutionäre). Auch hier spielten Differenzierungen und Spaltungen eine große Rolle bzw. wurden –positiv ausgedrückt – auf der Suche nach dem „richtigen“ Weg unterschiedliche Wege verfolgt. Der Autor betrachtet in diesem Zusammenhang die Positionen wesentlicher VertreterInnen der Sozialisten-Revolutionäre wie Maria Spiridonowa und Viktor Tschernow, die Entwicklung ihrer Positionen zur „revolutionären Gewalt“, zu Krieg und Frieden und zu den bolschewistischen Vorstellungen einer „Diktatur des Proletariats“. Er verweist auf die Tradition der Narodniki/Volkstümler als Kontinuität in den linken russischen Bewegungen auch in den Jahren 1917/1918. Das beschreibt er mit dem Begriff des „Neopopulismus“ – was leider den Bezug auf die Volkstümler (auch wenn das eine ebenso unglückliche Übertragung aus dem Russischen ist) ein wenig verdeckt. Für heutige Diskussionen erscheint vor allem sein Abschnitt über den „radikalen Neopopulismus als säkulare Religion“ interessant. Denn er verweist auf eines der zentralen Probleme 1917/1918, nämlich unter welchen Umständen ein gemeinsames emanzipatorisch-revolutionäres Handeln in einem zerrütteten Bauernland möglich wird.
Die Auseinandersetzungen innerhalb des Anarchismus untersucht Mitchell Abidor an Hand der Diskussionen um die Positionen Victor Serges zur Oktoberrevolution und den folgenden Ereignissen. Serge versuchte lange, durch die Kritik beider Richtungen zwischen Bolschewismus und Anarchismus zu vermitteln. Die Niederschlagung des Aufstandes der Matrosen in Kronstadt 1921 zementierte jedoch die Brüche in und zwischen allen linken Strömungen und hatte jegliche Vermittlung unmöglich gemacht. Dieser Beitrag führt noch einmal besonders deutlich vor Augen, wie aus dem Dilemma der russischen Revolutionen die bis heute andauernde Sprachlosigkeit zwischen verschiedenen linken Strömungen entstand.
Die folgenden Beiträge des Bandes von Reiner Tosstorff, Franco Bertolucci, Martin Baxmeyer, Werner Portmann und Philippe Kellermann bieten den LeserInnen ein umfassendes Kompendium der Geschichte des Anarchismus in Westeuropa unter dem Blickwinkel der Revolutionen in Russland 1917. Sie vertiefen die von Abidor angerissene Problematik. Es lässt sich gut verfolgen, wie die Ereignisse in Russland und das Handeln der Bolschewiki auf die anarchistischen Bewegungen wirkten. Die Krise der linken Bewegungen, mit der wir heute konfrontiert sind, hatte in dieser Zeit tatsächlich ihre Wurzeln. Rosa Luxemburgs Feststellung (die nun beileibe keine Anarchistin war) aus ihrem Manuskript „Zur russischen Revolution“ bestätigt sich, insofern das Versagen der deutschen Sozialdemokratie 1914 (und 1918) der Ausgangspunkt der Dilemmata der Oktoberrevolution sei und dass die von den Bolschewiki gefundenen Lösungen nicht tragfähig, sondern gefährlich für die linke Bewegung wären. In gewisser Weise unterstützen die in den angeführten Beiträgen entwickelten Gedanken vor allem den strikt internationalistischen Kern der luxemburgschen Kritik.
Philippe Kellermann ist es in seinem Buch durch die Kombination der Beiträge gelungen, einem scheinbar nur für HistorikerInnen und vielleicht noch anarchistische AktivistInnen interessantem Thema eine bestechende Aktualität zu verleihen. Wenn man Bücher nicht liest, um vorgefasste Meinungen bestätigt zu bekommen, stellt sich nach der Gesamtlektüre die Frage nach dem Gemeinsamen einer Linken im 21. Jahrhundert und nach der Fähigkeit, dieses Gemeinsame zu finden. 1917/1918 war sie dazu nicht in der Lage; und auch wenn die Hauptverantwortung dafür die Bolschewiki tragen mögen, so zeigen die Beiträge durchweg, dass auch AnarchistInnen – oder die verschiedenen Anarchismen – dazu nicht in der Lage waren. Die Niederlagen des 20. Jahrhunderts sind gemeinsame Niederlagen. Die Publikation könnte ein Ausgangspunkt sein, sich der Geschichte des Problems, aus denen die Spaltungen resultierten, zu vergegenwärtigen und sich darüber klar zu werden, wie diese Spaltungen in der Vergangenheit kultiviert wurden. Solange sich wechselnde Verhältnisse vor diesem Hintergrund immer wieder nur als Bestätigung der eigenen Position interpretiert werden ist der Weg zu dem, was die kommunistische, die anarchistische und andere linke Bewegungen einigen sollte – dem Ziel der menschlichen Emanzipation verbaut.