Ein interessanter, wenn auch nicht „völlig neuer Blick“ auf Marx und seine Wirkungen

Zum Glück hält der Titel nicht, was er androht, auch wenn die Autorin selbst verschiedentlich den Marxismus als „Erfindung“ bezeichnet. Trotzdem handelt sich bei dem vorliegenden Buch nicht um einen Versuch, die Entstehung der marxschen Richtung als künstliches Produkt übelmeinender Demagogen zu beschreiben. Vielmehr geht es, und hier liegt der Wert des Buches, um eine Darstellung der Wege, auf denen verschiedene Menschen in Auseinandersetzungen mit ihrer Gegenwart „zu Marx“ kamen und mit seinem Werk umgingen.

Christina Morina wählt neun Personen aus, die sich auf unterschiedliche Weise im Laufe ihres Lebens auf Marx bezogen. Dieses Herangehen macht das Buch schon einmal interessant, weil diese in ihrer Beschäftigung mit Marx zu durchaus unterschiedlichen Auffassungen und politischen Konsequenzen kamen. Teilweise werden sie, wie etwa Karl Kautsky und W.I. Lenin, im Laufe der Zeit zu erbitterten Gegnern. Zudem öffnet dieser Ansatz auch einen Zugang, um die Veränderungen der Beziehungen dieser verschiedenen Personen zum marxschen Erbe zu verstehen. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass hier in literarischer Form Menschen nahegebracht werden, die in der Geschichte der linken Bewegungen dereinst eine große Rolle gespielt haben, aber vor allem nach 1989 zunehmend in Vergessenheit geraten sind.

Die Autorin setzt sich damit aber auch sofort der Kritik aus, bestimmte andere Personen eben nicht hinreichend gewürdigt zu haben. Das ist sicher richtig, aber jeder biographische Bezug bringt auch Verengungen mit sich. Insofern kann das Buch auch keine Geschichte des Marxismus – oder der Marxismen – sein und sollte auch nicht so gelesen werden. Zudem geht es der Autorin, wie sie im Prolog schreibt, darum, VertreterInnen der ersten Generation marxistischer Intellektueller zu untersuchen. Es handelt sich also auch um einen spezifischen Weg der Marx-Rezeption einer besonderen sozialen Schicht, der sich naturgemäß von dem in anderen Teilen der damaligen sozialdemokratischen Bewegung unterscheiden musste. Auch handelt es sich keinesfalls um die „Eroberung der Welt“ durch die marxschen Ideen – insofern täuscht der Untertitel - es geht tatsächlich nur um die „Eroberung“ eines Teils Europas.

Wenn man dies in Rechnung stellt, ist die Wahl der Personen schlüssig: Guesde und Jaures als miteinander verbundene Antipoden der französischen Sozialdemokratie, Bernstein, Kautsky und Adler als Führungspersönlichkeiten der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, die die Partei mit marxistischen Parolen in den Weltkrieg führten, Plechanow, Struve und Lenin als Vertreter des russischen Marxismus, der sich unter ganz anderen Bedingungen als der in Westeuropa entwickelte sowie schließlich Luxemburg, die sich von dem Marxismus Kautskys emanzipierte und auch in Auseinandersetzung mit Lenin ein eigenes Verständnis des marxschen Erbes entwickelte. Abgesehen von Struve war ihr Wirken eng mit der Geschichte der II. Internationale verbunden. Eine gewisse Berechtigung hätte der Einwand, dass Luxemburg und Lenin gegenüber Kautsky usw. schon eine neue Generation bilden.

Um Verbindungen wie auch Spezifika zwischen den unterschiedlichen Wegen zu Marx zu fassen wählt Morina drei Zugänge: die Sozialisation, die Politisierung und das politische Engagement der betrachteten Persönlichkeiten. In diesem Zusammenhang stellt sie auch die Bedeutung der jeweiligen Individualität heraus, die den Weg hin zu Marx und die Wirksamkeit in die sozialdemokratische Bewegung hinein selbstverständlich mit bestimmte.

Wir sehen, wie sich aus unterschiedlichen kleinbürgerlichen Lebenswelten heraus ein „Unbehagen“ mit der Welt, wie sie ist, entwickelt. Damit war der Weg zu Marx aber keinesfalls vorprogrammiert. Den Umschlag von Unbehagen in „Politisierung“ stellt die Autorin als Zusammenspiel zweier Faktoren dar: des Hineingleitens in politische Auseinandersetzungen und des beginnenden Studiums der marxschen Schriften, oft verbunden mit dem Universitätsstudium. Diese Politisierung bildet die Grundlage für das „radikale Studium der Wirklichkeit“, den Schritt in die Praxis sozialer Auseinandersetzungen und eine entsprechende Reformulierung des in der Theorie Angeeigneten als verinnerlichte politische und wissenschaftliche Konzeption. Im Zusammenhang mit dem bei allen Neun gegebenen Praxisanspruch geht es auch um die Widersprüche zwischen ihnen, wie sie im Revisionismusstreit oder in Bezug auf Revolutionsverständnis und Organisationsfrage zum Ausdruck kamen.

Morina zeichnet in allen diesen Kapiteln ein vielschichtiges Bild von Lebenswelten und Erkenntniswegen, individuellen Eigenheiten und politischen Bindungen, die das Marx- und vor allem auch Praxisverständnis ihrer Protagonisten prägten. Ausführlich tut sie das z.B. mit Bezug auf Art und Sprache der Revolutions- und Zukunftserwartungen. Dabei folgt sie nicht streng der Chronologie, sondern stellt Problemsichten einander gegenüber. Für LeserInnen, die mit der Geschichte nicht so vertraut sind, mag das etwas schwierig sein. Für sich genommen werden dabei auch keine neuen Gesichtspunkte entdeckt. Interessant ist aber gerade dieses Bild von Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Individuellem, Gesellschaftlichem und Gruppenspezifischem im Leben dieser Menschen. Es regt dazu an, der Frage, wie sich heute politische Konzepte sowie wissenschaftliche Doktrinen und Schulen bilden und verbreiten, ein höheres Gewicht beizumessen.

Der schwächste Abschnitt ist der Schluss des Buches. Hier merkt man, dass es sich um eine überarbeitete Habilitationsschrift handelt. In ihrem Versuch, die betrachtete Gruppe abschließend zu charakterisieren fällt es der Autorin spürbar schwer, zwischen einer eher abwertenden Marxismuskritik auf der einen und den Ergebnissen ihrer biographischen Forschungen auf der anderen Seite konsistent zu manövrieren. Sie diskutiert die Entwicklung des Marxismus in etwas simpler Weise als Ideologie. Dies mag auch mit den von ihr als Referenzen gewählten marxismuskritischen AutorInnen zusammenhängen. Insofern handelt es sich eben nicht um einen „völlig neuen Blick auf Marx und seine Wirkungen“, wie der Verlag auf der Rückseite des Umschlags behauptet. Hier erweist sie sich als einem akademischen Wissenschaftsverständnis verhaftet, das ihr einen vorurteilsfreien Blick auf die Wechselbeziehungen von Weltanschauung, Weltaneignung, Wissenschaft und politischer Praxis generell erschwert. Das steht im Widerspruch zu den Darstellungen, in denen die Protagonisten durchaus auch als ernsthafte Wissenschaftler figurieren. Eine Grenze, die aber eben dem methodischen Ansatz geschuldet ist, besteht auch darin, dass die aktive Rolle anderer Milieus, vor allem des Arbeitermilieus, ausgeblendet bleibt. Die sozialdemokratischen Massen erscheinen letztlich doch als Gegenstand des Handelns ihrer ProtagonistInnen, nicht als aktives Element der Entwicklung des Marxismus.

Trotzdem überwiegen die Vorzüge des Buches, seine Materialfülle und die gewählte Darstellungsweise, die Schwächen bei weitem. Wer in die Geschichte der europäischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg einsteigen will, und sich nicht scheut, die von Morina gebotenen Anknüpfungspunkte mit Neugier selbständig weiter zu verfolgen, findet hier reichlich Material.

Christina Morina, Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte, Siedler Verlag, München 2017