Die „Deutsche Ideologie“ hat es nie gegeben. Und jetzt?

Foto: Manuskriptseite aus der Deutschen Ideologie

Alex Demirović

hat an verschiedenen Universitäten gelehrt, darunter TU Berlin, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Redakteur der Zeitschrift LuXemburg und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Schwerpunkt seiner Arbeit ist materialistische Gesellschafts- und Staatstheorie.

Kritik der Philosophie und neue materialistische Weltauffassung. Zur textkritischen Edition der „Deutschen Ideologie“ in der jüngst erschienenen MEGA I/5. Eine Rezension.

Obwohl bekannt war, dass die „Deutsche Ideologie“ von Marx und Engels nicht publiziert wurde und die Manuskripte nur unvollständig überliefert sind, spielte sie doch eine wichtige Rolle im Selbstverständnis des Marxismus und in den historischen und wissenschaftstheoretischen Bemühungen, die Herausbildung des wissenschaftlichen Sozialismus und der materialistischen Weltauffassung zu erklären. In der orthodoxen, stalinistischen Tradition galten die Manuskripte als Begründung der neuen dialektisch-materialistischen Weltanschauung, als Ausarbeitung der grundlegenden Leitsätze des historischen Materialismus, die ein Muster des theoretischen Kampfes mit dem Zweck darstellten, der Arbeiterbewegung die Orientierung in theoretischen Fragen zu erleichtern.

In einer vor allem von Louis Althusser angeregten kritischen Sicht auf die Entwicklung der Marxschen Theorie, die folgenreich eine Einheit und Kontinuität des Werkes bestritt, also eine bloß materiale, ökonomiekritische Ausarbeitung dessen, was in den frühen philosophischen Überzeugungen von Marx schon angelegt war, galt die „Deutsche Ideologie“ als Werk des Übergangs vom frühen, philosophischen zum späteren und wissenschaftlichen Werk von Marx. Unabhängig von solchen wissenschaftshistorisch-epistemologischen Fragen wurde insbesondere das vermeintliche erste Kapitel - dessen Titel „Feuerbach. Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung“ auf eine Notiz von Friedrich Engels 1883 zurückgeht - wegen der Vielzahl von philosophischen und gesellschaftstheoretischen Fragen und Begriffe in vielen Universitätsseminaren verwendet, wenn es darum ging, in das Denken von Marx und Engels und die materialistische Gesellschaftstheorie einzuführen.

Marx und Engels saßen im Sommer 1845 in Brüssel nicht zusammen um eine gemeinsame Philosophie auszuarbeiten

In ihrer Einführung wird von den BearbeiterInnen ausführlich die komplizierte und politisch beeinflusste Editionsgeschichte der „Deutschen Ideologie“ dargelegt. Ein wesentliches Forschungsergebnis dieser editorischen Arbeit muss mit Nachdruck hervorgehoben werden, weil es zu einer neuen Sicht auf den Text führt. Die Rekonstruktion der Entstehung der 18 Texte bzw. Textfragmente, die im Band präsentiert werden und von denen die meisten aus früheren Ausgaben der sog. „Deutschen Ideologie“ bekannt sind, zeigt, dass es kein Werk „Die deutsche Ideologie“ gibt. Marx und Engels hatten nicht geplant, ein solches Buch zu verfassen. Auch saßen die beiden nicht seit Sommer 1845 in Brüssel zusammen, um sich in irgendeiner Weise über ihre neue historisch-materialistische Weltanschauung zu verständigen und gemeinsam eine Philosophie des historischen Materialismus auszuarbeiten – so, als habe eine entsprechende Konzeption in ihren Köpfen schon existiert. An Theoriebildung oder gar an Philosophie war nicht gedacht (727f). Soweit Theorie entstand, geschah dies im Handgemenge – in diesem Fall mit zeitgenössischen sozialistischen und kommunistischen Philosophen. Doch hatte diese kritische Auseinandersetzung gleichwohl weitreichende theoretische Folgen: die Distanz zu und die Abkehr von der Philosophie hin zu empirisch orientierter Analyse konkreter gesellschaftlicher Entwicklungen.

Als handle es sich um ein integrales Buchprojekt

Die textkritische Edition macht nachdrücklich deutlich, dass viele Passagen der Manuskripte verloren gegangen sind. Das räumt ja auch die Edition von MEW 3 ein. Doch wird hier suggeriert, als handele sich um ein integrales Buchprojekt von Marx und Engels, mit dem es ihnen darum gegangen sei, sich über ihre Theorie zu verständigen – also ein Buchmanuskript, das nicht zum Abdruck gelangte und von dem einige Teile zwar verloren gegangen seien, dessen erhaltenen Teile sich aber durch eine geschickte Anordnung doch noch zu einem einheitlichen, kohärenten Ganzen zusammenfügen ließen. Die vorliegende Edition der Texte zeigt jedoch, dass Marx und Engels nicht an einem Buch arbeiteten. Vielmehr planten sie gemeinsam, mit Moses Heß eine Vierteljahresschrift herauszugeben, zu der auch weitere Autoren wie Heß, Daniels, Weerth, Weitling und Bernays beitragen sollten.

Der Titel dieser Zeitschrift ist unbekannt. Nachdem im April 1846 ein Scheitern dieses Projekts feststand, sollten die Texte, vorhandene und geplante, in einer zweibändigen Publikation veröffentlicht werden. Bis Ende Mai waren die meisten Texte für den Druck vorbereitet. Nachdem sich auch diese Aussicht zerschlug, planten Marx und Engels eine einbändige Buchpublikation, die nur noch ihre eigenen Texte enthalten sollte, die sie – mit Ausnahme der Auseinandersetzung mit Feuerbach - für die Vierteljahresschrift bereits fertig gestellt hatten. Die Arbeit an dem Feuerbach-Kapitel, die unterbrochen worden war, wurde im Juni 1846 wieder aufgenommen – jetzt entstanden weitere einzelne Fragmente des Feuerbach-Kapitels und, so vermuten die Bearbeiter, jene Textteile, die entsprechend den Manuskripten in der vorliegenden Ausgabe in einer rechten Spalte präsentiert werden. Spätestens im Dezember 1847 wurden die Pläne, wenigstens einen Teil der Manuskripte zu publizieren, aufgegeben.

Marx und Engels selbst ging es zunächst und vor allem um eine kritische Auseinandersetzung mit Max Stirner. Dieser Plan wurde dann um kritische Stellungnahmen zu Bruno Bauer und Karl Grün und den Vertretern des „wahren Sozialismus“ erweitert. In Marx‘ und Engels‘ gemeinsamer Arbeit an den Manuskripten in der Zeit zwischen Oktober 1845 und April/Mai 1846 nahm in der Auseinandersetzung mit Bauer und Stirner der Umfang der Darlegung ihrer eigenen Position und ihrer Kritik an Feuerbach derart zu, dass sie diese Manuskripte ausgliederten und planten, sie als ein eigenständiges Kapitel und eine Kritik an Feuerbach auszuformulieren. Dazu kam es jedoch, anders als im Fall der anderen Texte, offensichtlich deswegen nicht, weil sich die Publikationsabsichten zerschlugen.

Es handelte sich um Beiträge zu Sammelpublikationen, für die noch kein Name festgelegt war

Die Bearbeiter betonen (780) die eigentümliche Situation, dass es während des größten Teils der Zeit, in der Marx und Engels an diesen Texten arbeiteten, dafür keinen Plan gab, sie als ein Buch und unter einem Titel „Deutsche Ideologie“ zu publizieren. Vielmehr handelte sich um Beiträge zu Sammelpublikationen, für die noch kein Name festgelegt war. Dann aber, als Marx Anfang April 1847 in einer öffentlichen Erklärung gegen Karl Grün von einer „von Engels und mir gemeinschaftlich verfaßten Schrift über ‚die deutsche Ideologie‘ (Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Socialismus in seinen verschiedenen Propheten)“ sprach (vgl. 778f), war nur noch von einem Werk im Singular die Rede; stillschweigend ließ er also den Plan einer zweibändigen Schrift, in der auch Texte anderer Autoren hätten enthalten sein sollen, fallen, ohne darzulegen, welche der vorbereiteten Texte Eingang in dieses angezeigte Buch finden würden. Die Bearbeiter betonen wohl zu Recht, dass erst im Zuge der für diesen Band unternommenen Editionsarbeiten die verschiedenen Arrangements, die Marx und Engels für die Veröffentlichung der Manuskripte vorsahen, Konturen angenommen haben. Bündig wird als Einschätzung festgehalten: „Ein integrales oder auch nur fragmentarisches Werk „Die deutsche Ideologie“ aus der Feder von Marx und Engels liegt nicht vor.“ (725f)

Die Edition der Texte zur „deutschen Ideologie“ durchlief nach dem Tod von Engels, der zu Lebzeiten eine Veröffentlichung nicht beabsichtigte und auch eine Einsicht in die Manuskripte verweigerte, vier Phasen. In der ersten Phase, die durch Veröffentlichungen einzelner Kapitel durch Franz Mehring gekennzeichnet ist, ging es vor allem um ein genaueres Verständnis früherer Diskussionen in der sozialistischen Bewegung. Nachdem durch Publikation weiterer Teile der Manuskripte deutlich wurde, dass sie unvollständig seien, bestand in einer zweiten Phase das Ziel der editorischen Arbeiten vor allem in einer möglichst weitgehenden Rekonstruktion des Textes. Vor allem David Rjazanov bemühte sich darum, im Rahmen der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe eine textkritische Fassung der Manuskripte unter Rekurs auf den Publikationsplan der Vierteljahresschrift herauszubringen (789; vgl. auch Beiträge 2, 2000). Allerdings wurde Rjazanov im Februar 1931 verhaftet und seiner Funktion als Leiter des 1921 gegründeten Marx-Engels-Instituts enthoben.

Es war Stalins Ziel, den Ort kritischer marxistischer Intellektueller zu liquidieren

Das Ziel Stalins war es, das MEI als Ort kritischer marxistischer Intellektueller zu liquidieren. Zum Nachfolger wurde Vladimir Adoratskij ernannt; insbesondere dem stellvertretenden Direktor I. Tovstucha kam die Aufgabe der „Säuberung“ zu, die zur Entlassung von 131 der 243 MitarbeiterInnen des Instituts führte. Damit begann eine weitere Phase. Die neuen Herausgeber der „Deutschen Ideologie“ erstellten nun durch Kompilation einen Text, der den kanonischen Anspruch erhob, ein abgeschlossenes Werk von Marx und Engels darzustellen, in dem die Grundlagen des historischen Materialismus entfaltet worden seien (vgl. 790f; vgl. auch Beiträge 3, 2001). Dieser wurde dann 1955 (auf Deutsch 1958) zur Grundlage der Marx-Engels-Werke Bd. 3 und damit auch maßgebend für die weitere Marx-Forschung, Lehre und politische Bildung. Dieser Band markiere den Gipfelpunkt des Versuchs, ein „abgeschlossenes Werk zu rekonstruieren, das als Gründungsschrift des historischen Materialismus gelten sollte“ (791). Es ist schade, dass die Einführung der Bearbeiter nicht noch auf die weitere Rezeption der „Deutschen Ideologie“ und die Wirkungsweise des kompilierten Textes eingeht. Denn offensichtlich konnte er durchaus zu einem undogmatischen, gesellschaftstheoretischen Verständnis von Marx‘ Theorie beitragen und ging mithin nicht in den Absichten der ideologischen Instrumentalisierung auf.

In den 1960er Jahren, so die Einschätzung der Bearbeiter, begann mit den ersten Bemühungen um textkritische Editionen der Manuskripte eine vierte Phase. Es kam zu einem genaueren Verständnis der Entstehungsgeschichte und damit der Tatsache, dass die Manuskripte der „Deutschen Ideologie“ im Zusammenhang mit dem Projekt einer Vierteljahresschrift entstanden. Diese Arbeiten mündeten schließlich in den vorliegenden Band, der zu einem erheblich veränderten Bild dessen führt, was als „Deutsche Ideologie“ bezeichnet wird, weil er erstmals „die Komplexität und Dynamik der Arbeit von Marx und Engels an den Manuskripten zur „Deutschen Ideologie“ vollständig und authentisch dokumentiert“ (793).

Die Edition macht nachdrücklich deutlich, dass es nicht begründet ist, von einem integralen Buchprojekt zu sprechen, an dem Marx und Engels gearbeitet hätten, um eine theoretisch zusammenhängende materialistische Weltanschauung darzulegen. Allerdings erscheint es ebenso wenig plausibel, nun daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, Marx und Engels hätten zu diesem Zeitpunkt gar keine theoretischen Vorstellungen verfolgt. Im Gegenteil zeigt die Edition, dass viele der Überlegungen, die in den für den Druck bereits fertig gestellten Texten formuliert sind, aber in einer oftmals sehr kleinteiligen Argumentation unterzugehen drohen, in den manchmal pointierten und systematischer ansetzenden Textfragmenten des Feuerbach-Kapitels zusammengefasst und dem Anspruch nach umfassender und materialreicher ausgeführt werden. Offensichtlich sollte hier in ersten Ansätzen eingelöst werden, was als Anspruch in der Kritik an den anderen Autoren formuliert wurde. Es wird, gestützt auf historische und empirische Einzelheiten, eine umfassende Theorie der verschiedenen Formen von gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Gliederung der Gesellschaften mit hohem Erklärungsanspruch angedeutet. Angemessene Ausführungen hätten wohl weit mehr materiale Kenntnisse, weitere begriffliche Arbeit, empirische Studien und folglich mehr Zeit vorausgesetzt als sie unmittelbar hatten.

Ein Gewinn der Edition für die weitere Diskussion könnte sein, dass auch die Neugierde für Marx‘ und Engels‘ Auseinandersetzung mit Stirner und den deutschen Sozialisten (und Sozialistinnen) des Vormärz wieder geweckt werden könnte (und ohne das oberflächliche Interesse, das Bernstein daran hatte, der mit der Publikation des Manuskripts vor allem den Einfluss des Anarchismus zurückdrängen wollte).

Marx’ Theorie entstand im Handgemenge

Am Vorhandensein einer Theorie deswegen zu zweifeln, weil den Texten kein theoretisches Programm voraus ging, legt zudem ein durchaus problematisches Wissenschaftsverständnis nahe: so als würde sich Wissenschaft allein in Distanz, neutral und in einer abgerundeten Darlegung von Sachverhalten und Argumenten entfalten. Marx‘ Theorie entstand – seinem eigenen Anspruch nach - im Handgemenge. Dies gilt auch in diesem Fall. Es ist eben beeindruckend zu sehen, wieviel an Einsicht Marx und Engels in der Kritik an anderen zu gewinnen vermögen und wie sie in der kritischen Auseinandersetzung auch das Feld ihrer eigenen intellektuellen und politischen Praxis neu ausrichten.

Die Ausgabe zeigt, dass die Manuskripte in sehr unterschiedlichem Maße ausgearbeitet sind und Vorstöße hin zu einer eigenständigen Theorie unternehmen. Ein großer Teil wurde für die Publikation für den Druck vorbereitet, dann jedoch nicht veröffentlicht. Durch Mäusefraß gingen Teile der Manuskripte verloren. Sie werden nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung präsentiert, sondern entsprechend der im Sommer 1846 geplanten Publikation in einer Vierteljahresschrift. Ob Marx und Engels an dieser Gliederung festgehalten hätten, wenn es zu einer einbändigen Buchpublikation gekommen wäre, ist nicht bekannt.

Theoretisch bedeutsam sind – neben einer Reihe von Passagen in der Stirner-Kritik - nach wie vor insbesondere die sieben Textfragmente des sog. Feuerbach-Kapitels. Wurden diese Manuskripte in der ersten MEGA und in MEW 3 zu einem Kapitel kompiliert, werden sie in dieser textkritischen Ausgabe als eigenständige Textzeugen ediert. Dies betont ihren fragmentarischen Charakter, der noch dadurch verstärkt wird, dass die Manuskripte nun gut erkennbar teilweise große Lücken aufweisen. Es wird auch in besonderer Weise deutlich, dass diese Manuskripte in verschiedenen Phasen der Arbeit an den Kritiken von Stirner und Bauer entstanden und von Marx und Engels nicht als publikationsfähige Texte betrachtet wurden. Vielmehr handelt es sich um ausgegliederte Materialien, Vorarbeiten oder Reinschriftfragmente. Zwar könnte der vorliegende Versuch der Anordnung der Texte kritisiert werden, die Begründung der Bearbeiter (795), sie nicht chronologisch zum Abdruck zu bringen, erscheint mir aber plausibel; und die Präsentation der Textfragmente ist transparent und lässt es zu, die Texte auch in anderer Reihenfolge zu lesen.

Die Überlegungen von Marx und Engels, so zeigen die Texte insbesondere des sog. Feuerbach-Kapitels, sind oftmals provisorisch und greifen nicht ineinander, auch die Begriffe sind noch unsicher und entsprechen nicht der späteren Ausarbeitung der Theorie – so die Ausdrücke bürgerliche Gesellschaft, Produktionsweise, Verkehr oder Produktionskraft bzw. Produktionsverhältnis. Gleichwohl sind sowohl die abgeschlossenen Texte als auch die Textfragmente für die weitere theoretische Diskussion bedeutsam. Vieles hielt Marx offensichtlich für ausreichend erörtert und kritisiert, vor allem die Analyse der Philosophie. Einige der Überlegungen und Theoreme waren offensichtlich Anstoß für seine weitere Forschungsarbeit (Produktionsweise, Konflikt von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften). Andere Themen hat er nicht systematisch weiterverfolgt, offensichtlich weil er ihnen wegen anderer Prioritäten nicht nachgehen konnte, wurden aber mitgeführt und immer wieder angesprochen. Dazu gehören sein Wissenschaftsverständnis, die materialistischen Annahmen zum Verhältnis von Sein und Bewußtsein, sein kritisches Verständnis von Ideologie und Ideologen oder Weltmarkt.

Die Marx’sche Theorie umfasst mehr als die Kritik der Politischen Ökonomie

Schließlich gibt es eine Gruppe von Themen, die von ihm kaum mehr aufgegriffen wurden (Sprache, Familie, Individuum, Verhältnis von Stadt und Land), von denen aber Engels einige weiterbearbeitet hat. Bemerkenswert ist, wie viele Überlegungen beide in dieser Brüsseler Phase bereits formulierten, die Marx dann im „Vorwort“ von 1859 als Ergebnis längerer Forschung vorstellt. Wichtige Begriffe und Theoreme standen Marx und Engels nach dieser Phase ihrer Zusammenarbeit in Brüssel nun zur Verfügung. Die „Deutsche Ideologie“ kann also durchaus wie ein Forschungsprogramm gelesen werden kann, dessen Thesen dann in der weiteren Arbeit unter Vernachlässigung einer ganzen Reihe von Themen und Problemen vertieft wurden. Sie ist ein Werk des Übergangs, weil sie Forschung anregte, aber auch eine eigenständige Sammlung von Texten, die eine umfassende Gesellschaftstheorie andeuten und daraus wohl auch einen Teil ihrer besonderen Wirkung beziehen, weil in kaum einem anderen Text so deutlich wird, wie umfassend Marx und Engels den Begriff von Gesellschaft dachten.

Auf einige Aspekte möchte ich kurz zu sprechen kommen, weil die neue, textkritische Ausgabe der „Deutschen Ideologie“ mit ihren vielen editorischen Anmerkungen und Varianten anregen kann, sich erneut und vertiefend mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese Texte lassen erkennen, dass die Marxsche Theorie mehr umfasst als eine Kritik der politischen Ökonomie, nämlich auch eine Kritik der Intellektuellen und der Philosophie und Kultur, des Staates, der Familie oder des Raumes. Das Angedeutete und Unfertige verweisen auf jenen vibrierenden historischen Moment, in dem die Autoren die Aufregung und Ahnung spüren lassen, die eine materialistische Zugangsweise zur Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse und Praktiken sowie zu einer auf konkrete Weltveränderung zielenden Haltung zur Welt und zur Wissensproduktion eröffnet.

Der erste Gesichtspunkt ist die kritische Analyse und Distanzierung von der Philosophie. Das wird angesichts der kulturell-politischen Bedeutung der Philosophie nicht leicht gewesen sein. Bis heute wirkt ihr Versprechen fort, jenes Allgemeine und Grundlegende zu erschließen, zu reflektieren und begrifflich zum Sprechen zu bringen, das im fachwissenschaftlichen Wissen und in den alltäglichen Meinungen für zu schwierig und abstrakt gehalten oder gar verstellt wird. Von vielen kritischen Intellektuellen wird diese kritische Analyse der philosophischen Praxis bis heute nicht akzeptiert und an einer Rücknahme dieser Abwendung von der Philosophie gearbeitet. Marx beobachtet bei den Junghegelianern die Unzufriedenheit mit der Philosophie. Doch er bemängelt, dass sie sich nicht aus ihr herauslösen und vertritt kritisch die Ansicht, dass in einer bloßen, selbst wiederum philosophischen Reflexion die Praxis der Philosophie nicht erkannt, sondern nur mit anderen Ausdrücken wie „der Mensch“, „menschliches Wesen“ oder „Gattung“ fortgesetzt wird, die näher an der Wirklichkeit zu sein scheinen (54). An diesem Punkt folgen Marx und Engels zwar Feuerbachs Frage: „Wie kam es, daß die Menschen sich diese Illusionen ‚in den Kopf setzten‘?“ (291), kritisieren jedoch, dass er keine Antwort gibt.

Dieser rohe Empirismus kann als Kampfansage verstanden werden

Aus den Mängeln der philosophischen Diskussion heraus entsteht die Notwendigkeit für einen empirischen Blick auf die Verhältnisse und die Philosophie. „Diese Frage [Feuerbachs] bahnte selbst für die deutschen Theoretiker den Weg zur materialistischen, nicht voraussetzungslosen, sondern die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch beobachtenden & darum erst wirklich kritischen Anschauung der Welt.“ (Ebd.; auch: 8) Kritisch gegen die radikalen Denker ihrer Zeit gerichtet, von denen einige ihre Freunde waren, ist ihre Aufforderung radikal und verspricht ein philosophisch undankbares, zeitraubendes Geschäft. Man müsse sich als ein „gewöhnlicher Mensch“ an „das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch literarisch ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt […]. Philosophie & Studium der wirklichen Welt verhalten sich zu einander wie Onanie & Geschlechtsliebe.“ (291)

Das Plädoyer dafür, aus der Philosophie herauszuspringen und sich der rein empirisch beobachtenden Anschauung zuzuwenden und mit Blick auf die wirklichen Individuen zu sprechen (8), erscheint durchaus empiristisch. Aber dieser rohe Empirismus kann als Kampfansage gegen jene Verachtung verstanden werden, die Marx und Engels bei den deutschen Philosophen und der deutschen Wissenschaft für die vermeintlich oberflächlichen Franzosen und Engländer beobachten (515). Auch in späteren Überlegungen wird Marx nicht auf die Forderung nach der naturgetreuen Beobachtung der Wirklichkeit verzichten. Aber diese stützt sich auf eine Kritik der objektiven Denkformen, die alltagsreligiösen Kategorien der politischen Ökonomie, um jene abstrakten Begriffe und ihre vielseitigen Bestimmungen auszuarbeiten, die notwendig sind, um den inneren Zusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erschließen.

Auch schon im Fall dieser frühen Überlegungen findet dieses Verfahren eine gewisse Anwendung. Die Kritik besteht eben nicht nur im Beiseitelegen der Philosophie, sondern immer noch in der Auseinandersetzung mit philosophischen Texten. Aber es findet bereits in dieser Arbeit eine materialistische Wendung statt. Denn Marx und Engels betonen mit Nachdruck, dass allein die Veränderung der Vorstellungen und der Wörter, also der Interpretation der Wirklichkeit diese noch nicht ändert. „Die ‚Befreiung‘ ist eine geschichtliche That, keine Gedankenthat.“ (7, 16, 46, 47). Aber sie ignorieren das Bewusstsein auch nicht, sondern rücken es in eine Perspektive und fragen nach dem Zusammenhang des Bewusstseins und der philosophischen Kritik mit ihrer eigenen materiellen Umgebung (7, 30, 32).

Marx und Engels behandeln die philosophischen Texte als „gedruckte Aktenstücke“

Die Philosophie wird selbst als eine empirische, nämlich ideologische Praxis begriffen, die das Kleinbürgertum unter den Bedingungen der deutschen Verhältnisse praktiziert. Marx und Engels behandeln die philosophischen Texte als „gedruckte Aktenstücke“, die sie als Ausdruck einer für ein so „versumpftes Land wie Deutschland unvermeidlichen Richtung“ (517, 19) begreifen. Sie kehren demnach ein Verfahren um, das ihrer Argumentation nach für die deutsche Ideologie kennzeichnend ist. Die deutschen Ideologen trennten die ihnen unerklärlichen Ideen der kommunistischen Kritik und Streitschriften in Frankreich von der wirklichen Bewegung ab, deren Ausdruck sie seien, mystifizierten sie auf diese Weise, trügen zu Verwirrung bei und brächten sie in einen willkürlichen Zusammenhang mit den deutschen Philosophen und Philosophieschülern (516).

Eine intellektuelle Praxis, die sich auch heute beobachten lässt.

Diesen Philosophen, so die Kritik, ginge es nicht um eine Steigerung des intellektuellen Verständnisses der Verhältnisse, sondern um den Appell ans Gemüt und das herrschende gemeine Bewusstsein. Damit hätten sie diese Ideen schnell angeeignet, verharmlost, und sich selbst in die Position symbolischer Überlegenheit und Radikalität gebracht, die gleichzeitig folgenlos bliebe.

Diese Vorgehensweise erklären Marx und Engels nun selbst wiederum mit dem Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. „Wir haben gezeigt daß die Verselbständigung der Gedanken & Ideen eine Folge der Verselbständigung der persönlichen Verhältnisse & Beziehungen der Individuen ist. Wir haben gezeigt daß die ausschließliche systematische Beschäftigung mit diesen Gedanken von Seiten der Ideologen & Philosophen & damit die Systematisirung dieser Gedanken eine Folge der Teilung der Arbeit ist, & namentlich die deutsche Philosophie eine Folge der deutschen kleinbürgerlichen Verhältnisse.“ (504, 32)

Die Verselbständigung der Begriffe von ihren realen Verhältnissen und ihre Verkehrung in ein sich gegen die Individuen richtendes ideologisches Verhältnis bildet selbst ein reales, empirisches, gesellschaftsspezifisch-historisches Verhältnis. Erklärt werden kann dies mit der Gliederung der Gesellschaft, die sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und insbesondere der Trennung der Kopf- und Handarbeit ergibt (31, 135). Aus der praktischen Lebensstellung der Ideologen entstehen dogmatische Träumereien und die Vorstellung, die Geschichte ließe sich durch die Geschichte der Gedanken und Begriffe erschließen.

Es reicht nicht, sich mit den Vorstellungen zufrieden zu geben, die Menschen sich von sich und ihrer Lebenslage machen

Arbeitsteilung im Allgemeinen und die Verselbständigung der geistigen Arbeit ist einer der zentralen Begriffe, die in den Manuskripten der „Deutschen Ideologie“ wirksam sind. Insbesondere die Funktion der intellektuellen Arbeit wird dann zu einer Theorie der Ideologie und der Ideologen im Zusammenhang der Ausübung von Klassenherrschaft erweitert. Jede herrschende Klasse sei „genöthigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d.h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu heben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen.“ (62f)

Eine ausgearbeitete Theorie der Ideologen liegt nicht vor, Andeutungen dazu finden sich verstreut in den Textfragmenten und den fertig gestellten Manuskripten. Doch machen diese Überlegungen von Marx und Engels deutlich, dass es grundsätzlich nicht reicht, sich mit den Vorstellungen zufrieden zu geben, die Menschen sich von sich und ihrer Lebenslage machen (ein Argument, das in den Manuskripten mehrfach wiederkehrt und von Marx auch in späteren Texten angeführt wird), dass es aber auch nicht hinreicht, nur die ökonomischen Prozesse zu analysieren. Die intellektuellen Prozesse bieten einen wichtigen Zugang für das Verständnis und Selbstverständnis von Herrschaftsausübung. Denn Herrschaft wird von den Herrschenden aktiv durchdacht und gestaltet.

Nicht das Denken herrscht – wie Stirner glaubt -, sondern die Herrschenden denken. Es bedarf also der Analyse ihres Denkens, da ihre Gedanken, ihre intellektuellen Praktiken die herrschenden sind und sie Herrschaft als umfassende Praxis organisieren (60, 225ff). Dies bedeutet aber für die materialistische Methode, dieses Denken in all seinen Aspekten ernst zu nehmen, es zu übersetzen in empirische Fakten und Verhältnisse (21, 46), in das, was es als materielle Praxis bedeutet und sich nicht in die Selbsttäuschungen dieses Denkens zu verstricken.

Auch das ist Dialektik: gleichzeitig mit diesen Begriffen und Denkweisen vertraut zu sein und sie doch einklammern und auf Distanz gehen zu können, um es im Gesamtzusammenhang der Klassenpraktiken zu begreifen. Dieser theoretische Begriff des Gesamtzusammenhangs ist das entscheidende Merkmal der Geschichtsauffassung, für die Marx und Engels argumentieren: eine Totalität, die in ihrer spezifischen historischen und zu stürzenden Gliederung aus der materiellen Produktion zu entwickeln ist und aus dem Produktionsprozess, den Produktivkräften, den Verkehrsformen, der bürgerlichen Gesellschaft, dem „Staat & der sonstigen idealistischen Superstruktur“ (115), also den „sämmtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnissen & Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral &c &c“ besteht (45, 113, 135).

Mittels der Philosophie stellt die herrschende Klasse ihr besonderes Interesse als das gemeinschaftliche Interesse dar

Als zweiten Aspekt möchte ich die häufigen Bemerkungen zum bürgerlichen Staat nennen. Dieser steht in einem spezifischen Zusammenhang mit der Abtrennung der geistigen Arbeit und Philosophie. Dies veranschaulicht auch die spätere Bearbeitung dieses Problems in ergänzenden Anmerkungen zu früheren Ausführungen in den ausgegliederten Textfragmenten zu Bauer (34, 37). Die Philosophie ist ein spezifisches Medium, mit dem eine herrschende Klasse ihr besonderes Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darstellt (62f). Diese „illusorische Gemeinschaftlichkeit“ (34) kann wahr sein (63), solange die Verkehrsformen der Gesellschaft noch den Produktivkräften entsprechen.

In diesem Fall macht der Staat, dessen soziale Macht in der Teilung der Arbeit aus dem bedingten Zusammenwirken der Individuen entsteht, das gemeinsame Interesse der Bourgeoisie und der ganzen bürgerlichen Gesellschaft geltend. Dieses gemeinsame Interesse erscheint in der Form von Recht und Gesetze als ein Willensverhältnis. Die persönliche Herrschaft der herrschenden Individuen „muß sich zugleich als eine Durchschnittsherrschaft konstituieren. Ihre persönliche Macht beruht auf Lebensbedingungen die sich als Vielen gemeinschaftliche entwickeln, deren Fortbestand sie als Herrschende gegen andere, & zugleich als für Alle geltende zu behaupten haben. Der Ausdruck dieses durch ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens ist das Gesetz.“ (383)

Der Staat verliert seine Eigenständigkeit und ist als eine besondere Organisationsform den bürgerlichen Verhältnissen unterworfen. In der Form dieser Allgemeinheit werden die wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen unter einander geführt. Deswegen kann das Allgemeinbewusstsein zu einem bestimmten Zeitpunkt wahr sein, während es in einer anderen Situation zu idealisierenden Phrasen, zur bloßen Heuchelei herabsinkt. Dies ist der Fall, wenn sich die normalen Verkehrsformen und die Bedingungen der herrschenden Klasse „gegen die fortgeschrittenen Produktivkräfte entwickeln“ und der „Zwiespalt in der herrschenden Klasse & mit der beherrschten Klasse“ größer wird (348).

Kritisiert wird an der philosophischen Praxis von Stirner, dass er wie die Philosophen im Allgemeinen an dem „Schein“ arbeitet, es herrschten statt einer bestimmten Klasse gewisse Gedanken (64); und mehr noch wird kritisiert, dass er gerade aus jener angesprochenen Heuchelei seine Abstraktionen gewinnt und ihr also als Philosoph zuarbeitet (ebd.), anstatt die gesellschaftlichen Widersprüche auf der Höhe der Zeit zu thematisieren und aus der wirklichen Bewegung der Gegensätze heraus eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse denkbar zu machen.

Womit das Ziel des schriftstellerischen Projekts von Marx und Engels angesprochen ist: dass sie performativ als Intellektuelle für die Form einer sozialen Organisation argumentieren, in der es nicht mehr nötig sein wird, „ein besonderes Interesse als allgemeines oder ‚das Allgemeine‘ als herrschend darzustellen“ (ebd.).

Literatur

  • Beiträge zur Marx-Engels-Forschung Neue Folge, Sonderband 2: Erfolgreiche Kooperation: Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer Marx-Engels-Institut (1924-1928), Hamburg 2000
  • Beiträge zur Marx-Engels-Forschung Neue Folge, Sonderband 3: Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941), Hamburg 2001
  • Karl Marx/Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. Manuskripte und Drucke. Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe, Abt. I, Band 5, herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam, bearbeitet von Ulrich Pagel, Gerald Hubmann und Christine Weckwerth, Texte und Apparat, 1893 Seiten, Berlin/Boston 2017

Siehe zur Zur Neuausgabe der “Deutschen Ideologie” (MEGA2 I/5) auch diesen Beitrag auf Theorieblog.de