Bericht zur Tagung „Marx in Hessen“

Alex Demirović

Die Tagung „Marx in Hessen“ fand vom 21. – 22. April 2018 an der Goethe Universität Frankfurt/Main statt. Sie wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen anlässlich des 200. Geburtstags von Karl Marx in Kooperation mit Prof. Dr. Bernd Belina und Apl. Prof. Dr. Alex Demirović von der Goethe-Universität, der GEW, der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der Redaktion des „express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ und der Redaktion der „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“ veranstaltet. Mit mehr als 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war die Tagung gut besucht. Das Publikum war bunt gemischt, etwa ein Drittel der Teilnehmenden war jünger als 35 Jahre. Der Titel „Marx in Hessen“ erklärt sich dadurch, dass die Veranstalter sich das Ziel setzten, nicht nur über die Marxsche Theorie zu diskutieren, sondern auch über ihre Rezeption und Weiterentwicklung in Hessen, für die unter anderem die Kritische Theorie der „Frankfurter Schule“ und die „Marburger Schule“ um Wolfgang Abendroth stehen. Die Praxis der marxistischen Theorie wurde weiter auch durch die Präsenz von Institutionen wie dem Sozialistischen Büro oder dem Institut für Marxistische Studien und Forschungen geprägt.

Frank Deppe stellte in seinem Einleitungsreferat das Verhältnis von Theorie und Praxis ins Zentrum und spannte einen weiten Bogen von den Frühsozialisten über den Einfluss von Kommunisten und Sozialdemokraten auf die hessische Verfassung bis zur Gegenwart. Joachim Hirsch konzentrierte sich in seinem Beitrag ebenfalls auf das Verhältnis von Theorie und Praxis und verwies dabei auf die Differenzen zwischen den verschiedenen Marxismen, die teils mehr auf die Beeinflussung von Partei- und Gewerkschaftsapparaten, teils mehr auf soziale Bewegungen setzten. Inwieweit Differenzen, die in den 1970er Jahren zu erbitterten Grabenkämpfen innerhalb der Linken führten, heute noch eine Rolle spielten, wurde durchaus kontrovers diskutiert. In dem anschließenden Panel über „Umstrittene Interpretationen der Marxschen Theorie und ihre politischen Implikationen“ wurden jedenfalls viele Gemeinsamkeiten zwischen Nadja Rakowitz und David Salomon deutlich, auch wenn die eine in „Frankfurter Tradition“ vor allem die erkenntniskritische und ideologiekritische Bedeutung der Marxschen Wertformanalyse betonte, während der andere in „Marburger Tradition“ für den Kampf um Verfassungspositionen warb.

In dem Panel über „Raum und Politik“ ging Jens Wissel über die Marxsche Theorie der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem „sozusagen idealen Durchschnitt“ hinaus und thematisierte historische Veränderungen der kapitalistischen Entwicklung vom Fordismus bis zu den Folgen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Bernd Belina stellte eine räumliche Analyse der Wahlergebnisse der AfD vor und machte dabei deutlich, dass die Ergebnisse je nach der gewählten Maßstabsebene sich sehr unterschiedlich darstellen. Klar wurde jedoch, dass die AfD in ländlichen Gebieten überdurchschnittlich hohe Gebiete erzielt, während die Partei DIE LINKE in Großstädten ihre Hochburgen hat. Wie diese Ergebnisse mit der Klassenstruktur und anderen sozialen Verhältnissen korrelieren, wird Gegenstand weiterer Untersuchungen von Bernd Belina sein. Janine Wissler, die Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Hessischen Landtag, stellte daran anknüpfend die gegenwärtigen Herausforderungen linker Politik dar.

Thomas Sablowski und Jörg Goldberg diskutierten, wie an die Marxsche Theorie für eine Analyse der Internationalisierung des Kapitals, der ungleichen Entwicklung und der nachholenden kapitalistischen Entwicklung im globalen Süden anzuknüpfen wäre. Sablowski streifte, ausgehend von Marx „Sechs-Bücher-Plan“ und seinen Bemerkungen über den Weltmarkt, die klassischen Imperialismustheorien, die Dependenz- und Weltsystemtheorie, die bundesdeutsche Weltmarktdebatte der 1970er und frühen 1980er Jahre und die Globalisierungsdiskussion der 1990er Jahre und kam dabei zu dem Ergebnis, dass all diese Ansätze erneut kritisch durchgearbeitet werden müssten, um zu einer kritischen Theorie der Internationalisierung des Kapitals und der ungleichen Entwicklung zu gelangen. Jörg Goldberg plädierte dafür, die Marxsche Methode auf China und die anderen neuen Kapitalismen im „Globalen Süden“ anzuwenden, um dabei zu untersuchen, wie traditionelle soziale Verhältnisse kapitalistisch umgeformt werden, ohne gänzlich zu verschwinden. Goldbergs These war, dass die Analyse dieser Kapitalismen auch unser eurozentrisch geprägtes Bild, was der Kapitalismus „im Durchschnitt“ sei, verändern würde.

Auf dem Panel zu „Postkoloniale Konstellation und imperiale Lebensweise“ stellten Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Universität Gießen), Ulrich Brand (Universität Wien) und Stefan Gandler (UNAM Mexiko) ihre Überlegungen vor. Einig waren sich die Vortragenden, dass die Lage der Länder des globalen Südens von den Bedingungen bestimmt sei, die durch eine lange Geschichte der Ausbeutung erzeugt wurde. Es wurden jedoch deutlich verschiedene Akzente gesetzt. Für Encarnación Gutiérrez Rodríguez stand im Zentrum ihrer Überlegung die Frage des Rassismus. Der Kapitalismus sollte entsprechend als ein rassifiziertes Verhältnis verstanden werden, da er sich ohne diese grundlegende Abwertung und Einsetzung von Menschen nicht hätte bilden und reproduzieren können. Uli Brand stellte Überlegungen zur imperialen Lebensweise dar. Dabei geht es darum, dass die Länder des globalen Südens seit Jahrhunderten weitgehend instrumentell als Lieferanten von Rohstoffen und Menschen angesehen werden. Der Extraktivismus ist nicht nur in jenen Regionen des Südens zerstörerisch, sondern mit dem enormen Ressourcenverbrauch auch in den kapitalistischen Zentren. Stephan Gandler stellte Thesen zur Verdinglichung im alltäglichen Leben Mexikos vor.

Den zweiten Tag der Tagung eröffnete Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall mit einer Weiterführung seiner Überlegungen zur „Mosaiklinken“. Ihm ging es dabei vor allem um die Frage, inwieweit die gegenwärtige Schwäche und Fragmentierung emanzipatorischer Kräfte selbstverschuldet ist. Dabei nahm sich Urban die Gewerkschaften, die akademische Linke und die sozialen Bewegungen vor und entwickelte auch einige Vorschläge, wie deren Verhältnis zueinander konstruktiver zu gestalten wäre. Alex Demirović nahm die Neuerscheinung der Manuskripte zur „Deutschen Ideologie“ im Rahmen der Marx-Engels-Gesamtausgabe zum Anlass, um einen weiten Bogen von den historischen Verbindungen zwischen dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und den Herausgebern der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe, die durch den Stalinismus zerstört wurden, bis zu den heutigen marxistischen Diskussionen zu spannen. Dabei warb er darum, das Projekt einer integralen kritischen Gesellschaftstheorie, wie sie sowohl Marx und Engels als auch Max Horkheimer vorschwebte, fortzusetzen. Er plädierte für ein Verständnis von Intellektuellen als Transformationsintellektuellen, die aktiv Theorie und Praxis miteinander verbinden. Dies geschieht in historisch sehr spezifischen Konstellationen. Anders als zu Zeiten der „Marburger“ und der „Frankfurter Schule“ fänden sich diese Intellektuellen nicht mehr an den Hochschulen. Sie hätten auch eine Funktion, die verschiedene Teile der Linken miteinander zu verbinden.

Das Abschlusspanel war jüngeren Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen vorbehalten, die auf ganz unterschiedliche Weise die aktuellen Herausforderungen einer an Marx orientierten Theorie und Praxis thematisierten. Bettina Gutperl vom Studierendenverband DIE LINKE/SDS beschrieb die Kämpfe der Studierenden angesichts der durch die Bologna-Reformen veränderten Studienbedingungen. Anne Tittor betonte die Relevanz von der Marxschen Theorie entlehnten Konzepten wie dem der fortgesetzten „ursprünglichen“ Akkumulation für eine Analyse neoliberaler Politiken, namentlich in den Ländern des „Globalen Südens“. Felix Wiegand stellte die Bedeutung von Auseinandersetzungen auf der kommunalen Ebene um Wohnraum, um das „Recht auf Stadt“ dar. Er kritisierte, dass viele prekarisierte Wissenschaftler*innen, die zwischen verschiedenen Städten pendelten, kaum in der Lage seien, als „organische Intellektuelle“ der Subalternen im Sinne Antonio Gramscis zu fungieren, weil sie schon durch ihre Lebensweise nicht ausreichend auf die lokalen Auseinandersetzungen Bezug nehmen könnten. Jenny Simon stellte ihre Erfahrungen als Teamerin von „Kapital“-Kursen dar und machte die Diskrepanz zwischen dem großen Interesse Studierender an der Marxschen Theorie und den mangelhaften Möglichkeiten, sich mit dieser an den Hochschulen auseinanderzusetzen, deutlich.