Die Revolution war keine zufällige Geschichte

Schiffsglocke der Aurora
Glocke des Kreuzers "Aurora", der mit einem Schuss das Signal zum Sturm auf das Winterpalais, damals Sitz der Provisorischen Regierung, gab Foto: hp Public Domain

Die Vergangenheit muss zusammenführen, darf nicht trennen. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Geschichte zum Zündstoff für einen neuen Bürgerkrieg wird.

Interview von Krzysztof Pilawski mit Prof. Dr. Jewgeni Sergejew (Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften)

Przegląd: In der russischen Historiographie ist zuletzt der Ausdruck „Große Russische Revolution“ aufgetaucht. In den ersten Monaten nach dem Sturz der Dynastie der Romanows wurde so auch die Februarrevolution bezeichnet. Eine bewusste Anspielung?

Jewgeni Sergejew: Sicherlich nicht, denn wenn ich eine Analogie anführen wollte, dann die zur Großen Französischen Revolution. Beides sind Revolutionen gewesen, die zu einer gewaltsamen und radikalen Änderung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systems geführt haben. Die russische Revolution ist wie die französische groß in Hinsicht ihres Einflusses gewesen, sie ist schicksalsträchtig für Europa und für die Welt gewesen. Die französische Revolution spielte sich in Frankreich ab und war das Werk der Franzosen, die russische Revolution brach in Russland aus, ihre Teilnehmer waren aber nicht nur ethnische Russen, sondern daneben auch Vertreter aller Völker des Russischen Reiches.

Zählen Sie da auch polnische Revolutionäre hinzu?

Die Einwohner des Königreichs Polen waren russische Untertanen, genau wie die Einwohner des Großfürstentums Finnland.

Der polnische Historiker Mariusz Wołos meint, der neue Begriff führe die Revolution auf ein national-ethnisches Maß zurück.

Das kommt darauf an, wie wir den Ausdruck „russisch“ verstehen. Im Kontext der Revolution ist das Russische Reich mit seiner territorialen und nationalitätenbezogenen Gestalt der Bezugspunkt.

Doch die Bolschewiki verstanden sich nicht in erster Linie als Russen, sondern als Internationalisten. Sie behaupteten, die Revolution habe internationalen, keinen nationalen Charakter. Deren Ziel sei die Umgestaltung der bestehenden Welt, nicht nur Russlands. Die Bezeichnung als eine „russische“ engt den Charakter der Revolution ein, nationalisiert sie geradezu, wodurch sie aber zugleich bagatellisiert wird.

Diese Frage sollte tatsächlich debattiert werden.

Der Gebrauch des Adjektivs „russisch“ soll vielleicht das Bestreben unterstreichen, die Revolution zu zähmen, zu sagen, sie sei „unsere“ gewesen. Anfang der 90er Jahre hatte Russlands damaliger Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin noch gemeint, die Revolution sei wie der Marxismus über Russland von außen gekommen.

Doch jetzt gibt es keinen ernsthaften russischen Historiker mehr, der behaupten würde, die Revolution sei nach Russland exportiert worden, sei ihm von feindlichen Kräften aufgezwungen worden, die den russischen Staat , sein Volk, seine Religion und Kultur vernichten wollten. Natürlich stellt kaum jemand die ausländische, auch finanzielle Unterstützung in Abrede, doch das bedeutet nicht, die Revolution sei das Ergebnis einer sorgfältig geplanten jüdischen Verschwörung oder der Wühltätigkeit des „bezahlten deutschen Agenten“ Lenins gewesen. Davon sprechen nur noch unsere Ultranationalisten. Die Historiker für die russische Geschichte weisen nach, dass die Revolution keine zufällige Geschichte, sondern das Ergebnis anwachsender Widersprüche und Konflikte gewesen war, die durch den Ersten Weltkrieg vervielfacht wurden.

In der UdSSR wurde von Großer Sozialistischer Oktoberrevolution gesprochen. In der neuen Bezeichnung fehlt das Adjektiv „sozialistisch“. Vielleicht deshalb, weil das heutige Russland kapitalistisch ist?

Dieser Einfluss lässt sich nicht ausschließen, aber es wäre auch inhaltlich falsch, denn zur Revolution zählen wir auch den Februar, also die demokratische Revolution, die sich nicht den Aufbau des Sozialismus zum Ziel gesetzt hatte.

Und deshalb wird auch nicht vom Oktober gesprochen, der ja fast ein Synonym für die Revolution gewesen war?

Ja, die Große Russische Revolution setzt mit den Ereignissen ein, die im Februar 1917 zum Sturz der Zarenherrschaft und zur Errichtung der Provisorischen Regierung geführt haben.

Wie kann die Februar- mit der Oktoberrevolution verbunden werden? Die erst versuchte Russland in eine parlamentarische Demokratie zu wandeln, die zweite aber errichtete eine rücksichtslose Diktatur.

Wir gehen da jetzt anders heran. Wir schätzen ein, dass der Oktoberumsturz eine Vertiefung und Erweiterung des revolutionären Prozesses gewesen ist. Und wieder möchte ich auf die französische Revolution anspielen, denn in der finden sich Girondisten wie Jakobiner wieder. Die bolschewistische Etappe kann mit der jakobinischen verglichen werden.

Deshalb wird in den Arbeiten der Historiker, die mit der Bezeichnung Große Russische Revolution umgehen, auch vom Oktoberumsturz gesprochen?

Die Bolschewiki selbst haben den so genannt, auch Lenin. Die Änderung hat erst Stalin vollzogen im Rahmen der Vorbereitungen zum 10. Jahrestag der Revolution im Jahre 1927. Damals haben seine Hofhistoriker die Bezeichnung Oktoberrevolution als verbindlich eingeführt.

Als symbolisches Datum der französischen Revolution gilt der 14. Juli, der Sturm auf die Bastille. Und wie ist das bei der Großen Russischen Revolution?

Da gibt es mehrere solcher Daten. Das erste ist der 15. März – die Abdankung von Zar Nikolaus II. Dann folgt die Einnahme des Winterpalais durch die Bolschewiki am 7. November, wobei die Legende von seiner Erstürmung nachträglich hinzugefügt wurde. Sicherlich hat die Nacht vom 7. zum 8. November symbolische Bedeutung, in der der Rat der Volkskommissare eingesetzt wurde.

Boris Jelzin beließ den 7. November als arbeitsfreien Feiertag, allerdings änderte er ihn in den Tag der Versöhnung und Einigung. Seit 2005 ist der 7. November nicht mehr arbeitsfreier Feiertag, er wird lediglich noch als einer der Tage zu Ehren der russischen Waffen begangen, die an die Waffenparade auf dem Roten Platz von 1941 erinnern. Zum neuen arbeitsfreien Feiertag wurde der 4. November als Tag der nationalen Einheit erklärt. Der bezieht sich historisch auf die Vertreibung der polnischen Besatzung aus dem Kreml im Jahre 1612. So hörte der 7. November auf, offiziell mit der Revolution verbunden zu werden.

Ich weiß, dass daran gearbeitet wird, die Interpretation des Tages der nationalen Einheit zu erweitern, so dass er nicht nur ein Tag der Einheit in Bezug auf das 17. Jahrhundert ist, sondern auch auf 1917 werden wird. Die Intention der jetzigen Regierung ist es, alle Beteiligten an den mit der Revolution verbundenen Ereignissen zu versöhnen, also die Weißen, die Roten, die am Bürgerkrieg Beteiligten. Sie hätten, so wird gemeint, auf verschiedenen Seiten der Barrikade für das eine und unteilbare Russland gekämpft.

In der Ukraine werden die Denkmäler abgerissen, die der Revolution gewidmet sind, in Polen verschwinden die letzten damit verbundenen Gedenktafeln. Doch auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim wurde kürzlich ein neues Lenin-Denkmal eingeweiht. Noch 1991 wurde das Dzierżyński-Denkmal auf dem Ljubjanka-Platz in Moskau geschliffen, aus den in Stein gehauenen Revolutionären wurde später ein Vergnügungspark gestaltet.

Die Denkmäler für die Revolutionäre stehen, wie andere Denkmäler auch, jetzt unter staatlichem Schutz, sie werden erneuert. Es werden im Ergebnis lokaler Initiativen auch neue Denkmäler errichtet. Doch auch die Weißen werden nicht vergessen, denn Denkmäler haben u. a. Nikolaus II, Denikin und Koltschak. Auch das ist ein Element der von den staatlichen Behörden verfolgten Politik der Versöhnung, um ein Gleichgewicht zu finden beim Herangehen an die Vergangenheit, die zusammenführen soll und nicht trennen darf. Auf keinen Fall darf zugelassen werden, dass die Geschichte zum Zündstoff wird für einen neuen Bürgerkrieg, für überflüssige soziale Konflikte.

Welche Pläne gibt es in Hinsicht der sterblichen Überreste Lenins? Auch diese Frage ist erneut entbrannt im Zusammenhang mit dem Revolutionsjubiläum.

In der russischen Gesellschaft nimmt die Überzeugung zu, dass sie aus dem Mausoleum auf den Friedhof gebracht gehören. Schließlich hatten 1924 sich nur wenige Personen, darunter Stalin, für die öffentliche Zur-Schau-Stellung des gestorbenen Staatsführers ausgesprochen. Auch im Kreml ist man überzeugt, dass die sterblichen Überreste Lenins entfernt werden müssten. Was noch aussteht, ist die Entscheidung auf der höchsten Ebene. Aber das ist keine so einfache Sache.

Insbesondere vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr…

Das ist sicherlich ein wichtiger Umstand. Ich denke, der Lenin-Körper wird um das Jahr 2024 herum begraben werden. Dann wird an den 100. Jahrestag seines Todes gedacht.

Das demokratische Russland hatte sich 1991 einerseits von der Oktoberrevolution distanziert und sich auf die Tradition der Februarrevolution berufen, andererseits hat es sich aber zum Rechtsnachfolger der Sowjetunion erklärt.

Sie sprechen tatsächlich ein wichtiges Problem an. Dieser offenkundige Widerspruch sollte gelöst werden.

Wenn die Revolution nun domestiziert wird, so bleibt die Frage, auf welchen Effekt die Entstehung der UdSSR zurückzuführen ist?

Die Frage der Kontinuität der russischen Staatlichkeit ist in der Konzeption der Großen Russischen Revolution berücksichtigt. Wir schließen die Sowjetunion nicht mehr aus, so wie das in den 90er Jahren der Fall gewesen war, wir erkennen die UdSSR als einen Bestandteil unserer tausendjährigen Geschichte an. Nicht zufällig hat Wladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe im 20. Jahrhundert bezeichnet.

Wann ist die Große Russische Revolution zu Ende gegangen?

Am 30. Dezember 1922 mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Für die jetzige Regierung ist die Staatlichkeit sicherlich ein sehr viel höherer Wert als Losungen wie „Land für die Bauern“, „Fabriken den Arbeitern“ oder „Alle Macht den Sowjets“?

Mit Sicherheit. Nach einer chaotischen Phase war es damals gelungen, die territoriale Integrität zu sichern, einen starken, souveränen Staat zu bilden, der eine entscheidende Rolle gespielt hat bei der Zerschlagung des Faschismus, der das Schicksal der Weltgemeinschaft beeinflusst hat, der große Erfolge zu verzeichnen hatte in vielen Bereichen – beispielsweise in der Bezwingung des Weltraums, auf dem Gebiet der Nutzung von Kernenergie, in der Kultur, im Sport. Die positiven Empfindungen für die Sowjetunion sind in Russland stark geblieben. Für alle ist aber auch klar, dass es diese Union ohne die Revolution nicht gegeben hätte. In Meinungsumfragen überwiegen jene, die insgesamt eine positive Bewertung der Revolution vertreten. Das bedeutet aber nicht, die Russen forderten nun die Revolution. Im Gegenteil, eine übergroße Mehrheit meint, der Ausbruch einer Revolution müsse unbedingt verhindert werden. Ein Schlüsselwert bleibt der starke, stabile Staat. Präsident Putin erinnert sich gut an die Gefahren für die territoriale Integrität und die Position Russlands auf der internationalen Bühne in den 90er Jahren. Die Angst vor einem Zerfall Russlands und das Wissen um das Ende des Versuchs in der Jelzin-Periode, es in einen westlich-demokratischen Staat umzuwandeln, der sich in erster Linie nach den Menschenrechten auszurichten habe, haben dazu geführt, dass die Bewahrung der Einheit des Landes und die Stärkung Russlands für Putin Priorität haben. Wenn der Staat sich erholt hat und erstarkt ist, kommt die Zeit für die Demokratie. Das ist im Kern das Konzept der sogenannten souveränen Demokratie.

Hat die Große Russische Revolution bereits Eingang in die Schulbücher gefunden?

Ja, denn auch ich habe eines der Schulbücher verfasst, die „Allgemeine Geschichte des 20. Jahrhunderts“ für die 11. Klasse.

aus: Przegląd, Nr. 44, 2017 (30. 10. 2017), S. 33–35. Mit freundlicher Genehmigung. Übersetzung: Holger Politt, Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau

Krzysztof Pilawski, Jahrgang 1958; polnischer Publizist und Journalist; arbeitet regelmäßig mit der linksgerichteten Wochenzeitung „Przegląd“ zusammen; in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zehn Jahre lang Korrespondent der linksgerichteten Tageszeitung „Trybuna“ in Moskau; zuletzt in Deutschland zusammen mit Holger Politt veröffentlicht: „Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken“, Hamburg 2016.