Der italienische Operaismus

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Die 1950er Jahre waren in Italien eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch der Schwächung der Gewerkschaftsbewegung aufgrund ihrer Aufspaltung in drei Dachverbände sowie durch das repressive Vorgehen der Unternehmensführungen in den Fabriken. Vor allem kommunistische Kader und Gewerkschaftsmitglieder innerhalb der Belegschaften wurden isoliert oder entlassen.

Sergio Bologna über die Entstehung des Operaismus. Vortrag auf der Marx-Herbstschule vom 26. Oktober 2017 im Kunsthaus Bethanien, Berlin.

Die Wende hin zu einem immer kämpferischeren Auftreten der Arbeiterschaft erfolgte 1960 mit dem großen Streik der 70.000 Arbeiter und Techniker der elektromechanischen Industrie in Mailand. Erstmals kamen im Zuge dieser Auseinandersetzung alle möglichen Kampfformen zum Einsatz. Die zentrale Forderung betraf die Verkürzung der Arbeitszeit. Die Frauen an den Fließbändern spielten dabei bereits eine bedeutende Rolle, aber die treibende Kraft der Proteste bildeten noch die Facharbeiter. Der Kampf endete im März 1961 nach sieben Monaten erfolgreich. Endlich konnte ein Sieg der Arbeiterklasse verzeichnet werden. Am 30. September desselben Jahres erschien die erste Nummer der „Quaderni Rossi“ (Rote Hefte). Aus der theoretischen Arbeit der Mitglieder dieser Zeitschrift und ihren Diskussionen entstand die politisch-kulturelle Richtung, die man als “operaismo italiano” bezeichnet.

Niemand weiß, wann und wie das Wort „Operaismus“ als Bezeichnung einer politisch-kulturellen Richtung entstanden ist. 

1. Zunächst zum Begriff selbst: Niemand weiß, wann und wie das Wort „Operaismus“ als Bezeichnung einer politisch-kulturellen Richtung entstanden ist (1). Wie lange der Operaismus gewirkt hat, darüber gibt es auch keine einhellige Meinung. Der Mann, der die Zeitschrift „Quaderni Rossi“ gründete und Mitstreiter aus Rom (Tronti, Asor Rosa, Di Leo, Coldagelli, De Caro), aus Padua/Venedig (Negri, Ferrari Bravo, Bianchini), aus Florenz (Greppi, Berti), aus Mailand (Gasparotto, Bologna, Beccalli), aus Genua (Faina) und vor allem aus Turin (Rieser, Lanzardo Dario und Liliana, Mottura, Soave, Alquati, Gobbi) um sich sammelte, war Raniero Panzieri, der sich nie als „Operaist“ verstanden hat. Das erste Heft der „Quaderni Rossi“ wurde noch zusammen mit der Gewerkschaftsführung der Turiner CGIL vorbereitet. Als die „Quaderni Rossi“ allerdings begannen, eigene Flugblätter vor den Fabriktoren zu verteilen, distanzierte sich der Gewerkschaftsapparat.

2. Mario Tronti ist die wichtigste Figur der theoretischen Ausarbeitung des Operaismus. Die zweite Nummer der „Quaderni Rossi“ enthielt seinen Leitartikel „Die Fabrik und die Gesellschaft“ und eröffnete die Ära des Operaismus. Der Aufsatz beginnt mit einem Zitat aus dem dritten Abschnitt des ersten Bandes des „Kapital“:

Betrachten wir den Produktionsprozess unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsprozesses, so verhielt sich der Arbeiter zu den Produktionsmitteln nicht als Kapital, sondern als bloßem Mittel und Material seiner zweckmässigen produktiven Tätigkeit … Anders, sobald wir den Produktionsprozess unter dem Gesichtspunkt des Verwertungsprozesses betrachteten. Die Produktionsmittel verwandelten sich sofort in Mittel zur Einsaugung fremder Arbeit. Es ist nicht mehr der Arbeiter, der die Produktionsmittel anwendet, sondern es sind die Produktionsmittel, die den Arbeiter anwenden. Statt von ihm als stoffliche Elemente seiner produktiven Tätigkeit verzehrt zu werden, verzehren sie ihn als Ferment ihres eigenen Lebensprozesses, und der Lebensprozess des Kapitals besteht nur in seiner Bewegung als sich selbst verwertender Wert (MEW 23, S. 328-329).

Tronti zitiert nicht wörtlich, er fasst Marx zusammen, nur den Satz „Es ist nicht mehr der Arbeiter, der die Produktionsmittel anwendet, sondern es sind die Produktionsmittel, die den Arbeiter anwenden“ zitiert er wörtlich nach der italienischen Übersetzung der klassischen Ausgabe von Edizioni Rinascita, 1956, in 8 Bänden (Il Capitale, I volume, S. 339).

Man kann sagen, dass dieser Aufsatz die Geburtsstunde des Operaismus ist. Wir schreiben das Jahr 1962. Im selben Heft scheint unter den Redaktionsmitgliedern das erste Mal der Name Antonio Negri auf. Welchen Schluss zieht nun Tronti aus dem zitierten Gedanken von Marx? Dass sich die Herrschaft des Kapitals durch die Arbeitskraft im Verwertungsprozess verwirklicht, also viel stärker in der Organisation der Gesellschaft als im direkten Arbeits- bzw. Produktionsprozess. Daher der operaistische Begriff der „Gesellschaft-(als-)Fabrik“ (società-fabbrica), der zum Ausdruck bringen soll, dass sich die Ausbeutung der Arbeit auf das ganze soziale System der kapitalistischen Gesellschaft erstreckt und nicht auf den Produktionsprozess begrenzt bleibt.

Nach Marx ist der Lohn die Negation der Existenz eines Mehrwerts

3. Dennoch müssen wir in der Analyse auf den Produktionsprozess, auf die Fabrikarbeit zurückkommen, denn dort zeigt sich der Klassenkampf in seiner reinen elementaren Form. Tronti bringt hier die Idee des Lohns ein, nicht der Lohnarbeit, sondern des Lohns, seiner Lesart, seiner Interpretation des Lohnbegriffs bei Marx. Was ist eigentlich der Lohn? Nach der kapitalistischen Theorie ist der Lohn der Preis der Arbeit. Damit wird aber die Tatsache verschleiert, dass die Arbeit nicht nur einen Preis, sondern auch einen Wert hat, der sich in Wert und Mehrwert unterscheidet. Nach dem kapitalistischen Denken ist der Lohn die Anerkennung dafür, dass die Arbeit einen Wert hat, nach der Kritik von Marx ist der Lohn die Negation der Existenz eines Mehrwerts, der in der Arbeit, besser gesagt in der Arbeitskraft, verkörpert ist und sich mit ihrem Einsatz in der Produktion reproduziert und vermehrt. Der Lohnbegriff stellt also eine kapitalistische Mystifizierung dar. In Form des Lohns bezahlt das Kapital nur einen winzigen Teil des Werts, den die Arbeitskraft produziert, vor allem wenn wir unter „Arbeit“ nicht so sehr die konkrete, im Produktionsprozess angewandte Arbeit verstehen, sondern die „abstrakte“ Arbeit im gesellschaftlichen Verwertungsprozess, und wenn nicht vom absoluten, sondern vom relativen Mehrwert die Rede ist.

In diesem Gedankengang von Tronti findet sich die Wurzel der operaistischen Idee des Lohns als „unabhängiger Variable“, einer Idee, die während der Kampfwellen der 1970er Jahre so populär wurde und als besonders „subversiv“ wahrgenommen worden ist. Für eine politische Gruppe, die der Fabrikarbeit eine so große Bedeutung beigemessen hat, erscheint es merkwürdig, dass in ihrem theoretischen Verständnis die Ebene des Produktionsprozesses der Ebene des sozialen Verwertungsprozesses untergeordnet ist, genauso wie die Ebene der konkreten (nützlichen) Arbeit derjenigen der abstrakten (abstrakt menschlichen) Arbeit untergeordnet ist.

Nach operaistischer Lesart könnte ich behaupten, dass Marx den Begriff “Arbeit” nie benutzt hat.

4. Gestatten Sie mir, bevor ich näher auf Trontis Denkweise eingehe, eine kurze Bemerkung zum Titel Ihrer Vortragsreihe: „Der Begriff der Arbeit im Kapital“. Nach operaistischer Lesart könnte ich behaupten, dass Marx den Begriff “Arbeit” nie benutzt hat. Er spricht von Lohnarbeit oder von Arbeitskraft, d.h. von etwas ganz anderem. “Arbeit” ohne weitere Ergänzung  entstammt eher der christlichen oder der kapitalistischen Auffassung von Dasein und Gesellschaft. “Arbeit ist für uns eine Gabe Gottes!”, schrie mir einmal ein katholischer Gewerkschaftsfunktionär ins Gesicht. Der Begriff Arbeit ist bei Marx immer mit einer klaren Bezugnahme auf die Herrschaftsbeziehung im kapitalistischen Produktionsprozess verbunden. Daher der Begriff Lohnarbeit, d.h. eine Arbeit, die einen asymmetrischen, ungleichen Austausch voraussetzt, nämlich den Austausch zwischen einem psychophysischen Arbeitsvermögen und einem fixen Kapital, zwischen einer “Verausgabung menschlicher Kraft”, die Wert und Mehrwert produziert, und einer monetären Summe, die nicht dem produzierten Wert entspricht, sondern nur die physische Existenz des Arbeiters sichert.

Die Arbeit erscheint als variables Kapital und ist insofern integraler Bestandteil des Kapitals, ist vom Kapital nicht trennbar. Die Arbeitskraft (nicht die Arbeit) kann Arbeiterklasse werden, d.h. eine antagonistische Kraft, die in der Lage ist, die Herrschaftsbeziehung zum Kapital umzustürzen. Diese zwei gegensätzlichen Funktionen der Arbeitskraft, nämlich variables Kapital und antagonistische Macht zu sein, koexistieren in ihr selbst und bestimmen – nach unserer Lesart –, was Marx den Doppelcharakter der Arbeitskraft nennt. Nach der Denkweise der Operaisten kann der revolutionäre Prozess nur von einer sozialen Kraft in Gang gesetzt und weitergeführt werden, die gleichzeitig innerhalb des Kapitals und gegen das Kapital wirkt. Diese Kraft kann nur die Arbeiterklasse sein. Arbeiterklasse heißt auf Italienisch “classe operaia”, daher kommt die Bezeichnung “Operaismus”.

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(1) Das Wort „operaismo“ kommt zwar in einem Artikel von Tronti mit dem Titel „Il piano del capitale“ vor, der im Heft Nummer 3 der „Quaderni Rossi“ erschienen ist, aber mit einem völlig anderen Sinn.