Die 90er Jahre leben. In der FAZ.

Foto: Rosa-Luxemburg-Stiftung

Spätestens mit dem Untergang des Ostblocks galt Marx als erledigt. Mit der Finanzkrise ab 2007 jedoch wurde er von den bürgerlichen Medien wiederentdeckt. Marx' Porträt zierte das Handelsblatt und den Economist. Nun ist Jubiläumsjahr, das Kapital wird 150, und die Medien sehen sich genötigt, Stellung zu beziehen.

Angesichts von Krise und Armut loben ihn die meisten als Ungleichheitstheoretiker – was Marx nie gewesen ist. Die FAZ hält dagegen: „Seine zentralen Vorhersagen lagen daneben.“ Die kommunistische Wirtschaftsweise sei „überall da, wo sie ausprobiert wurde, opferreich gescheitert“, stellt die Zeitung fest und fragt: „Kann man dafür Marx verantwortlich machen?“

Es war zu erwarten, dass die bürgerlichen Medien das Jubiläum 150 Jahre Kapital für eine Rückschau und Bilanz nutzen würden. Zu erwarten war auch, dass der Mainstream die Gelegenheit ergreifen würde, um Marx wieder in den Schrank der Klassiker zu sperren und dafür mehr oder weniger alte Mythen und Irrtümer wieder herauszuholen.

Und so ist es auch gekommen. Allerdings wird bei den meisten Artikeln, die bisher erschienen sind, klar, dass wir nicht mehr in den 90er Jahren sind. Anstatt Titel wie „Marx hatte die revolutionäre Diktatur des Proletariats gefordert“ (SPIEGEL SPEZIAL 1991) oder „Nirgendwo in den hochindustrialisierten Staaten wurden Marxens Thesen durch die Entwicklung bestätigt“ (SPIEGEL SPEZIAL 1991), ist man mit Überschriften wie „Hatte Marx doch Recht?“ konfrontiert. Diesen Titel wählten sowohl DIE WELT, DIE ZEIT wie auch die Bundeszentrale für Politische Bildung für ihre Beiträge zu den Jubiläen. Kritik an und die Irrtümer zu Marx und seinem Werk verstecken sich heute hinter einem vermeintlich positiven Bezug.

Doch spätestens seit dem 30. Juni 2017 ist klar: Die 90er Jahre sind doch nicht ganz vorbei. Sie leben in der FAZ. Dort finden sich im Artikel von Philip Plickert gleich mehrere Behauptungen zu Marx und Kapital und zwar genau so formuliert, wie es sich damals gehörte. Zum Beispiel: „In 'Das Kapital' hatte Marx wortgewaltig zu belegen versucht, warum der Kapitalismus (…) zwangsläufig gegen die Wand fahren werde“. Der Autor Philip Plickert weiß natürlich nicht, dass Marx nicht ohne Weiteres als Zusammenbruchtheoretiker interpretiert werden kann und dass seine (übrigens unabgeschlossene) Krisentheorie viel komplizierter ist, als Plickert das wohl jemals nachvollzogen hat.

An dieser Stelle soll nicht auf alle verwegenen Behauptungen der FAZ eingegangen werden (dass Marx ein Verelendungstheoretiker, ein Mensch voller Hass, ein Antisemit und noch mehr war) – wer will, kann hier nachlesen.

Auf ein zwar nicht neues, aber doch interessantes Spielchen Plickerts will ich aber doch eingehen: Schon im Untertitel des Artikels hält er fest, dass Marx nichts darüber zu sagen hatte, „wie Kommunismus praktisch funktionieren sollte“. Das liest sich fast wie eine Beschwerde. Aber immerhin stimmt es: Marx hat weit mehr den Kapitalismus analysiert als über dessen Zukunft zu spekulieren. Zwar wiederholt Plickert in der Mitte des Artikels „Marx hat fast nichts darüber geschrieben, wie die sozialistische oder kommunistische Wirtschaftsordnung funktionieren sollte“. Aber dann zitiert er gleich danach eine Passage aus einem Text von Marx und Engels, der von ihnen übrigens nie veröffentlicht wurde. Mit diesem Zitat will Plickert dann doch zu einem Marxschen Begriff von Kommunismus gelangen.

Es ist das berühmte Zitat aus der Deutsche Ideologie, das von der Freiheit erzählt, die man in einer anderen Gesellschaft hätte, mal dies, mal jenes zu tun. Dieses Zitat reicht Plickert, um zu unterstellen, Marx habe anscheinend doch eine Idee gehabt, wie Kommunismus funktioniert. So zurechtkonstruiert fällt es Plickert natürlich leicht, Marx' Idee als eine „Utopie voll Harmonie“ zu denunzieren. Marx hat zwar selbst gewusst und geschrieben, dass eine kommunistische Gesellschaft keineswegs konfliktfrei wäre. Aber das interessiert Plickert nicht, denn er will noch weiter: von Marx zu „weiteren Vordenkern“ des Kommunismus „wie Lenin und Mao“. Die FAZ zieht eine direkte logische Linie vom Kapital zu Gulag, Hungersnot und Mangelwirtschaft. „Die millionenfach Ausrottung von „Klassenfeinden“, beginnend 1917, geschah wohl nicht als historischer Zufall (…), sondern sie war in der Tendenz zumindest in Marx schon angelegt“. Schließlich spricht laut Plickert „aus Marx’ Schriften und Briefen ... oft unbändiger Hass und scharfes Ressentiment, ein verbitterter Mann, der nicht nur kapitalistische 'Klassenfeinde' entmenschlicht, sondern auch politische Gegner und konkurrierende Linke beschimpft. Marx sprach ganzen Völkern die Existenzberechtigung ab.“

Das Spielchen ist damit zu Ende: In einem ersten Schritt stellt der FAZ-Autor fest, dass Marx zum Kommunismus nichts zu sagen hat. In einem zweiten Schritt widerspricht der Autor sich selbst, findet bei Marx doch eine Idee der kommunistischen Gesellschaft und kritisiert sie als „Utopie voll Harmonie“. Diese Utopie wird dann in einem dritten Schritt ganz 90er-Jahre-mäßig für das Entstehen autoritärer Regime verantwortlich gemacht. Zwischendurch ergreift die FAZ die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie viel Reichtum der Kapitalismus allen bringt im Gegensatz zur Armut der kommunistischen Länder. Das Paradebeispiel für Plickert ist natürlich China: „bitterste Armut, Massenhunger, sogar Massensterben“ unter Mao, „Wohlstandsexplosion“ dagegen nach der „Einführung privater Eigentumsrechte und dem Zulassen unternehmerischer Initiative“.

Gegen Ende des Artikels nutzt die FAZ noch einmal Marx als Aufhänger, um die letzten Kapitalismuskritiker eines Besseren zu belehren: Zwar sei die Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten gewachsen, gibt sie zu. Dies sei jedoch nur innerhalb vieler Länder der Fall. Betrachte man dagegen das „Wohlstandsniveau zwischen den Nationen“, sei die Ungleichheit gesunken. Bingo! Das einzige, was diesem Artikel fehlt, um eine fast vollständige Zusammenstellung aller Lieblings-Argumente der FAZ zu sein, ist der Hinweis, die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank enteigne den deutschen Sparer. Aber das hat Plickert nun wirklich nicht mehr unterbringen können.

Es mag jetzt wundern, aber den abschließenden Worten des Autors kann man hundertprozentig folgen: „Der 150. Jahrestag des 'Kapitals', der mit dem 100. Jahrestag der bolschewistische Revolution zusammenfällt, sollte Anlass zu einer ehrlichen und kritischen Auseinandersetzung mit diesem zweifellos äußerst einflussreichen Philosophen, Ökonomen und Weltveränderer sein“.

Dazu tragen genau solche Artikel nicht bei.