Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue erinnerte sich, dass Karl Marx sein »Kapital« mit dem unbekannten Meisterwerk in Balzacs gleichnamiger Erzählung verglich.
Ein großer Maler, so Balzac, hatte in sehr vielen Jahren das vollendete Bild seiner Geliebten schaffen wollen und zeigte es endlich anderen. Aber anstatt der vollkommenen Wirklichkeit eines jungen Mädchens sahen die Betrachter »verworren aufgetragene Linien« und eine immer wieder übermalte Leinwand. Nur in einer Ecke der Leinwand, schrieb Balzac, ragte »ein köstlicher, … ein lebendiger Fuß« heraus »wie der Torso einer Venus aus parischem Marmor, der sich mitten aus den Trümmern einer vom Feuer zerstörten Stadt erhebt«. Marx schien der erste und einzige veröffentlichte Band seines Hauptwerks ein solcher Torso zu sein.
Heute liegen dank der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe alle Manuskripte vor, die Marx im Rahmen seines politökonomischen Werks zwischen 1844 und 1878 geschrieben hat. Fast jeder Strich des Werkes kann nun nachvollzogen werden. Gibt es also irgendeinen Grund, auch heute noch auf das »Kapital« als auf ein unbekanntes Meisterwerk und von Feuer zerstörtes Trümmerfeld zu blicken? Meines Erachtens gibt es dafür sogar mehr Gründe als jemals zuvor: Marxens Werk ist der revolutionäre Geist ausgetrieben worden! Das »Kapital« wird von den meinungsprägenden Zeitungen immer dann zitiert, wenn eine neue Krise den Glauben an den Kapitalismus erschüttert. Kaum jemand kommt jedoch dabei auf die Idee, seine sozialistischen oder kommunistischen Zielstellungen ernstzunehmen. Zuletzt wieder 2008/2009. Marx erscheint als Prophet der Krise ohne jede Vision einer Alternative.
Weiter im Wochen nd, einer Sonderausgabe des nd zu "150 Jahre Das Kapital" (29. April 2017)