Die Sowjetbewegung am Scheideweg

Skobelev, Tscheidze, Plechanov und Zereteli im Präsidium des Kongresses Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3APresidenciaPrimerCongresoSovi%C3%A9ticoSkobelevChjeidzePlej%C3%A1novTsereteliJunioJuli Public Domain

Vor einhundert Jahren, vom 16. Juni bis 17. Juli 1917 tagte in Petrograd der 1. Gesamtrussische Sowjetkongress. Wir hatten ja schon konstatiert, dass das Bündnis zwischen den Revolutionären (einschl. diverser TrittbrettfahrerInnen) seit April zunehmend erodierte.

Würde der Sowjetkongress die Risse kitten können? Man sollte meinen, es wäre eine stolze und souveräne Veranstaltung gewesen. Unser Chronist Suchanov (kein Freund der Bolschewiki!) zeichnete ein ganz anderes Bild. Seine Beschreibung der Akteure und ihres Verhaltens sind eher ernüchternd. Er schreibt: „Zwischen der Arbeiterschaft der Hauptstadt und dem regierenden Sowjetblock konnte es keinerlei Kontakt und Befriedung geben.“ (Suchanov 1967, 400) Weiter:

„Überhaupt bot der Block der Menschewiken und der SR damals das Bild einer sich zersetzenden, in Selbstbewußtsein, Selbstzufriedenheit und Blindheit erstarrten Macht.“ (Suchanov 1967, 404)

Wenn das so ist, dann liegt hier ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Oktoberrevolution auf der einen und der dann folgenden Auseinandersetzungen zwischen den Bolschewiki und revolutionären ArbeiterInnen und Bauern anderer linker Strömungen sowie mit den Bauern generell danach auf der anderen Seite.

Wie mit den entstandenen Widersprüchen umgehen?

Betrachten wir den erstgenannten Aspekt. Der Sowjetkongress wäre eine Möglichkeit gewesen, den Akteuren der Februarrevolution zu zeigen, dass sie immer noch der Souverän waren, dass es ihre Revolution war. In der zugespitzten Situation hätte der Sowjetkongress den Massen einen Raum anbieten müssen, in dem sie ihre Interessen artikulieren und die Realität in ihrem Sinne verändern könnten. Die beständige Verschiebung der Konstituierenden Versammlung war inzwischen von den Massen als Versuch erkannt worden, ihnen diesen Raum vorzuenthalten. Nun tat der Sowjetkongress letztlich das Gleiche. Das war kein „handwerklicher Fehler“ der Provisorischen Regierung und des Sowjetkongresses sondern entsprach ganz offensichtlich einem tief verinnerlichten quasi-aristokratischen Gesellschaftsbild von Regierung und Sowjetführung. Es erschien wie die Fortsetzung des Zarismus mit andern Mitteln, die Wiedergeburt einer ständischen Gesellschaft. Der Gehalt der bürgerlichen Revolution erwies sich einfach nur als die Etablierung eines neuen „Oben“. Aber im 20. Jahrhundert musste eine bürgerliche Revolution auch einen neuen KlassenKOMPROMISS einschließen, in dem in Russland neben den Bauern auch das Proletariat eine zentrale Rolle spielen müsste. Das wäre eine soziale Innovation (etwa im Sinne eines sozialstaatlichen Kompromisses) gewesen, zu der weder die „Intelligencija“ noch das Bürgertum in Russland fähig waren.

Hier ging es weniger um Theorie oder politische Konzeption. Konstantin Morosow hebt folgende Momente der Programmatik der Partei der Sozialisten-Revolutionäre (PSR), der stärksten Kraft in den Sowjets, hervor, die gar nicht so weit von den Positionen anderer Linker, auch der Bolschewiki, lagen:

„Im Programm der Sozialisten-Revolutionäre wurde unterstrichen, dass die Nationalisierung als Form der Umgestaltung der Volkswirtschaft kein Allheilmittel sei. Von entscheidende Bedeutung sei der Charakter des Staates, der diese Nationalisierung auf den Weg bringe und der verhindern müsse, dass das Proletariat von der regierenden Bürokratie abhängig werde. … Bezüglich konkreter Umgestaltungen auf volkswirtschaftlichem Gebiet enthielt das Minimalprogramm … u.a. die Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden, Arbeitsschutzmaßnahmen und einer von Staat zu zahlenden Versicherung. Alles das sollte unter Kontrolle durch Fabrikinspektoren und Gewerkschaftsverbänden erfolgen. Einer der Kernpunkte des Programms war en die Forderungen nach einer Umgestaltung im Agrarsektor. Die „Sozialisierung des Bodens“ sicherte der PSR die Unterstützung der Bauernschaft. In diesem Kampf wollte sich die PSR vielfältiger Mittel bedienen, darunter auch traditioneller Formen wie der Dorfgemeinde. Mit der „Sozialisierung des Bodens" sollte eine Bresche in den Kapitalismus geschlagen und dieser aus der Landwirtschaft verdrängt werden. Privateigentum an Grund und Boden sollte es nicht geben, Grund und Boden volkseigen sein. Die Bauern würden durch ein Netz von Genossenschaften über den Markt und Ware-Geld-Beziehungen mit der Stadt verbunden.“ (Morosow 2017, 82)

Man sieht also, dass durchaus Stoff für eine gemeinsame Plattform der Linken vorhanden war. Viele Maßnahmen und Diskussionen im Verlaufe der Neuen Ökonomischen Politik 1921-1927 sind (wenn das auch nicht so gesagt wurde) von diesen Vorstellungen geprägt. Die Differenz, die dann für viele Sozialisten-Revolutionäre zum tödlichen Konflikt wird, liegt im Verhältnis zum Staat. Es soll eben, so wenigstens die Mehrheitsmeinung, keine Diktatur des Proletariats, einer Minderheit, sein. Die PSR kann aber im entscheidenden Monat Juni 1917 eben weder konzeptionell noch praktisch verständlich machen, wie ein demokratischer Konsens angesichts des Verhaltens des Bürgertums aussehen könnte. Nach ihren Auffassungen sollte die „Trinität“ von Arbeitern, Intelligenz und Bauern das entscheidende handelnde Subjekt der Veränderung sein. (vgl. Morosow 2017, 83f.) Allerdings war das praktische Problem, dass diese Intelligenz in ihrer Mehrheit zu den vehementen „Vaterlandsverteidigern“ gehörte und damit in klarem Gegensatz zu Arbeitern und Bauern stand. Das eigenständige Handeln der Massen war vielen von ihnen ein Greul, wie sich in den Erinnerungen vieler Intellektueller zeigt. Alle, die nicht die Position der Provisorischen Regierung teilten, wurden als Fanatiker, von Natur aus Beschränkte, Menschen ohne Bewusstsein oder von Eitelkeit getriebene betrachtet. Weiter heißt es:

„Auf der Welt gibt es im Moment kein Volk, das weniger staatlich organisiert, gewissenloser und gottloser wäre als wir.“ (vgl. Gippius 2015, 44f.)

Wie sollten Intellektuelle mit dieser Sicht auf das Volk Vermittler zwischen Arbeitern und Bauern sein?

Das praktische Verhalten der Köpfe der PSR dürfte auch nicht dazu beigetragen haben, der späteren Forderung nach einer Koalition aller Parteien links der Kadetten (also der Partei von Bürgertum und Kapital sowie der Reste der monarchistischen und klerikalen Reaktion) sonderliche Überzeugungskraft zu verleihen. Dier Versprechen der Programmatik der SR wurden nicht eingelöst – weder im Handeln der von ihnen dominierten Sowjets noch durch die von ihr mitgetragene Provisorische Regierung.

Uneinlösbare Versprechen

Zum zweiten Aspekt. Die Bolschewiki griffen die Forderungen der Massen auf und artikulierten sie als politisches Programm: Alle Macht den Sowjets, Arbeiterkontrolle und Arbeiterselbstverwaltung, Verwaltung und Verteilung der landwirtschaftlichen Flächen durch die Bauern selbst, sofortiger Frieden. Im Umfeld des Sowjetkongresses entfalteten die Bolschewiki eine rege Agitationstätigkeit. Am 3. Juni trat Lenin auf dem Gesamtrussischen Kongress der Bauerndeputierten auf (vgl. Lenin 1959 [1917]-b), am 13. Juni sprach er vor den Petrograder Betriebskomitees zur Arbeiterkontrolle (vgl. Lenin 1959 [1917]-a) und am 17. sowie am 22. Juni referierte er vor dem Sowjetkongress. (vgl. Lenin 1974 [1917]-b, a) Obwohl er hier seine Redezeit extrem überzog, ließ man ihn sprechen, was keinesfalls die Regel war.

Außer bei den Betriebskomitees vertrat er vor den Gremien eine Minderheitenposition – aber sie erregte Interesse, auch wenn das noch nicht laut gesagt wurde.

Während Suchanov durchaus Gespür für die Feinheiten hatte und so Lenins Auftreten auf dem Bauernkongress zwar nicht als Erfolg, aber als Zeichen wachsenden Einflusses erkannte, erwiesen sich andere als blind für die sich andeutenden Verschiebungen. P.A. Sorokin, ein anderer führender Sozialist-Revolutionär, meinte, dass der Kongress Ausdruck völliger Unterstützung der Provisorischen Regierung und entschiedener Opposition gegen die Bolschewiki gewesen sei. (vgl. Sorokin 2015, 19) Tatsächlich unterstützte der Bauernkongress in der Frage Krieg/Frieden die Position der Provisorischen Regierung und forderte aktive Kampfhandlungen ohne Rücksicht auf Verluste. (Bauernkongress 1997 [1917]-b, 260 Fn. 154) Die Beratung sprach sich aber auch dafür aus, dass von nun auch die Vorbereitung der Lösung der Bodenfrage von der werktätigen Bevölkerung durch Komitees verschiedener Ebenen in die eigenen Hände genommen werden müsse, „um den Boden von den Fesseln des Privateigentums ohne jegliche Entschädigung freizumachen.“ Das alles sollte, so die Vorstellung, natürlich in gesetzlichen und geordneten Bahnen laufen. (vgl. Bauernkongress 1997 [1917]-a) Aber schon zu diesem Zeitpunkt war die Realität eine andere. Die Entscheidungen wurden wörtlich genommen und als Handlungsaufforderung verstanden – nicht überall, aber im Zeitraum Mai-Juni in wachsendem Maße. Die Bauern waren, so ein bürgerlicher Chronist – in einer „halbabwartenden Stimmung.“ (zit. in Trotzki 2010 [1930], 336) Im Juni, so Trotzki weiter, erfasste diese Agrarbewegung 280, im Juli 325 Kreise, wobei sich in dieser Phase die Bauern noch unmittelbarer Gewaltanwendung weitgehend enthielten. (vgl. Trotzki 2010 [1930], 341)

Die Petrograder Arbeiterkomitees hingegen bezogen bereits konsequent bolschewistische Positionen. Der Zusammenhang zwischen der Kriegspolitik, der sozialen Lage und den Vorstößen der Unternehmer zur Einschränkung der Rechte der ArbeiterInnen war für diese alltäglich erlebbar. Immer öfter kam es zu Aussperrungen. Auf einer Konferenz der Arbeiterkomitees in Moskau hieß es:

„Einziges wirksames Mittel im Kampf gegen die Zerrüttung sei die Kontrolle über die Produktion und Verteilung seitens der revolutionären Demokratie, d.h. durch die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten und die mit ihnen verbundenen Fabrikkomitees und Gewerkschaften.“ (Fabrikkomitees 1997 [1917], 268)

Die konkreten Formen, in denen ihre Forderungen realisiert werden sollten, wurden von den Bolschewiki einstweilen offen gelassen. ArbeiterInnen und Bauern betrachteten dies als Legitimation ihres Handelns, also der Ausschaltung der Eigentümer und leitenden Angestellten der Betriebe, der Enteignung von Gutsbesitzern, der Beschlagnahme von Getreide, der Absetzung von Offizieren usw. Allerdings stand dahinter für die Masse der ArbeiterInnen und Bauern kein Gesellschaftskonzept. Die Unterstützung für die Bolschewiki erwuchs aus den unmittelbaren Bedürfnissen, es war ein, wie Trotzki schrieb, unbewusster Bolschewismus der Massen, die Logik der Entwicklung widerspiegelnd... (vgl. Trotzki 2010 [1930], 359) Oft wird diesbezüglich Lenin oder Trotzki kolportiert, indem gesagt wird, die Massen seien „linker“ als die „linkesten Bolschewiki“ gewesen – dies trifft aber die Situation eben nicht; das „Links-Rechts-Schema“ ist auf diese Situation gar nicht anwendbar.

All dies ist an sich kein Problem – allerdings vollführten die Bolschewiki dann ein halbes Jahr später nach der Oktoberrevolution eine Kehrtwende, weil andernfalls das Land schlichtweg zusammengebrochen wäre. Ein anderer Chronist ahnte im Juni 1917 die sich anbahnenden Probleme: Unter der Hand verwandle sich der Geist der Obschina, der Dorfgemeinde, schon in den Geist des Privateigentums und wende sich damit gegen den Sozialismus. Weiter schreibt er:

„Der Weg unserer weiteren Geschichte wird der Weg der Wiederbelebung der Toten (der Eigentümer) sein. Das ist unausweichlich, weil ein anderer Weg (das Allgemeine) auch nicht im Bewusstsein ist. Die Niederlage der Sozialisten ist unausweichlich.“ (vgl. Prišvin 2015, 78 und 81)

Die Taktik der Bolschewiki, um die Mehrheit zu gewinnen widersprach der Strategie der Sicherung der Macht so offensichtlich, dass das zu Widersprüchen führen musste. Die Verwandlung der Sowjets in Staatsorgane, die Zurückdrängung und Beseitigung der Arbeiterselbstverwaltung, die Einordnung der Betriebe in das entstehende System des Kriegskommunismus und die Zwangseintreibung von Getreide widersprachen völlig dem, was man von den Bolschewiki ab Juni 1917 meinte gehört zu haben. Ganz ähnlich wie die Sozialisten-Revolutionäre konnten sie ihre Versprechen des Juni 1917 nicht einlösen. Dieser Konflikt sollte die 1920er Jahre, eigentlich aber die gesamte Zeit der Existenz der Sowjetunion prägen. Das ist ohnehin die vielleicht wichtigste Lehre der hier betrachteten Etappe: eine Revolution, die sich als sozialistische betrachtet, kann nicht den Weg des Nichteinlösens von Versprechen gehen, wie dies frühere Revolutionen unbehelligt tun konnten. Emanzipation als Mensch – der Kern der sozialistischen Revolution – ist mit taktischen Winkelzügen nicht machbar.

Der Kongress tagt und andere handeln

Im Verlaufe der hier zu betrachtenden Wochen eskalieren die oben angedeuteten Konflikte. Folgen wir Suchanov und Trotzki, so wären hier anzuführen:

  • In einem von Suchanov als zynisch bezeichneten Bericht des Versorgungsminsters wird von den Arbeiter mehr „Opferbereitschaft“ gefordert …
  • Der Kongress lehnt ein Dekret über den Acht-Stunden-Tag ab.
  • Die Frage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wird auf die Konstituierende Versammlung vertagt.
  • Es kommt während des Kongresses zu einer Auseinandersetzung um das Hauptquartier der Anarchisten, eine besetzte Villa, das gleichzeitig eine Art „Stadtteilzentrum“ in einem der Arbeiterbezirke war. Die Vorwürfe der Verwahrlosung und des Hortens von Waffen zur Aufstandsvorbereitung erweisen sich als völlig haltlos. Die Arbeiter des Bezirkes solidarisierten sich mit den Anarchisten.
  • Am 22. Juni werden von den Arbeitern unter Führung der Bolschewiki eine Demonstration vorbereitet, auf der unmissverständlich die Forderung „Alle Macht den Sowjets“ im Mittelpunkt stehen sollte. Der Sowjetkongress versucht diese zu verhindern, obwohl es sich um eine legale Veranstaltung gehandelt hätte. Kurzerhand verbietet der Kongress für drei Tage jegliche Demonstrationen. Zeretelli bringt einen Antrag ein, die Bolschewiki außer Gesetz zu stellen, der abgelehnt wird. Der Demonstrationsaufruf wird am 23. Juni zurückgezogen. Bemerkenswert ist, dass die Initiative nicht bei der bolschewistischen Partei lag, sondern bei den ArbeiterInnen und Soldaten. Bei Besuchen der Delegierten in den Arbeiterbezirken und Truppenteilen wird ihnen deutlich, wie sich die Mehrheitsverhältnisse zu Gunsten der Bolschewiki verschoben. Wesentlich ist hier, dass aus der Sicht der Sowjetführung schon nur noch Gewaltmittel als Lösung der angestauten Probleme geraten scheinen – ohne dass der Sowjet oder die Provisorische Regierung über Mittel der Durchsetzung verfügten. Suchanov schreibt, dass sie sich keinesfalls darüber klar waren, dass diese Entscheidungen in Zeiten wechselnder Mehrheiten sich sehr schnell gegen sie wenden könnten. Es blieb einem Arbeiter von den rechten Menschewiki vorbehalten, dies klar auszusprechen.
  • Für den 1. Juli wird die Bevölkerung Petrograds nun vom Sowjetkongress zu einer Demonstration zur Unterstützung der Revolution aufgerufen. Im Vorfeld wird versucht, auf die Arbeiter und auf Truppenteile, die der Provisorischen Regierung und der Sowjetführung als „unzuverlässig“ gelten, Druck auszuüben. So sollen an den Kasernen der „unzuverlässigen“ Truppen „zuverlässige“ Einheiten postiert werden, um die Soldaten ggf. zu entwaffnen. Auch soll das Tragen von Waffen generell untersagt werden – auch eine Kampfansage an die Arbeiter. Dieser Vorstoß wird aber abgelehnt. Der Sowjetkongress erhofft sich von der Demonstration Unterstützung und eine klare Position der Massen gegen die Bolschewiki. Das Ergebnis sieht anders aus. Hören wir wieder Suchanov:

 „Die Situation war klar und unzweideutig… Hier und da wurde die Kette der bolschewistischen Fahnen und Kolonnen durch spezifische SR-Parolen und offizielle sowjetische Losungen unterbrochen, aber diese gingen in der Masse unter. Wieder und immer wieder, wie ein unanfechtbarer Ruf aus dem innersten Herzen der revolutionären Hauptstadt, wie das personifizierte Schicksal …“ (Suchanov 1967, 408)

  • Praktisch gleichzeitig mit dieser riesigen Demonstration befiehlt der Kriegsminister Kerenski (PSR) am 1. Juli eine Offensive gegen die deutschen Truppen. Damit traf die Provisorische Regierung den „wundesten Punkt bei Arbeitern wie Soldaten“. Suchanov bezeichnete den Vorgang als Verrat, als großes Verbrechen wie auch eine große Dummheit. (vgl. Suchanov 1967, 410ff.) Militärisch war die Offensive, nach anfänglichen leichten Siegen (die deutschen Truppen hatten sich schnell in neu aufgebaute Verteidigungslinien zurückgezogen) ein Desaster, politisch für Regierung und Sowjet ein Schritt in die Katastrophe. Trotzki beschrieb die Situation in den Truppen so:

„Jetzt sagten die Soldaten bereits allgemein: „Genug des Blutvergießens! Wozu Freiheit und Boden, wenn wir nicht da sein werden?“ Wenn die erleuchteten Pazifisten den Versuch unternehmen, den Krieg mittels rationalistischer Argumente abzuschaffen, wirken sie einfach nur lächerlich. Wenn aber die bewaffneten Massen beginnen, Argumente der Vernunft gegen den Krieg anzuführen, dann bedeutet dies das Ende des Krieges.“ (Trotzki 2010 [1930], 329)

Folgt man Suchanov, so setzte der Kongress keine Punkte, an denen sich eine neue Einheit der demokratischen, antimonarchistischen Kräfte hätte entwickeln können. Er tat dies weder inhaltlich noch organisatorisch. Mit den dargestellten Eskalationen (bis hin zu der Einleitung der militärischen Offensive durch Kerenski, die vom Kongress auch noch begrüßt wurde), bestätigte sich die oben angeführte Einschätzung Suchanovs: es zeigte sich, wie sehr sich die Sowjetbewegung auf ihrer Führungsebene von den Massen getrennt hatte. Diese Trennung machte es aber auch unmöglich, das tatsächlich alltäglich zu erlebende Chaos in einer Weise zu bekämpfen, die nicht auf Einschränkung der gewonnenen Freiheit hinauslief. Denn dazu hätte man die „wirklichen“ ArbeiterInnen und Bauern eben als Partner ernst nehmen müssen.

Die Sowjetbewegung stand Anfang Juni vor der Wahl – eine „Selbstverstaatlichung“, d.h. Unterordnung unter die Provisorische Regierung, oder Konstituierung als tatsächliche gesellschaftsgestaltende, basisdemokratische Macht. Mit dem Sowjetkongress wird der erste Weg gewählt, ohne dass die Voraussetzungen für eine bürgerlich-demokratische Entwicklung gegeben sind. Die Konflikte sind nur noch mit Gewalt zu lösen, nachdem die Aktionen des Sowjetkongresses gegen die Bolschewiki und die Forderungen nach Entwaffung der Arbeiter und oppositionellen Truppenteile bereits bis an den Rand eines Bürgerkrieges geführt hatten. Die Chance auf einen anderen Weg wurde auf dem Sowjetkongress verspielt.

 

Quellen und zum Weiterlesen

Bauernkongress. 1997 [1917]-a. "Aus der Entschließung des I. Gesamtrussischen Kongresses der Sowjets der Bauerndeputierten über die Agrarfrage." In Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse, hrsg. von Wladislaw Hedeler, Horst Schützler und Sonja Striegnitz, 261-263. Berlin: Dietz Verlag.

Bauernkongress. 1997 [1917]-b. "Erklärung der Fraktion der Bolschwiki und der Vereinigten Sozialdemokraten-Internationalisten über ihren Verzicht auf Eintritt in das auf dem I. Gesamtrussischen Kongreß der Bauerndeputierten gewählte Führungsgremium." In Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse, hrsg. von Wladislaw Hedeler, Horst Schützler und Sonja Striegnitz, 260-261. Berlin: Dietz Verlag.

Fabrikkomitees. 1997 [1917]. "Aus dem Protokoll der Konferenz der Fabrik- und Werkkomitees des Basmanny-Stadtbezirks von Moskau über den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Zerrüttung." In Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse?, hrsg. von Wladislaw Hedeler, Horst Schützler und Sonja Striegnitz, 266-268. Berlin: Dietz Verlag.

Gippius, Zinaida Nikolaeva. 2015. "Sinjaja Kniga. Peterburgskij dnevnik. 1914-1917." In Velikaja russkaja revoljucija glazami intellektualov, hrsg. von A.A. Veršinin und M.V. Gurylina, 41-47. Moskva: Naučnyj ėkspert.

Lenin, W.I. 1959 [1917]-a. "Rede auf der 1. Petrograder Konferenz der Betriebskomitees." In W.I. Lenin Werke Bd. 24, 561-562. Berlin: Dietz Verlag.

Lenin, W.I. 1959 [1917]-b. "Rede zur Agrarfrage." In W.I. Lenin Werke Bd. 24, 488-508. Berlin: Dietz Verlag.

Lenin, W.I. 1974 [1917]-a. "Rede über den Krieg." In W.I. Lenin Werke Bd. 25, 16-30. Berlin: Dietz Verlag.

Lenin, W.I. 1974 [1917]-b. "Rede über die Stellung zur Provisorischen Regierung." In W.I. Lenin Werke Bd. 25, 3-15. Berlin: Dietz Verlag.

Morosow, Konstantin. 2017. "Das Modell der Sozialisten-Revolutionäre für die Umgestaltung Russlands." In Die russische Linke zwischen März und November 1917, hrsg. von W. Hedeler, 75-84. Berlin: Karl Dietz Verlag.

Prišvin, M.M. 2015. "Dnevniki 1914-1917." In Velikaja russkaja revoljucija glazami intellektualov, hrsg. von A.A. Veršinin und M.V. Gurylina, 59-118. Moskva: Naučnyj ėkspert.

Sorokin, P.A. 2015. "Dal'njaja doroga." In Velikaja russkaja revoljucija glazami intellektualov, hrsg. von A.A. Veršinin und M.V. Gurylina, 7-38. Moskva: Naučnyj ėkspert.

Suchanov, Nikolaj Nikolaevič. 1967. 1917: Tagebuch der Russischen Revolution. München: Piper.

Trotzki, Leo. 2010 [1930]. Geschichte der Russischen Revolution: Februarrevolution. Bd. 1, Geschichte der russischen Revolution / Lev Davidovič Trockij. Essen: Mehring-Verlag.