Karl Marx und ein Samt aus Schimmel

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Die Vorarbeiten zu Band 44 lagen lange verstaubt in einem Keller: Nach fast drei Jahrzehnten erscheint wieder einer der berühmten »Blauen Bände« im Karl Dietz Verlag. Die Marx-Engels-Werke sind damit aber noch nicht am Ende.

Manchmal nimmt die Geschichte seltsame Wege. In diesem Fall führt einer aus der Marx-Engels-Abteilung des SED-Instituts für Marxismus-Leninismus der DDR über den Kohlenkeller des Berliner Karl-Liebknecht-Hauses mitten in das aktuelle Doppeljubiläum 150 Jahre Kapital und 200 Jahre Karl Marx.

Es ist eine Geschichte ebenso politischer wie wissenschaftlicher Arbeit über einen Systembruch hinweg, die Geschichte einer großen Edition in einem inzwischen sehr kleinen Verlag, es ist die Geschichte des vorläufigen Abschlusses der berühmten »Blauen Bände« – und trotzdem noch längst nicht das Ende der Marx-Engels-Werke (MEW).

Bislang lagen von diesem Goldstandard des deutschsprachigen Marx für die Masse 43 Bände vor – der letzte war 1990 erschienen, ein weiterer sollte folgen. Die Editionsarbeit dazu war lange vor der Wende begonnen worden. Der erste Band war 1956 erschienen, der 39. Band 1968. Es kamen zwei Ergänzungsbände und schließlich die Nummern 42 und 43, mit denen Ökonomische Schriften des Alten aus Trier aus den Jahren 1857 und 1858 sowie 1861 bis 1863 in die Studienausgabe übernommen wurden.

»Anforderungen unterschiedlicher Benutzerkreise«

In der MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe), sozusagen die Platinvariante der Marx-Engels-Editionen, die noch die kleinste Notiz aus dem Nachlass für die Forschung aufarbeitet, waren diese Schriften schon länger zugänglich – allerdings eher für Experten. Die MEGA-Bände waren und sind teuer, sie enthalten teils unübersetzte Originaltexte. Marx konnte in einem Satz zwischen Deutsch, Englisch und Französisch wechseln. Auch in den zahlreichen Heften, in denen er seine Überlegungen zur Kritik der politischen Ökonomie immer weiter vorangetrieben, überarbeitet, ergänzt, neu gefasst hat.

In den 1970er Jahren erschienen dann MEGA-Bände mit seinen verschiedenen Vorarbeiten zum »Kapital«. Man darf sich das nicht als einheitlichen Schaffensprozess vorstellen, eher habe man es, sagt Michael Heinrich, »mit zwei unterschiedlichen Projekten zu tun«. Der Marx-Experte unterscheidet zwischen den Skizzen von 1857 bis 1863 und denen danach, die direkt vor dem ersten Band von »Das Kapital« entstanden.

In den »Blauen Bänden« hatten von diesen Skizzen zunächst nur die »Grundrisse« Platz gefunden, die Marx gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hatte – seit 1983 stehen sie in Band 42 der MEW. Sieben Jahre später kam dann schließlich ein Teil der 1861 bis 1863 entstanden Schriften in der MEW-Bearbeitung heraus.

Aber warum doppelt, in zwei Versionen sozusagen? Hildegard Scheibler, eine der Wissenschaftlerinnen, die damals mit dabei war, hatte schon 1980 in einem Text für eine Fachzeitschrift das Nebeneinander von MEW und MEGA verteidigt. Beide Editionen müssten »gleichzeitig zur Verfügung stehen, um den Voraussetzungen und Anforderungen unterschiedlicher Benutzerkreise gerecht werden zu können«.

Scheibler hatte auch an der Bearbeitung der ökonomischen Schriften von Marx für die »späten« MEW-Bände mitgewirkt – und es ist nicht zuletzt ihr und einem kleinen Glück zu verdanken, dass ein wichtiger Teil dieser Arbeit nun doch noch zwischen zwei Buchdeckel findet. Ein Vierteljahrhundert später.

Prunkstück im Katalog des Karl Dietz Verlages

Dieses begann mit einer politisch tiefgreifenden Wende, die nicht zuletzt das Schicksal der Institutionen völlig veränderte, die an der Herausgabe der »Blauen Bände« und der MEGA mitwirkten: das Parteiinstitut und der Parteiverlag Dietz. Letzterer war 1990 unter Treuhandaufsicht gestellt worden und ging seiner sehr wahrscheinlichen Liquidation entgegen. Für die MEGA wurde in den frühen 1990er Jahren ein neuer Träger gefunden – sie werden nun mit viel Unterstützung von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung herausgegeben.

Die MEW sind bis heute das Prunkstück im Katalog des Karl Dietz Verlages geblieben. Doch auch das war kein Spaziergang. Der Verlag schrumpfte in der »neuen Zeit« schnell, die damalige Mehrheitsgesellschafterin PDS führte manchen Rechtsstreit um das Unternehmen und seinen Namen. Derweil wurde die publizistische Arbeit immer prekärer. Vielleicht lag es gerade daran, dass nun der letzte Band der Studienausgabe doch noch erscheinen kann.

Karl Marx »in einem düsteren Kellerraum ohne Licht«

Und das hat etwas mit besagtem Kohlenkeller in Berlin zu tun. In den Jahren 2005 und 2006 zog der Verlag vom Karl-Liebknecht-Haus an der Volksbühne in das Bürohaus am Franz-Mehring-Platz, in dem unter anderem die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Tageszeitung »nd« residieren. Jörn Schütrumpf war damals Geschäftsführer bei Karl Dietz und erinnert sich daran, wie man »bei laufendem Geschäft« und nicht mehr Personal als der Mitarbeiterin Christine Krauss einen Umzug bewältigen musste.

»In einem düsteren Kellerraum ohne Licht« fand Schütrumpf damals »im parteieigenen Kohlenruß« zwei Umzugskartons – »veredelt mit einem zarten Samt aus Schimmel«, wie sich der Historiker und Luxemburg-Experte heute noch erinnert. Und was entdeckte Schütrumpf in einer der Kisten? Ein Manuskript des schon zu DDR-Zeiten begonnenen Bandes 44 »in mehreren Durchschlägen und als Gruß aus der analogen Zeit«.

Er habe in dem Moment nicht gewusst wie, wann und mit wem man dieses Projekt würde stemmen können, sagt Schütrumpf heute. Aber er wusste, »dass wir aus diesem Manuskript den Abschlussband der MEW machen würden«.

Auch Rolf Hecker, einer der federführenden Marx-Kenner seit langem und unter anderem Vorstand des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition, erinnert sich an den Beginn des zweiten Lebens von Band 44. Auch daran, dass Hildegard Scheibler die Bearbeiterin des Bandes war und 1991 den Schreibmaschinentext dem Karl Dietz Verlag übergeben hatte.

Wie geht man mit dem Erbe um – und wie sieht die Zukunft aus?

Schütrumpf trommelte nach der Entdeckung im Kohlenkeller eine Runde von Experten zusammen, darunter Manfred Neuhaus und Richard Sperl, die einen Weg finden wollten, »wie die MEW im Karl Dietz Verlag wieder lieferbar gemacht werden« können. Schon ein paar Jahre vorher war die Rosa-Luxemburg-Stiftung die neue Herausgeberin der Marx-Engels-Werke geworden.

Es ging um zwei Fragen: Wie geht man mit dem Erbe um – und wie sieht die Zukunft aus? Man kann sie von heute aus beantworten, sozusagen im Rückblick. Bei Dietz schaffte man es in vergleichsweise kurzer Zeit, wieder die gesamte Ausgabe der MEW lieferbar zu machen, wobei eine Spendenkampagne unter dem Motto »Marx statt Stadtschloss« beim Stemmen der Druckkosten half – und nicht zuletzt eine neue Aufmerksamkeit für Marx’ Schriften, die sich auf den Absatz vor allem der Bände mit ökonomischen Schriften günstig auswirkte.

Seit 2001 förderte zudem die Stiftung finanziell die Neuherausgabe einzelner MEW-Bände – neue Vorworte ersetzten die früheren Einleitungen des herausgebenden Parteiinstituts der SED (Bände 1, 8, 12, 13, 40, 41). Außerdem wurde die Kommentierung im Anhang »auf der Grundlage der MEGA und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse komplett neu ausgearbeitet« (Bände 8, 13, 40, 41). Der alte Apparat, so formulierte es Hecker im neuen Vorwort zum Band 1 der MEW, trage »politisch-ideologische Kontaminationen«. Für Band 41 musste sogar der ganze Text neu gesetzt werden.

Nun also als später Nachzügler: Band 44

Nun also als später Nachzügler: Band 44. Er soll im Februar kommenden Jahres fertig sein und setzt die Herausgabe des ökonomischen Manuskripts fort, das Marx von 1861 bis 1863 schrieb – in insgesamt 23 Heften. Die ersten fünf sind bereits in Band 43 der MEW erschienen, 27 Jahre später folgen nun weitere von Marxens Heften aus jener Zeit.

»Einige fundamentale Elemente seiner ökonomischen Theorie entwickelt Marx erstmals in diesem Manuskript«, heißt es in der für die Studienausgabe zu Grunde gelegten MEGA. Es geht dabei etwa um die Theorie von der Ware Arbeitskraft, die These von der formellen und reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, die Teilung der gesellschaftlichen Produktion in zwei Abteilungen und die Überlegungen zur Grundrente. Ganz aktuellen Bezug hat Marxens ebenfalls im kommenden Band 44 edierte Untersuchung über die »Maschinerie. Anwendung von Naturkräften und Wissenschaft« – darin geht es nicht zuletzt, man würde heute sagen, um Automatisierung und Digitalisierung.

… noch das eine oder andere Manuskript

Beim Verlag Karl Dietz, der sich auf der unlängst zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse als »der Marx Verlag« vorstellte, amtiert seit einiger Zeit ein neues, ein jüngeres Team. Martin Beck ist der Programmleiter. Warum nun dieser doch eher für Experten interessante Band 44 erscheinen wird? Weil man eine große Tradition zu pflegen hat. Oder in Becks Worten: »Wir wollen nicht einfach nur die Lieferbarkeit der MEW gewährleisten, sondern die MEW als Studienausgabe weiterhin dem aktuellsten Forschungsstand anpassen, damit sie Referenzpunkt bleibt und als solches ernstzunehmender Bezugspunkt für aktuelle Gegenwartsanalysen, die sich auf die Kritik der Politischen Ökonomie beziehen.«

Ob es der »Abschlussband der MEW« wird, wie Schütrumpf die Nummer 44 nennt, das will Beck so noch gar nicht sagen. Es sei »nicht ausgemacht«, schließlich sei da »noch das eine oder andere Manuskript, das zu Sowjetzeiten nicht aufgenommen werden sollte«, so der Programmchef – gemeint sind Texte, die in den »blauen Bänden« aber »eigentlich nicht fehlen dürften«. Der Karl Dietz Verlag will sich überdies nicht auf die MEW beschränken. Es sei einiges in Vorbereitung, »das sich eng am Marxschen Werk orientiert, das heutzutage aktueller nicht sein kann«.

Und dann vielleicht doch irgendwann ein Band 45? »Mehr«, sagt Beck, »verraten wir noch nicht«.

Der Artikel erschien zuerst im OXI Blog.