Marx’ Problem

Vorabdruck aus: Christian Schmidt, Karl Marx zur Einführung, Hamburg: Junius 2018

Die Philosophie Hegels war ein Versprechen. Auf einen jungen Mann, der, wie Karl Marx, dem Wunsch seines Vaters gemäß das Jurastudium mit dem Ziel einer Verwaltungslaufbahn aufnahm, aber in sich »vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen«, verspürte, muss ein philosophisches System besonders anziehend gewirkt haben, das beides miteinander verband und den frischgebackenen Studenten lehrte: »Alles, was ist, hat eine ideale und eine reelle Seite, eine Seite der Erscheinung und eine Seite des Gedankens. Die ideale Seite ist die philosophische, die reelle ist die Geschichte. […] Die Rechtsphilosophie soll hier nicht als ein abstraktes Leeres erscheinen, sondern als ein Gedanke, der sich verwirklicht hat. Dagegen soll die Rechtsgeschichte ebenfalls nicht bloß äußerlich erscheinen, sondern als gedankenartig, als ihren Geist in sich tragend.«

Eduard Gans, von dem dieses Zitat stammt, war Hegels Schüler und Freund gewesen. Zu jener Zeit, als Marx in Berlin studierte, hielt er die Naturrechtsvorlesungen. Nach Hegels Tod gab er die um Hegels mündliche Zusätze erweiterte Ausgabe der Grundlinien der Philosophie des Rechts und die Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte heraus. Die Vorlesungen zur Rechtsphilosophie hatte er schon vor Hegels Tod mit dessen Billigung und großem öffentlichen Erfolg übernommen. Gans hob besonders das Moment der Verwirklichung hervor, den Gedanken, dass philosophische Einsichten auch institutionelle und politische Folgen haben, die geschichtlich spürbar sind. Damit betonte er auch das revolutionäre Potenzial der Hegel’schen Philosophie. »Ist die Verfassung des Volkes demselben unangemessen«, heißt es in diesem Sinne bei Gans zum Thema Volkssouveränität, »ist sie durchaus etwas anderes als dasselbe, so wirft es sie ab und metamorphiert sich von selbst, und dies sind die gründlichen Krisen der Geschichte, die Revolutionen.«

Zudem verband Gans die Hegel’sche Philosophie mit Reflexionen über die politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Entwicklungen im Europa seiner Zeit. Er hatte Freunde in Paris und London und brachte von seinen Reisen aufsehenerregende Informationen über Gruppen wie die Saint-Simonisten oder über Jeremy Bentham mit, die auf ganz verschiedene Weise versuchten, Heilmittel für das bittere Elend zu finden, das der auch in den deutschen Ländern heraufziehende Kapitalismus produzierte. Die Hegel’sche Philosophie, wie sie Gans präsentierte, war also trotz ihres systematischen Ansatzes nicht geschlossen. Sie versprach Orientierung in den gesellschaftlichen Umbrüchen, die sich am Beginn des 19. Jahrhunderts vollzogen. Und sie versprach eine bessere Zukunft – nicht irgendwann, sondern eine bessere Zukunft, die eigentlich schon begonnen hatte, zumindest aber unmittelbar bevorstand.

Das Zentrum des Versprechens, dessen Verwirklichung die Hegel’sche Philosophie damals ankündigte, lässt sich dabei in einem einzigen Wort zusammenfassen: Freiheit. »Das Denken fängt da an, wo die Freiheit anfängt; Freiheit, Denken, Recht, Erkennen und Wollen sind identisch. […] Die Philosophie ist selbst ja der Gedanke der Freiheit, das freie Denken ohne Voraussetzung.« (Gans) Diese Freiheit hat eine individuelle und eine gesellschaftliche Komponente. Sie ist die Freiheit der Einzelnen, die über sich selbst bestimmen und ein eigenes Urteil suchen. Sie ist aber auch eine Freiheit, die sich im Verhältnis zum Staat, das heißt zur Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, zeigt. »Die Rechtsphilosophie beginnt, sobald nicht mehr Gott die Gesetze gibt, sondern der Mensch anfängt, selbst Legislator zu sein. […] Sowie das Recht vom Menschen gemacht ist, ist auch die Rechtsphilosophie da.« (Gans)

Am Beginn des Marx’schen Denkens steht also die Begegnung mit einem philosophischen Ansatz, für den Reflexion keine bloß gelehrte Übung ist, sondern der sich selbst dezidiert als Kritik versteht, der die Praxis der Menschen ins Zentrum der Überlegungen rückt und mithilfe der Analyse dieser Praxis die Dynamik geschichtlicher Entwicklungen zu entschlüsseln versucht. Philosophie nach Hegel ist Gesellschaftskritik, die das Prinzip ihrer eigenen Wirksamkeit gleich mitzuliefern scheint. Denn dieses Prinzip ist nichts anderes als die Freiheit, aus der die menschliche Praxis entspringt.

Marx wird im Laufe seines Lebens Hegel und den Hegelianismus immer wieder heftig attackieren, aber die wesentlichen Elemente der Hegel’schen Philosophie, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, dass das philosophische System die Dynamiken der geschichtlichen Entwicklungen analysieren und kenntlich machen soll und dass das Ziel der theoretischen Überlegungen zu sozial wirksamen Kräften und Strukturen darin besteht, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu ändern, das heißt, sie zu verbessern, all das bleibt für ihn prägend.

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Angesichts dieses entscheidenden Einflusses der Hegel’schen Philosophie auf den ganz jungen Marx lässt sich die Heftigkeit der Marx’schen Hegelkritik vor allem als eines lesen: die Anzeige eines fundamentalen Problems, mit dem sich Marx in seinem Denken konfrontiert sieht. An der Auseinandersetzung mit Hegel zeigt sich nämlich beispielhaft, was für viele der Marx’schen Polemiken gegen politische, philosophische und wissenschaftliche Weggefährten gilt. Die Angriffe werden umso drastischer, je mehr Marx Positionen angreift, die seinen eigenen zum Verwechseln ähnlich sind. Das Rigorose in diesen Polemiken ist vor allem eine unausgesprochene Unnachgiebigkeit gegen das eigene Denken, von dessen Ungenügen Marx sich mit aller Kraft losreißen will. Der oft diffamierende und verletzende Angriff auf befreundete Autoren ist der Weg, auf dem Marx nach einer theoretischen Selbstverständigung sucht, die keine Kompromisse erträgt und sich über Freundschaften brüsk hinwegsetzt. Auch die Heftigkeit der Marx’schen Hegelkritik ist daher das Symptom einer radikalen Enttäuschung, die sich zu einem tief sitzenden Problem auswächst.

Das Problem mit der Hegel’schen Philosophie ist für Marx (im Übrigen aber auch für seine politisch engagierten junghegelianischen Freunde) das Ungenügen der von ihr inspirierten Gesellschaftskritik. Denn die Kritik, die im Ausgang von Hegel entwickelt wurde, scheint zunächst einmal ganz praktisch zu versagen. Offenkundig klaffen die politische Ordnung und der Anspruch philosophischer Einsicht nicht nur erheblich auseinander. Diese Kluft öffnet sich am Übergang der 1830er zu den 1840er Jahren auch noch immer weiter, statt sich – der Hegel’schen Prognose folgend – fortwährend schneller zu schließen. Wie die Kluft zwischen Einsicht und Staat in der Marx’schen Wahrnehmung wächst, lässt sich gut an der kritischen Darstellung der Verhandlungen des Rheinischen Landtags über ein Holzdiebstahlsgesetz sehen, die Marx im Herbst des Jahres 1842 in der inzwischen von ihm geleiteten Rheinischen Zeitung anonym veröffentlichte. Ganz im Geiste der Hegel’schen Rechtsphilosophie kritisiert Marx das Gesetz, das das zuvor gewohnheitsrechtlich gestattete Sammeln von herabgefallenen Ästen und Zweigen als Diebstahl mit Gefängnis oder Zwangsarbeit bedrohte, als nicht »der rechtlichen Natur der Dinge« entsprechend.

Marx beschreibt mit Hegels eigenen Worten die Funktion des Rechts als »das Dasein der Freiheit«. Statt aber ein solches »vernünftiges «, »menschliches« Recht in Gesetzesform zu bringen, fällt der Landtag, der erkennbar einzig die Interessen der Waldbesitzer im Auge hat, in vormoderne Formen des Rechts zurück. Den Armen werden mit dem neuen Gesetz nämlich nicht nur die »Almosen der Natur« vorenthalten, auf die ihnen »ein instinktmäßiger Rechtssinn« bisher Anspruch gab, bei der Verfolgung des neu eingeführten Verbrechens sind der Waldbesitzer oder sein Bediensteter auch noch Ankläger, Zeuge, Richter und Vollstrecker der Strafe. Empört konstatiert Marx, dass der Staat so »die Unsterblichkeit des Rechts [dem] endlichen Privatinteresse« opfere und dem Verbrecher »die Sterblichkeit des Rechts« beweise.

Eduard Gans in diesem Punkt noch folgend, glaubt Marx Anfang der 1840er Jahre aber, dass sich das Recht schließlich doch mit aller Macht gegen jedes Gesetz durchsetzen wird, das den Namen »Gesetz« nicht verdient, weil es sich gegen seine begriffliche Bestimmung der »allgemeinen und authentischen« Wahrheit »über die rechtliche Natur der Dinge« verweigert. Geschehe das nicht mittels Einsicht, dann geschehe es mittels der Konsequenzen, die das sogenannte Gesetz heraufbeschwört: »Ihr habt die Grenzen verwischt, aber ihr irrt, wenn ihr glaubt, sie seien nur in euerem Interesse verwischt. Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist.« Wie bei Gans entfaltet hier die ideale Seite der Geschichte ihre Wirkung nicht nur über den philosophisch informierten Beamtenapparat des Staates oder den Landtag als Gesetzgeber, der ihr schließlich im konkreten Fall enttäuschenderweise entgegensteht. Die geschichtliche Handlungsmacht ist breiter verteilt und erfasst auch das Volk mit seinen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, das sich – so die Marx’sche Hoffnung – dem Staat mit seinen Gesetzen und bürgerlichen Eigentumsrechten verweigern oder sogar widersetzen kann.

Mit seiner Argumentation für die Beibehaltung der alten Raffholzrechte will Marx sich aber nicht zum Verteidiger des Gewohnheitsrechts schlechthin aufschwingen. Die Debatte zeigt für ihn vielmehr schlagend, dass bei den Rechten der Ärmsten auf das Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden müsse, weil »das Dasein der armen Klasse selbst bisher eine bloße Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft ist, die in dem Kreis der bewussten Staatsgliederung noch keine angemessene Stelle gefunden hat«. Mit anderen Worten, die Existenz der »armen Klasse« ist das Zeichen für die Unvernunft, die der bürgerlichen Gesellschaft und der ihr entsprechenden staatlichen Ordnung innewohnt. Und das offenbart eine empfindliche Lücke in der Hegel’schen Konzeption einer freiheitlichen Rechtsordnung, für die die Landtagsdebatte das Symptom ist.

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Doch nicht nur die politische und gesellschaftliche Entwicklung blieb hinter den Erwartungen zurück, die die Hegel’sche Philosophie geweckt hatte. Auch auf dem akademischen Feld waren herbe Rückschläge zu verzeichnen, die die Junghegelianer ganz persönlich trafen. Marx hatte nicht ganz freiwillig eine publizistische statt einer akademischen Laufbahn eingeschlagen. Für ebenso radikale wie kompromisslose Junghegelianer gab es inzwischen keinerlei Chance mehr, an einer Universität angestellt zu werden.

Wie sich die akademische und gesellschaftliche Lage entwickelt hatte, zeigte sich auch daran, dass nach dem frühen Tod von Gans 1839 auf dessen Lehrstuhl in Berlin Friedrich Julius Stahl folgte. Stahl bekämpfte den von Gans nahegelegten Republikanismus, der mit Hegels Philosophie – um das Mindeste zu sagen – kompatibel war, mit einer Theorie, die auf die Stärkung der persönlichen Autorität des Monarchen zielte. Obwohl sich auch in Stahls theoretischen Konzepten Einflüsse Hegels finden lassen und er beispielsweise den Staat als Rechtsstaat auffasste, »schloss«, wie Warren Breckman herausgestellt hat, »die Unteilbarkeit monarchischer Souveränität aus, dass die Idee des Parlaments oder, was das betrifft, vernunftgeleitete öffentliche Debatten eine wirksame Rolle spielen konnten, wenn es darum geht, die Stabilität der rechtlichen Normen zu bewahren. Stattdessen musste sich Stahl ganz auf die Selbstbeschränkungen des Monarchen verlassen. […] Die Autorität des Monarchen durchdringt alle politischen und gesellschaftlichen Institutionen, aber sie überschreitet diese insofern sie als monarchische nicht an sie gebunden ist. Stahl besteht darauf, dass in Krisenzeiten die Maxime: In dubio pro rege [Im Zweifel für den König], alle Normen übertrifft.«

Sollte wenig später die Debatte um das Holzdiebstahlsgesetz beweisen, dass die Verwirklichung der Vernunft nicht als Resultat von Parlamentsdebatten allein zu erwarten war, propagierte Stahls politische Theorie die offene Abkehr vom liberalen Erbe der Hegel’schen Philosophie. Die Hegel’sche Linke reagierte auf diese Herausforderung zunächst einmal ihren Möglichkeiten entsprechend publizistisch. Dabei modifizierte sie Schritt für Schritt ihre Haltung zu Kirche und Staat. Zunächst hatte es für die Junghegelianer nämlich noch so ausgesehen, als sei der Protestantismus mit seiner Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung und der Betonung des persönlichen Glaubens – wie von Hegel analysiert – ein geschichtlicher Anknüpfungspunkt für die vollständige Realisierung der Freiheit, doch nun wurde unter dem Banner des protestantisch-christlichen Staates die Restauration betrieben. »Freiheit ist für Stahl nur noch gut und richtig, wenn sie die gegebene Ordnung bestärkt, aber sie ist sündig und zu bestrafen, wenn sie die Selbstsüchtigkeit gegen die äußeren Autoritäten bejaht.« (Breckman)

Als die jungen Anhänger der Hegel’schen Philosophie mit ihren universitären Karrieren in eine Sackgasse geraten und auch ihre außeruniversitären Publikationen mehr und mehr von der Zensur unterdrückt werden, fangen sie daher an, sich von Hegel zu distanzieren. Aber das heißt nicht, dass sie auf die Argumentation der Restauration einschwenken. Sie beginnen vielmehr jene Elemente in Hegels Philosophie zu denunzieren, die scheinbar oder tatsächlich von Denkern wie Stahl übernommen werden können. Bezüglich der Religion propagieren sie den offenen Atheismus, und aus der Hegel’schen Kritik wird die Kritik des Hegel’schen Staatsrechts, die Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie überhaupt. Kategorien wie das Beamtentum, die konstitutionelle Monarchie und das Eigentum sind der Gegenstand dieser Kritik, die darauf gerichtet ist, das Hegel’sche Erbe zu bewahren, indem sie es in betont herausfordernder Weise überbietet.

Doch bald schon zeigt sich in diesen Auseinandersetzungen eine weitere Schwäche der Hegel’schen Kritik. Die Republik und die Verwirklichung der Freiheit lassen sich nicht herbeischreiben, und die Hegel’sche Philosophie benennt abseits des Staates kein konkretes gesellschaftliches Subjekt, das den philosophischen Reflexionen zur Realität verhelfen könnte. In einem der Manuskripte von Marx und Engels, die später unter dem Titel Die deutsche Ideologie editorisch zusammengefasst wurden, lässt sich das Bedauern über diese Schwäche vernehmen, wenn die »Auflösung der Hegelschen Schule in eine allgemeine Zänkerei« konstatiert wird: »das Theatrum mundi beschränkt sich auf die Leipziger Büchermesse, & die gegenseitigen Streitigkeiten«.

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Wer verstehen will, worum es in Marx’ rastlosem Denken geht, das sich Unmengen an historischem und wissenschaftlichem Material einverleibt, das Seite um Seite mit Exzerpten und Entwürfen füllt, von denen viele überhaupt erst postum veröffentlicht wurden und manche bis heute nicht veröffentlicht sind, das sogar eine ganze Wissenschaft, die Politische Ökonomie, neu begründen will und dennoch zu keinem Abschluss kommt, wer in dieses Monument eines unermüdlichen Forschens eindringen will, muss die Problematik verstehen, die sich an seinem Anfang stellte und deren Unabweisbarkeit den Antrieb des Schreibens, Umschreibens und Aufs-Neue-Beginnens bis zum Ende dieses produktiven Lebens geliefert hat.

Wenn Marx sich mit geschichtlichen Vorgängen oder den Ereignissen seiner Zeit befasst, dann sucht er kein einzelnes Prinzip wie Hegels Verwirklichung der Freiheit, keine Gesetzmäßigkeiten, die die Geschichte prognostizierbar machen. Marx verabscheute den Schematismus bei der Darstellung historischer Ereignisse geradezu. Er versucht vielmehr, die Kräfte zu verstehen, die das Geschehen antreiben, sowie jene, die immer wieder zur Niederlage der Revolution führen. Aber im Feld dieser Kräfte nimmt Marx schon ziemlich früh eine besondere Struktur wahr, die die Gesellschaft seiner Zeit dominiert. Diese Struktur ist die Ökonomie, die Systematik der Regeln, nach denen das individuelle und das gemeinsame, gesellschaftliche Leben materiell produziert und reproduziert werden. Auch diese Regeln sind wie die politischen Regeln von Menschen gemacht, aber sie haben eine besondere Qualität, die dazu führt, dass sie sich gegenüber ihrer willentlichen Veränderung abschließen.

Ist das Problem, vor dem Marx zunächst mit den Junghegelianern steht, dass sich die von der Hegel’schen Philosophie genährten Hoffnungen auf eine Verwirklichung der Freiheit nicht erfüllen, so führt ihn die Beschäftigung mit der kapitalistischen Ökonomie auf ein Feld, das zu erklären vermag, auf welch komplexe Weisen die Verwirklichung der Freiheit scheitern kann. Die Ökonomie des Kapitalismus soll nämlich einerseits Freiheit verwirklichen, doch die spezifische Weise, in der die Freiheit hier verwirklicht wird, erzeugt ein Feld von Gesetzmäßigkeiten und Abhängigkeiten, denen die scheinbar Freien wie einer Naturgewalt gegenüberstehen, die über sie hereinbricht.

Die Eigenschaft der ökonomischen Zusammenhänge, ein Feld der Eigengesetzlichkeit zu bilden, hat Marx nicht entdeckt. Sie war ein Merkmal, das die Wissenschaft der Politischen Ökonomie prägte, die sich im 18. Jahrhundert neu entwickelte. Die Politische Ökonomie bricht mit wesentlichen Prinzipien der politischen Ordnung ihrer Zeit, indem sie davon ausgeht, dass sich das Ökonomische den Versuchen entzieht, es politisch zu beherrschen. »Die Wirtschaft […] verstanden als Praxis, aber auch als Art und Weise des Eingreifens der Regierung, als Handlungsform des Staates oder des Souveräns […] kann daher nur kurzfristige Absichten haben, und wenn es einen Souverän gäbe, der behauptete, langfristige Pläne zu haben, einen globalen und umfassenden Blick, dann würde dieser Souverän immer nur Trugbilder sehen. Die politische Ökonomie zeigt in der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich den Fehlschluß der vollständigen politischen Erfassung des Wirtschaftsprozesses«, fasst Michel Foucault diese Abtrennung der Ökonomie vom Bereich souveräner Verfügungsgewalt zusammen.

Foucault zieht aus der Eigengesetzlichkeit der ökonomischen Struktur, ihrem Funktionieren ohne einen souveränen Willen, der sie als Ganze erfassen und beherrschen könnte, den Schluss, die Politische Ökonomie sei »eine atheistische Disziplin; […] eine Disziplin ohne Gott; […] eine Disziplin ohne Totalität«. Für Marx aber ist diese Eigenschaft ein Zeichen für den religiösen Charakter der kapitalistischen Alltagspraktiken. Zwar kennt die Politische Ökonomie keinen Gott, der alles sieht und überwacht, aber dafür kennt sie mystische Fetische, tote Dinge, die Eigenschaften des Lebendigen haben sollen. Plötzlich hat das Kapital – Produkt von geleisteter Arbeit, aber selbst bloß noch eine Ansammlung von Dingen – die Fähigkeiten zu produzieren, zu organisieren, zu berechtigen und sich fortzupflanzen.

So wie für Gans die Rechtsphilosophie erst beginnt, wenn die Menschen selbst die Gesetze machen und kein Gott, so beginnt für Marx die Politische Ökonomie als wirkliche Wissenschaft erst, wenn sie die Fetische entlarvt und eine Perspektive eröffnet, sich die ökonomischen Verhältnisse wieder politisch anzueignen, um so der Freiheit Geltung zu verschaffen. Das heißt, der Gegenstand der Politischen Ökonomie ist für Marx tatsächlich ein politischer Gegenstand, etwas, das historisch entstanden ist und auch in seiner Gesamtheit historisch verändert werden kann. Die Analyse der Politischen Ökonomie liefert deshalb für ihn keine ewig gültigen Sätze, sondern Beschreibungen einer spezifischen Struktur, die es in ihrem Funktionieren und ihren materiellen wie geistigen Wirkungen zu verstehen gilt.

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Wenn Marx in irgendeiner Hinsicht mit Hegel brechen wird, dann tut er dies am ehesten an dem Punkt, an dem er in den ökonomischen Strukturen nicht länger das Vernünftige sucht, das ihnen innewohnt, sondern die Verkehrungen und Mystifikationen, die die Verwirklichung von Freiheit in einem umfassenden Sinn verhindern, indem sie Freiheit in einer spezifischen Form realisieren.

Der Bruch, den Marx in dieser Frage sucht, ist kein völliger Bruch mit Hegel. Eher handelt es sich um eine Komplizierung des Hegel’schen Ansatzes, in dem die geschichtlich entstandenen Formen der Institutionen jeweils Momente der Freiheit realisieren. Denn nun zeigt die kritische Analyse dieser Momente, dass sie selbst zu Hindernissen werden können. Staat und Eigentum, die bei Hegel unverzichtbare Bestandteile einer anspruchsvollen Konzeption von Freiheit waren, werden so problematisiert. Marx stellt immer noch die Frage nach der Verwirklichung der Freiheit. Aber er rekonstruiert die Freiheit nicht mehr wie Hegel als eine Idee, die ihre Wirksamkeit und Vernünftigkeit in der Geschichte bereits erwiesen hat und nur noch begriffen zu werden braucht, um mit vollem Bewusstsein verwirklicht werden zu können. Er will keine bloße Zusammenstellung von Konzepten oder abstrakten Prinzipien wie Solidarität, Brüderlichkeit, Liebe oder Egoismus erfinden, die angeblich das Problem der Verwirklichung der Freiheit lösen. Solche Entwürfe sind für ihn schnell bloße Utopie und als solche – darin bleibt er Hegel treu – zu verwerfen.

Marx sucht stattdessen die Auseinandersetzung mit der Weise, wie sich die Gesellschaft, in der er lebt, erhält. In dieser gesellschaftlichen Organisation stecken die Keime, aus denen die Unfreiheit hervorwächst. Jede alternative Vergesellschaftung muss ebenso eine Weise finden, in der sie sich selbst erhalten kann, in der sie alles zu produzieren vermag, was sie aktuell benötigt und was es ihr erlaubt, sich zu entwickeln. Und Marx sieht recht bald die Gefahr, dass alle Alternativentwürfe, die den aktuellen Modus der Reproduktion der Unfreiheit nicht durchschaut haben, diese Keime in die angeblich neue Gesellschaft einschleppen. Deshalb nähert er sich der Verwirklichung der Freiheit auf einem anderen Weg. Er sucht die Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen. Und er sucht diese Hindernisse nicht auf abstrakte Weise, sondern will sie ganz konkret begreifen, in ihrer Vielfalt, in ihrer Komplexität und ihrem Zusammenhang. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum dieses Denken an kein Ende kommt. Das Problem, vor dem es steht, lässt sich zwar benennen, aber es lässt sich nicht so leicht identifizieren. Marx fasst es im Laufe seiner Analyse immer wieder neu. Manchmal geht es darum, es einfach noch präziser zu beschreiben, oft ändert sich aber auch der Gegenstand. Marx bricht mit Paradigmen, verwirft Ansätze und Darstellungsweisen, aber immer mit dem Ziel, eine Kritik der Gesellschaft zu gewinnen, die die praktische Schwäche der Hegel’schen Philosophie überwindet. Marx’ Problem besteht also darin, die Prinzipien zu erkennen, nach denen die moderne kapitalistische Gesellschaft funktioniert, weil diese Prinzipien sachliche Zwänge und eine Deformation des Bewusstseins erzeugen, die die Verwirklichung der Freiheit aufhalten. Gegen Sachzwang und Bewusstseinsdeformation will Marx Erkenntnisse setzen, die eine radikale Praxis der Gesellschaftsveränderung, die Revolution, ermöglichen. Doch um so radikal zu werden, gilt es, zuerst die richtige Ebene und ein angemessenes Maß an Komplexität für die Kritik zu finden.