Ein polyphones Geburtstagsständchen

Pünktlich zum tatsächlichen Datum des Jubiläums erschien im Metropolis-Verlag der Band „Auf der Suche nach dem Ökonomischen – Karl Marx zum 200. Geburtstag“. Den Herausgebern (ja, alles Männer) ist es gelungen, eine ganze Reihe interessanter Autorinnen und Autoren für die Mitarbeit zu gewinnen.

Die Beiträge sind lesbar geschrieben, so dass die behandelten, teilweise verwickelten theoretischen Fragen informierten LeserInnen (und an diese richtet sich das Buch) ein gutes Bild der Positionen der AutorInnen liefern. Der Band ist mit seinen drei Teilen zu „Marx, die Ökonomie und die Ökonomik“, „Marx, Ökonomie und Gesellschaft“ sowie „Marx, Ökonomie und die zukünftige Gesellschaft“ klar gegliedert. Obwohl dies dazu verführen könnte, sich nur auf den Abschnitt des eigenen Interesses zu konzentrieren, empfiehlt der Rezensent eine konsequente Lektüre vom Anfang bis zum Ende. Denn, ob Absicht oder nicht, das Buch gewinnt seine Aussagekraft vor allem als „Gesamtkunstwerk“, als „polyphone Komposition“. Es ist nicht unbedingt zu erwarten, dass in einem Band die Synthese von Autoren aus dem etablierten akademischen Feld (wie sie vor allem im ersten Teil zu Wort kommen) und solche aus dem eher aktivistischen (Raul Zelik) oder praktisch-ökonomischen (Burghard Flieger) funktioniert. Hier ist dies der Fall, auch wenn bzw. eben weil die Beiträge durchaus unterschiedliche Sichtarten auf das Erbe Marx‘ repräsentieren.

Die Aufsatzsammlung ist keinesfalls als eine Einführung in Marx oder in einen Marxismus zu lesen. Auch haben sich die Herausgeber auf die deutschsprachige Marx-Rezeption konzentriert. Keinesfalls spiegelt sie den Stand der marxistischen Diskussion wider. Vielmehr wird das Marx-Jubiläum von den AutorInnen zum Anlass genommen, um ihre eigenen gesellschaftskonzeptionellen Vorstellungen jenseits der neoklassisch-neoliberal geprägten Debatten vorzustellen. Daher wählen die Herausgeber als einen Kernpunkt ihres einleitenden Beitrages eine Kritik des WBGU-Gutachtens und des laufenden Nachhaltigkeitsdiskurses. Insofern ist die „Suche nach dem Ökonomischen“ hier vor allem die Suche nach einem zukunftsfähigen und realitätstauglichen wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Ansatz. Die AutorInnen schreiben dementsprechend nicht aus der Position einer tradierten Marx-Rezeption, sondern (in ihrer Mehrzahl) aus der kritischer, bürgerlich-liberaler Geister. Die Mehrzahl der AutorInnen steht in einer Tradition, die vor allem das analytische Potenzial bei Marx hervorhebt, oder, wie Peukert es ausdrückt, die bei Marx aufzufindende „abgerundete Gesamtdeutung von Mensch, Wirtschaft und Gesellschaft“ (Marx allerdings lehnte einen solchen universalgeschichtlichen Anspruch ab). Demgegenüber werden von ihnen die Arbeitswerttheorie, der „tendenzielle Fall der Profitrate“ oder die klassentheoretischen Ansätze mindestens in Frage gestellt oder auch verworfen. Insgesamt kann allerdings in dieser Hinsicht der Band vor allem im ersten und teilweise im zweiten Abschnitt nicht durch neue oder originelle Argumentationen überzeugen. Das Herangehen an Marx bleibt hier „deduktiv“, „innertheoretisch“. Es unterlaufen vielfach Ungenauigkeiten, z.B. hinsichtlich der Beschreibung des Wertbildungsprozesses und der Stellung des „Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate“. Auch die Behauptung, Marx habe verschiedene „Setzungen“ (nicht zu verwechseln mit Abstraktionen) vorgenommen, bleibt auf der Ebene der Behauptung. Man vermisst den frischen Wind der Analyse der Wirklichkeit, der ja gerade das „Kapital“ von Marx so interessant und wirkungsmächtig gemacht hatte. Die von Hochmann kritisierte Beschränkung der Rezeption auf die drei Bände des „Kapital“ und die „Theorien über den Mehrwert“ ist hier nur zu unterstreichen, liefern doch der Briefwechsel mit Engels gerade zu den strittigen Fragen der Wert- und Profittheorie oder die programmatischen Aussagen der IAA Einblicke in den Forschungsprozess, die die Aussagen Marx‘ nicht als Setzungen, sondern als Verallgemeinerung von realen Erfahrungen z.B. des erfolgreichen Unternehmers Engels erkennen lassen. Ein Problem mag auch daran liegen, dass die Autoren hier die marxistische Diskussion weitgehend ausblenden, während die gegen Marx gerichteten Argumente jenseits der wiederum dagegen vorgebrachten Einwände durchaus Würdigung erfahren. Das verweist auf die tatsächliche Schwierigkeit, Marx jenseits seiner in den vergangenen mehr als 150 Jahren Interpretationen überhaupt zu diskutieren. Generell erscheint es aber so, als ob der in der ersten Hälfte des Buches gewählte Weg der Kritik (der durchaus auch von sich ausdrücklich marxistisch verstehenden TheoretikerInnen beschritten wird) sich ohne eine radikale Hinwendung zur Analyse wirtschaftlicher Prozesse erschöpft.

Wäre damit das Buch zu Ende, hätte sich das Lesen (vielleicht) nicht gelohnt. Mit dem Beitrag von Helge Peukert zur marxschen Theorie als unentbehrlicher pluraler Bestandteil für die Volkswirtschaftslehre erhalten aber auch die Beiträge, denen der Rezensent eher kritisch gegenübersteht, ihren Wert. Peukert spannt den Bogen von der Theorie in die universitäre Lehre und eröffnet damit den Raum hin zur Diskussion der praktischen Relevanz des marxschen Erbes. Macht schon das Aufgreifen marxscher Ansätze und ihre kritische Nutzung als Instrument der Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft die Aufsätze für MarxistInnen interessant, weil das zur Prüfung eigener Auffassungen provoziert und auch immer auf die „Unabgeschlossenheit“ des marxschen Projektes verweist, so wird hier das ganz praktische Problem der „ökonomischen Alphabetisierung“ thematisiert. Sein Plädoyer für einen heterodoxen Ansatz in den Wirtschaftswissenschaften bildet das „Scharnier“ zwischen den eher theoretisch-methodologisch und den eher praktisch orientierten, auf heutige Widerspruchskonstellationen eingehenden Beiträgen des Bandes. Die Beiträge dieses Teils folgen dem (richtigen, aber auch etwas apodiktischen) Hinweis von Thomasberger, dass es die Fragestellungen, nicht die Antworten sind, die das Werk Marx‘ für Diskussionen über eine grundlegende gesellschaftliche Transformation fruchtbar machen. Diesem Ansatz folgend werden Fragen einer „realen Utopie“, der Analyse der urbanen Entwicklungen und ihres Zusammenhanges mit aktuellen Krisenprozessen oder die Rolle von Genossenschaften diskutiert. Nur scheinbar passt Brie mit seinen Betrachtungen zum „Kapital“ als „Zukunftswissenschaft zu praktischen Zwecken“ nicht in diese Reihe. Tatsächlich greift er aber theoretische Fragestellungen der vorhergehenden Beiträge auf und diskutiert sie unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich dem des marxschen Forschungsprogramms und der in ihm angelegten Einheit von Theorie und Praxis sowie den Wechselwirkungen von Methode, Gegenstand und Resultaten des Forschungsprozesses.

Trotz des erheblichen Umfangs von fast 500 Seiten kann ein Sammelband natürlich auch nicht ansatzweise alle Facetten der Marx-Diskussion einfangen und alles, was zu Marx zu sagen wäre, aussprechen. Bedauerlich und eigentlich unentschuldbar ist aber vor allem das Fehlen des feministischen Blickes auf Marx, gerade wenn es um die „Suche nach dem Ökonomischen“ geht. Trotzdem gelingt es, eine Vielzahl offener Fragen deutlich werden zu lassen. Dies betrifft z.B. die Widerspruchskonzeption bei Marx, Fragen der Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, ganz sicher auch die klassentheoretischen Fragen bei Marx. So erweist sich die Lektüre des Bandes als lohnenswert für alle, die mit Marx weiterdenken und -handeln wollen.

Lucas, Rainer/Pfriem, Reinhard/Thomasberger, Claus (Hrsg.) (2018). Auf der Suche nach dem Ökonomischen - Karl Marx zum 200. Geburtstag, Marburg: Metropolis-Verlag