»Eine completely gottlose Sache«

»Gehen Sie auf Barrikaden?«, fragt der Pastor an diesem denkwürdigen Abend des Jahres 1881 in Richtung Karl Marx. Worauf dieser, man sitzt zu Tische im Hause des berühmten Naturforschers Charles Darwin und ist gerade beim Aperitif, fast ein bisschen empört antwortet: »Ich bin Scientist und schreibe Books.« Und falls der Gottesmann noch zweifeln wollte, schiebt Marx in Richtung der ebenfalls am Tisch sitzenden Gattin von Darwin hinterher, »›Das Kapital‹ steht in der Bibliothek Ihres Mannes«.

Die Essensrunde hat niemals stattgefunden. Ausgedacht hat sich die Szene die Germanistin und Politologin Ilona Jerger. Ihr erster Roman »Und Marx stand still in Darwins Garten« macht gerade die Runde: die letzten Lebensjahre zweier großer Denker werden in einer in und um London spielenden Geschichte miteinander verknüpft, wobei die fiktive Figur des von materialistischen Ideen inspirierten Arztes Dr. Beckett als Brückenglied dient. Es ist ein Buch über das Verhältnis von Religion und Forschergeist, von großen Wahrheiten und bleibenden Zweifeln. Auch eines von Alter und Vergänglichkeit.

Der große Naturforscher Darwin hatte tatsächlich ein Exemplar des ersten Bandes der »Kritik der Politischen Ökonomie« in seiner Bibliothek. Wie es in John Bellamy Fosters »Marx’s ecology« nachzulesen ist, übersandte Marx es 1872 mit einer Widmung, Darwin antwortete mit einer höflichen Dankeskarte - las das Buch aber offenbar nicht. Was bei dem fiktiven Abendessen dem großen Mann der Evolutionstheorie einige Bauchschmerzen bereitet. Denn seine gestrenge Frau, ganz und gar nicht von den Gotteszweifeln ihres Mannes und noch weniger von Marx angetan, setzt nach: »Um was genau geht es darin?« Worauf sich Darwin mit dem hingehauchten Hinweis aus der Affäre zu ziehen versucht, dies sei in der Kürze nicht wiederzugeben.

Jergers ursprüngliches Interesse war auf Darwin gerichtet, bei den Recherchen zum Buch stieß sie auf die Anekdote über das Widmungsexemplar vom »Kapital«. In dem Moment habe es ihr gedämmert, »dass die beiden zur gleichen Zeit gelebt haben«, so Jerger gegenüber dem NDR. »Was haben zwei Männer, die zwanzig Meilen voneinander entfernt zur selben Zeit Werke schreiben, die die Menschheit nie wieder loslassen werden, miteinander zu verhandeln?«

»Und Marx stand still in Darwins Garten« ist sicher keine literarische Offenbarung. Aber charmanter ist der Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion noch kaum in ein Personenspiel zweier alternder großer Namen gebracht worden, die beide von sich wissen, Revolutionäres geleistet zu haben - die aber auch skeptisch bleiben, was die Folgen ihrer bahnbrechenden Arbeiten angeht. Das alles wird verwoben in einen Teppich aus Anekdoten, Bildern, Gedanken, die wahrscheinlich viele Marx- und Darwin-Biografen noch auf den Plan rufen werden. Dennoch ist das Buch gut recherchiert, vor allem wenn es um die Darwin-Perspektive geht, die den Roman auch dominiert.

Der Naturforscher ist mit seinem »On the Origin of Species« von 1859 nicht nur in den Augen der Kirche zum »Gottesmörder« geworden. Marx hat das Buch 1860 gelesen, wohl auf Anregung von Engels, der ihm schon im Dezember des Vorjahres schrieb, das Buch sei »ganz famos«. Engels hatte offenbar ein Exemplar aus der ersten Auflage ergattert, die aus nur 1.250 Exemplaren bestanden haben und schon am ersten Tag ausverkauft gewesen sein soll.

Auch Marx beeindruckte das Buch, wie er ein Jahr später an den Freund formulierte, es enthalte »die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht«. Und kurz heißt es an Ferdinand Lassalle: »Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und passt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes.«

Weder Marx noch Engels hielten sich freilich mit Kritik zurück, die »plumpe englische Methode« wurde ebenso gegeißelt wie »die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein« und deren Übertragung auf die britische Gesellschaft. »Der wesentliche Unterschied der menschlichen von der tierischen Gesellschaft ist der, dass die Tiere höchstens sammeln, während die Menschen produzieren«, wird  Engels 1875 schreiben. »Dieser einzige, aber kapitale Unterschied allein macht es unmöglich, Gesetze der tierischen Gesellschaften ohne weiteres auf menschliche zu übertragen.«

Wilhelm Liebknecht, Freund und häufiger Besucher von Marx in London, erinnerte sich später einmal daran, wie nach der Veröffentlichung von »On the Origin of Species« »bei uns monatelang von nichts anderem die Rede als von Darwin und der umwälzenden Gewalt seiner wissenschaftlichen Eroberungen«. Im unter anderem von Michael Quante herausgegebenen »Marx Handbuch« heißt es, »tiefen Eindruck« habe das Buch bei Marx gemacht, weil der der Naturteleologie den Garaus gemacht habe.

»Ich schätze seine Einsichten zur Natur als completely gottlose Sache«, wird Marx an jenem Abend des Jahres 1881 im Hause Darwin noch sagen. »Deus mortuus est. Ganz famos. Ganz famos.« Das führt noch zu Verwicklungen, einem langatmigen Vortrag Darwins über Regenwürmer - und am Ende liegt der Pastor bewusstlos auf dem Boden. Marx flieht mit Darwin aus der fiktiven Runde, an der auch der englische Zoologe und Sozialist Edward Aveling, der mit Marxens Tochter Eleanor liiert ist, sowie der deutsche Arzt und Philosoph Ludwig Büchner teilnehmen (letzterer war tatsächlich bei Darwin zu Besuch und hat darüber auch geschrieben).

Zwei ältere Männer, zwei lange Bärte, zwei große Biografien: »Ich habe eine Ahnung davon, dass Ihr Leben nicht einfach ist«, lässt Jerger ihren Darwin im Garten seines Hauses nahe London zu Marx sagen. »Aber ich glaube, dass Ihre große Zeit noch kommen wird.«

Ilona Jerger: Und Marx stand still in Darwins Garten, 288 Seiten, Ullstein 20 Euro.