Die Bolschewiki im Herbst 1917

Rote Garde in Petrograd
Rote Garde in Petrograd Foto: Viktor Bulla [Public domain], via Wikimedia Commons Public Domain

Nach den Verfolgungen im Juli/August 1917 und einem enormen Verlust an Einfluss gelang es der bolschewistischen Partei schnell, durch ihre konsequente Orientierung an den Nöten der Massen verlorenes Terrain wieder zu erobern und zum anerkannten Vertreter der Interessen der ArbeiterInnen und Bauern zu werden.

Die Entmachtung der Sowjets durch die Provisorische Regierung, besser der Versuch, sie zu entmachten, und die Wiederherstellung der „alten Ordnung“ im Militär hatten den Sturz der Provisorischen Regierung auf die Tagesordnung gesetzt. Es war nur die Frage, Wie und Wann der erfolgen würde.

Um diese Frage gruppierten sich die Auseinandersetzungen auch innerhalb der Bolschewiki. Die Partei wuchs und in einer Unzahl von Beratungen in vielen Teilen des Landes wurden diese Fragen, die Vorbereitung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, die Aufstellung von KandidatInnenlisten, die Schaffung Roter Garden zur Verteidigung der Sowjetstrukturen sowie andere Probleme der täglichen Auseinandersetzung und des Parteiaufbaus diskutiert. Schon Wochen vor der Entscheidung des Zentralkomitees über den bewaffneten Aufstand am 23. Oktober wurden in regionalen Konferenzen dazu Beschlüsse angenommen. Die Bolschewiki wurden innerhalb eines Vierteljahres, beschleunigt ab Mitte August (noch vor dem Kornilow-Putsch), zu einer Massenpartei mit klaren Zielen und Strukturen, d.h. zu einer handlungsfähigen politischen Kraft. Entscheidend waren dabei die Klarheit der Ziele und Strukturen, weniger die Massen, die sie vereinigte. Größte Partei war nach wie vor die der SozialistInnen-RevolutionärInnen.

Im September und Oktober kommt es zu Bauernaufständen in Tambov, Rjazan und anderen wichtigen Regionen.

Auch diese Signale werden von den Führungen der „gemäßigten Revolutionäre“ nicht verstanden. Vielmehr lassen sie sich auf die Bildung eines „Vorparlamentes“ und der Verschiebung des Sowjetkongresses ein, ungeachtet aller Signale, dass die Schwäche der Provisorischen Regierung ganz offensichtlich die Konterrevolution befördert und den Unwillen in den Massen befeuert.

Die Themen und Beschlüsse der regionalen und lokalen Konferenzen der bolschewistischen Partei, und dies muss betont werden, gingen davon aus, dass es zu einem Aufstand kommen müsse und dass dieser Aufstand den Weg zu einer Neubelebung der Demokratie bringen würde. Anders ist die Gleichzeitigkeit von Beschlüssen zur Schaffung Roter Garden und zur Aufstandsvorbereitung auf der einen und denen zur Vorbereitung der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung nicht zu erklären. Nur so war es auch möglich, die Forderungen nach Land, Demokratie und Frieden tatsächlich schlüssig zusammenzubringen. Hier liegt für Lenin die Garantie des Sieges. Davon sind seine Briefe und Schriften ab Ende September 1917 bestimmt. Er schreibt:

„Denn indem sie unverzüglich einen demokratischen Frieden anbieten, unverzüglich den Bauern den Boden geben, die von Kerenski böse zugerichteten und zerschlagenen demokratischen Einrichtungen und Freiheiten wiederherstellen, werden die Bolschewiki eine Regierung bilden, die niemand stürzen kann.“ (Lenin, W.I. 1961b, 1)

Nach der Erfahrung des Kornilow-Putsches ist für ihn klar, dass ein Abwarten, etwa auf die Einberufung der Verfassungsgebenden (Konstituierenden) Versammlung der bürgerlichen Konterrevolution Zeit schafft, um ein solches Abenteuer zu wiederholen. Daraus schließt er:

„Es wäre naiv, eine „formelle“ Mehrheit der Bolschewiki abzuwarten: keine Revolution wartet darauf.“ (ebd., 3)

Der Apparat, auf den sich diese Revolution stützen sollte, so an gleicher Stelle, seien die Sowjets und die demokratischen Organisationen.

Dementsprechend sah er nicht die Gefahr einen blutigen Bürgerkrieges, wie das von den VertreterInnen anderer Parteien und vor allem der bürgerlichen Presse immer wieder behauptet wurde. Er betrachtet es als eine

„restlos bewiesene Lehre der Revolution … daß einzig und allein ein Bündnis der Bolschewiki mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki, einzig und allein der sofortige Übergang der ganzen Macht in die Hände der Sowjets einen Bürgerkrieg in Rußland unmöglich machen würde.“ (Lenin, W.I. 1961c, 19)

Und er hebt als Besonderheit Rußlands im gegebenen Moment hervor:

„… in einem Bauernland, in dem das Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft den durch einen zutiefst ungerechten und verbrecherischen Krieg gequälten Massen den Frieden, und den Bauern den ganzen Boden geben kann, in einem solchen Lande , in einem so einzigartigen geschichtlichen Augenblick ist die friedliche Entwicklung der Revolution, wenn die ganze Macht an die Sowjets übergeht, möglich und wahrscheinlich.“ (ebd., 20)

Voraussetzung sei jedoch, dass die Partei der Bolschewiki in den Massen verankert ist, dass die Funktionäre und Delegierten in die Fabriken und Truppenteile gehen. Das ist immer wieder Gegenstand seiner Interventionen der Wochen vor dem Aufstand in der Nacht vom 7. zum 8. November.

Trotzki beschreibt die Situation in den Sowjets genauer und verdeutlicht die Widersprüchlichkeit zwischen der errungenen Mehrheit und der Bereitschaft zum Aufstand sowie die eigene Taktik gegenüber dem Petrograder Sowjet:

„Bei Weitem nicht sämtliche Delegierte des Petrograder Sowjets , die für die Sowjetmacht gestimmt hatten, waren wahrhaft vom Gedanken durchdrungen, dass der bewaffnete Aufstand Tagesaufgabe geworden war. Man musste sie unter kleinsten Erschütterungen auf den neuen Weg hinüberleiten, um den Sowjet in einen Apparat des Aufstandes zu verwandeln… Aber gerade in den letzten Tagen war es am gefährlichsten, außer Schritt zu kommen, einen Sprung zu kommandieren einen Tag zu früh, bevor der Sowjet dafür fertig war, Verwirrung in den eigenen Reihen hervorzurufen, die Partei vom Sowjet auch nur für 24 Stunden zu trennen.“ (Trotzki 2010, 534)

Trotzki macht auf ein Problem aufmerksam, das tatsächlich für den weiteren Verlauf der Revolution, für das Selbstverständnis der Bolschewiki sowie für die Charakteristik der Revolution durch ihre Gegner und Kritiker eine große Rolle spielt:

Aus der Institution und Praxis der Sowjets der öffentlichen Diskussion aller möglicher Fragen „erwuchsen jedoch neue Schwierigkeiten. Man konnte nicht die Massen im Namen des Sowjets zum Kampf aufrufen, ohne die Frage formell vor dem Sowjet zu stellen, das heißt, ohne die Aufgabe des Aufstandes zum Gegenstand öffentlicher Diskussion zu machen, und überdies unter Beteiligung des feindlichen Lagers. Nie Notwendigkeit, zur Leitung des Aufstandes ein besonderes, möglichst verschleiertes Sowjetorgan zu schaffen, war offensichtlich.“ (ebd., 537)

In der Phase der Vorbereitung des Aufstandes zeigt sich bereits die Frage, wie Bolschewiki als Partei und Sowjets gemeinsam funktionieren sollten – ein Problem, die Trotzki an dieser Stelle ausführlich beschreibt. Auch in Lenins Äußerungen in den Wochen vor dem Oktober ist die Frage, wer nun die Revolution machen wird, undeutlich – mal sind es die Sowjets, mal die Bolschewiki. Trotzki zeigt auch, dass es in vielen Gebieten dann eben der Aufstand der Sowjets, nicht der Bolschewiki war, auch wenn diese oft großen Einfluss hatten. Er selbst spricht mehrfach von einer „Vernebelungstaktik“, um die Legitimität des Umsturzes zu sichern.

Die Oktoberrevolution selbst verlief erst einmal weitgehend unblutig. In Petrograd wurde die Provisorische Regierung verhaftet, die wichtigen Kontenpunkte, wie das Telegrafenamt wurden besetzt. Kerenski floh. Heftigere Kämpfe gab es z.B. in Moskau. Nach dem Erfolg der Revolution setzte wie in Moskau auch in anderen Orten „Weißer Terror“ ein, der allerdings schnell von den Sowjets und den Revolutionären Militärkomitees unterdrückt werden konnte, da er über keine Basis verfügt. (vgl. Rat’kovskij, Il’ja 2017, 21ff.)

Der linke Sozialist-Revolutionär S.D. Mstislawski beschreibt die Situation so:

„… in solchen Tagen kann nur führen, der glaubt. Folglich möge derjenige, der nicht an die Richtigkeit des von den Bolschewiki gewählten und eingeschlagenen Weges glaubt, von oben, vom Steuerruder aus eigenem Antrieb nach „unten“ steigen , in die Reihen und auf die Bänke der Ruderer … So denke ich über mich, während die Debatten weitergehen. … Und so spreche ich von mir selbst, als ich in meinem Schlußwort die Richtigkeit der Entscheidung der Fraktion begrüße, die nach kurzem Meinungsaustausch beschließt, auch dem Kongreß zu bleiben.“ (Mstislawski, S.D. 1998, 395)

Mstislawski bezieht sich hier auf den Sowjetkongress, der nach dem Aufstand begann und auf dem rechte SozialistInnen –Revolutionäre und Menschewiki den Bruch mit den BefürworterInnen der Aktion vollzogen. Strittig ist, ob der Aufstand vor der Eröffnung des Sowjetkongresses tatsächlich nötig gewesen wäre oder ob es dort zu einer friedlichen Machtübernahme hätte kommen können. Die Erfahrungen des Juli, Trotzkis Darlegungen aber auch die Versuche der rechten Menschewiki und Sozialisten-Revolutionäre, von der Provisorischen Regierung doch noch Zugeständnisse zur Entschärfung der Situation zu erreichen zeigen, wie groß die Unsicherheit und auch das Misstrauen gegenüber den Massen unter den führenden Bolschewiki gewesen sein mag. (vgl. ausführlich Rabinowitch 2012, 365ff.)

Und es war eine Revolution, da sich die soziale Konstellation verändert hatte: es war eine Revolution, an der das russische Bürgertum im Unterschied zum Februar nicht mehr beteiligt war und in der ihre Machtbasis, mag sie auch nur noch formal bestanden haben, zerstört wurde. Zwar blieben große Teile der Unternehmen noch in der Hand der alten Eigentümer, ihre Rechte wurden aber stark beschnitten und die Arbeiterselbstverwaltungen gestärkt. Nach dem Februar, in dem die Massen sich selbst in Subjekte der Geschichte verwandelten, brachten diese nun im Oktober diejenigen zur Herrschaft, die in Dekreten die Legitimität dieses Aufbruchs bestätigten und die mit diesen Akten den Willen deutlich machen, die erworbenen und nun fixierten Rechte auch durchzusetzen. Insoweit steht die Oktoberrevolution auf den Schultern der Februarrevolution, letztere ist der Ausgangspunkt und die Legitimation des Oktober; und der Oktober muss sich am Februar messen lassen. Das Gemeinsame beider Ereignisse verliehen der Revolution des Jahres 1917 die gewaltige inspirierende Kraft, die Menschen überall in der Welt zum Kampf für eine andere Gesellschaft ermutigte.

Die Dekrete und Erklärungen der neuen Regierung und des II. Sowjetkongresses legitimierten das Handeln der „einfachen Menschen“. Es ging nicht um die Umsetzung einer Theorie, die die Priorität bürgerlicher oder proletarischer Revolution, die „Reife“ von Verhältnissen oder irgendetwas Fernliegendes zum Gegenstand hatte. Es ging einfach um das Überleben. Diese einfache Wahrheit wird meist in den akademischen Diskursen nicht ernst genommen. Vor dem Hintergrund der Realitäten und der Enttäuschungen des Jahres 1917 möge man einfach den ersten Aufruf der neuen Macht lesen:

„AN DIE BÜRGER RUSSLANDS!

Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Revolutionären Militärkomitees, übergegangen, das an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Petrograder Garnison steht.

Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer am Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung — sie ist gesichert. Es lebe die Revolution der Arbeiter, Soldaten und Bauern!

Das Revolutionäre Militärkomitee beim Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ (Lenin, W.I. 1961a)

Es folgten schnell entsprechende Dekrete: das Dekret über den Frieden, das Dekret über den Grund und Boden, die Deklaration über die Rechte der Völker Rußlands, die Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle, das Dekret über den Obersten Volkswirtschaftsrat, das Dekret über die Nationalisierung der Banken, das Dekret über die Ehescheidung, das Dekret über die Zivilehe, über die Kinder und über die Einführung von Personenstandsregistern usw.

Aber all das waren erst einmal Erzählung und Versprechen, die die Bolschewiki und die Massen verbanden. In den Schwierigkeiten, aus dieser Erzählung Leben und aus den Versprechungen Realitäten zu machen, mußte sich nun erweisen, ob die Revolution sich gegen ihre Feinde und gegen den Konservatismus ihrer eigenen Akteure durchsetzen würde. Und es musste sich zeigen, welche Konsequenzen aus der „Vernebelungstaktik“ erwachsen würden. An erster Stelle stand nun für weite Kreise des Volkes immer noch die Einberufung der Konstituierenden Versammlung. Die Wahlen dazu fanden am 25. November 1917 statt. Sie brachte den SozialistInnen-RevolutionärInnen eine deutliche Mehrheit.

Eine neue Etappe des revolutionären Prozesses mit neuen Widersprüchen war damit eingeleitet.

Quellen und zum Weiterlesen

 

Lenin, W.I. (1961a). An die Bürger Rußlands!, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 227

Lenin, W.I. (1961b). Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 1–3

Lenin, W.I. (1961c). Die russische Revolution und der Bürgerkrieg, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 11–25

Mstislawski, S.D. (1998). S.D. Mstislawski über den II. Sowjetkongreß (Aus „Fünf Tage“) [25. Oktober 1917], in: Hedeler, Wladislaw/Schützler, Horst/Striegnitz, Sonja (Hrsg.): Die russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 392–395

Rabinowitch, A. (2012). Die Sowjetmacht: Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring-Verlag

Rat’kovskij, Il’ja (2017). Chonika Belogo Terrora v Rossii. Repressii i Samosudy (1917-1920), Moskva: Algoritm

Trotzki, Leo (2010). Geschichte der Russischen Revolution: Oktoberrevolution. Bd. 2, Mehring-Verlag, abrufbar hier