Nach der Einigkeit vom Februar

Plakat der Kommunistischen Internationale zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution
Plakat der Kommunistischen Internationale zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution Foto: By Иван Васильевич Симаков / Ivan Vasilyevich Simakov ( 1877—1925) [1] (http://red-patriot.protiv.tv/photo/11-0-143) Public Domain

Die Oktoberrevolution wurde von der Unzufriedenheit der Massen angetrieben, die nach dem schleichenden Zerfall der Errungenschaften des Februars ausbrach.

Während der Februarrevolution hatte im russischen Reich noch eine ungekannte Einigkeit geherrscht. Alle Klassen, Ethnien und nationalen Gruppen begrüßten den Sturz Nikolas II. Armenier, Tschetschenen, Tschuktschen, Finnen, Georgier, Kasachen, Polen und Usbeken feierten den Sturz des Zaren gemeinsam mit Bauern, Intellektuellen, Arbeitern, Managern, Bänkern und sogar einigen Großgrundbesitzern.

Doch diese Solidarität konnte keinen Bestand haben.

Ein Jahr später war das zaristische Russland gespalten, und diese Zersplitterung setzte sich bis zu ihrem Höhepunkt 1919 fort. Zu diesem Zeitpunkt nahmen mindestens 20 unterschiedliche Entitäten politische Körperschaften auf dem gesamten Gebiet oder zumindest auf einem Teil des zuvor geeinten russischen Reiches für sich in Anspruch. Der sich daraus entwickelnde Konflikt führte zu den bis dahin barbarischsten Vorfällen von Antisemitismus in Europa und kostete mehr als zehn Millionen Menschen das Leben.

Die Polarisierung der Bevölkerung des Reiches veränderte die Geschichte, und obwohl Historiker den Konsequenzen dieses Ereignisses einige Aufmerksamkeit schenkten – insbesondere der Ausbreitung der nationalen Selbstbestimmung und dem Sieg der Bolschewiki – ignorierten sie im Großen und Ganzen die ursächlichen Prozesse.

Zu untersuchen, was mit der Einigkeit des Februars geschehen war, hilft uns, die Russische Revolution besser zu verstehen und gibt uns neue Einsichten in die Rolle der Ökonomie und des Soziallebens für den politischen Radikalisierungsprozess.

Die Fassade bröckelt

Zunächst war die Unterstützung für die Februarrevolution überwältigend, doch diese Allianz zeigte schnell erste Risse. Es herrschte bei linken Politikern keine Einigkeit in der Frage des Weltkriegs, doch hatten sie ohnehin kaum Einfluss auf die erste Übergangsregierung. Tatsächlich war die Stimmung in den revolutionären Zentren Petrograd und Moskau, in den anderen großen Städten sowie auf den Dörfern größtenteils patriotisch.

Oft übersehen Historiker, in welch hohem Maß die Februarrevolution auch eine kriegsbefürwortende Haltung einschloss, zumindest insofern die russische Bevölkerung das Gebiet ihres Reiches gegen deutsche und alliierte Angriffe verteidigen wollte. Der Krieg hatte zwar seine Popularität verloren, doch war niemand zur Kapitulation bereit. Die Staatsbürger fühlten sich dazu verpflichtet zu kämpfen, doch sie lehnten all jene ab, die sie für diese Verpflichtung verantwortlich machten – insbesondere den Zaren, die Zarin und die als Deutschland-freundlich geltende Partei an der Spitze des Hofs und der Regierung. Zumindest zu Beginn stürzten viele Revolutionäre Nikolas mit dem Ziel, den Kriegsanstrengungen neue Energien zu verleihen, und nicht um den Zerfall des Reiches herbeizuführen.

Natürlich gingen auch Kriegsgegner im Februar auf die Straße und marschierten neben den Kriegstreibern. Doch wie uns der geniale Chronist der revolutionären Stadt N. N. Suchanow beschreibt, wurden diese Kriegsgegner oft bedroht und von den Demonstrationen ausgeschlossen. Niemand außerhalb der Elite wollte den Krieg, doch die Vorstellung einer Besatzung durch die Deutschen mochte die einfache Bevölkerung noch weniger. Sie wollten den Krieg beenden, aber eine Kapitulation um jeden Preis vermeiden. Deshalb glaubten sie, dass diejenigen Aktivisten, die Frieden forderten, einer pro-deutschen Verschwörung angehörten.

Auch andere entscheidende Differenzen kamen schnell zum Vorschein. Alle wichtigen Parteien akzeptierten die Notwendigkeit einer demokratisch gewählten verfassungsgebenden Versammlung, doch die Einigkeit darüber beantwortete noch nicht die unmittelbar drängende Frage, wer bis dahin regieren soll.

Die Linke erkannte zwar die neugeformten Sowjets als die zentralen Institutionen, doch sie sah noch nicht die Doppelmachtsituation, die sich später herausbilden würde. Tatsächlich schien die Übergangsregierung die einzig vorstellbare Struktur zu sein. Sie entstand aus der nationalen Einigkeit im Februar und versprach zu regieren, bis eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden würde. Erst als Lenin zurückkehrte, kamen ernsthafte Zweifel an dieser Vorstellung auf.

Währenddessen hatten die Architekten der Abdankung des Zaren – eine Gruppe liberaler Politiker aus der Duma, erfahrene Kommandeure der Armee und Mitglieder der Elite – keinerlei gemeinsame Vorstellung darüber, was nach dem Sturz von Nikolas passieren sollte. Viele von ihnen, einschließlich Pawel Milijukow, wollten einen neuen Zaren: Nikolas’ Bruder Michail. Doch der unerwartet starke Widerstand gegen diese Idee desillusionierte die Monarchisten schlagartig. In einem berühmten Vorfall schrien Arbeiter Milijukow von der Bühne, als er die Idee eines neuen Zaren befürwortete.

Die Eliten waren sich einig, dass man eine Ausbreitung der Revolution verhindern müsse und sie auf keinen Fall stärken dürfe. Die völlige Zerstörung dieser Illusion ist wichtiger Teil in der Geschichte der Polarisierung. Die Hoffnung auf eine nationale Einheit gegen die deutsche Invasion stellte sich sehr schnell als naiv und unzureichend heraus.

Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung die Februarrevolution befürwortete, waren die Gründe dafür widersprüchlich. So hofften Großgrundbesitzer auf erneuerte Kriegsanstrengungen sowie darauf, dass eine Welle des Chauvinismus die Revolution verdrängen würde. Führer der Armee hofften auf verbesserte Moral, und damit auf militärische Erfolge im nächsten Jahr. Fabrikbesitzer hofften, sie würde die Unzufriedenheit der Arbeiter beruhigen, während die Arbeiter darauf hofften, dass sich ihre Lebensbedingungen endlich verbessern würden. Die Bauern wollten die Großgrundbesitzer einschränken – und schlussendlich stürzen. Diese explosiven Streitpunkte wurden sofort offensichtlich.

Eine zögerliche Regierung

Die Provisorische Februar-Regierung verkörperte den Geist des Februars. Während andere die Politik dieser Regierung untersuchten, bin ich mehr an ihrer weiteren Entwicklung interessiert. Erstaunlicherweise haben wir hundert Jahr später immer noch keinen eindeutigen Bericht über ihre Handlungen.

Ursprünglich bestand die Regierung aus Liberalen, die daran glaubten, dass sie das Land zur Demokratie führend müssten. Doch dieses Versprechen konfrontierte sie mit einem fatalen Dilemma: Wenn sie ein demokratisches System einführen würden, würden die Wähler sie mit aller Wahrscheinlichkeit zugunsten der Linken im Stich lassen. Seit den ersten Momenten der Revolution unterstützte die Mehrheit, ungefähr 80 Prozent, linke Parteien wie die Sozialrevolutionäre und die Sozialdemokraten.

Die Liberalen der Übergangsregierung, von den Konstitutionellen Demokraten und den Oktobristen bis zu ihren nationalen Verbündeten, wussten, dass sie bei nationalen Wahlen ausgelöscht werden würden. Auch die Linke wusste das, und es machte sie misstrauischer, ob ihre Koalitionspartner ihre Versprechen erfüllen würden oder nicht. Nichtsdestotrotz hielt die Einheit aller anti-zaristischen Kräfte eine kurze Zeit an.

Der erste wichtige Bruch mit dieser Einigkeit kam von Lenin, der, aus dem Exil zurückgekehrt,„keine Unterstützung für die Übergangsregierung“ proklamierte. Auch wenn er weit davon entfernt war, einen unmittelbaren Umsturz zu fordern, ging er doch den nächsten logischen revolutionären Schritt.

Seinem Verständnis nach war das Bündnis mit der Bourgeoisie sinnvoll im Kampf gegen den Zaren. Doch sobald der Zar gestürzt war, wurde die Bourgeoisie der Hauptfeind des Volkes. Radikale revolutionäre Kräfte sollten nicht mit ihr verbunden sein. Lenin war davon überzeugt, dass der reformistische Sozialismus der Linken das Proletariat der Gnade des Kapitalismus auszuliefern würde.

Und während sich die ideologische Polarisierung der politischen Elite langsam entfaltete – und immer weiter an Fahrt aufnahm – trieb ein paralleler Prozess unter den Massen die Revolution vorwärts.

Militärische Polarisierung

Wir sollten allerdings festhalten, dass diese Polarisierung – eine unterschätzte Konsequenz der späten Abschaffung der Leibeigenschaft – seit langer Zeit die Norm der russischen Gesellschaft gewesen war. Schließlich konnte kaum etwas den Abgrund zwischen Großgrundbesitzern und Leibeigenen überwinden. Und auch wenn die russische Gesellschaft und ihre Wirtschaft sich im späten 19. Jahrhundert weiter entwickelt hatte, trennte die einfache Bevölkerung noch sehr viel von der Elite.

Diese traditionelle Polarisierung setzte sich während der Revolution in einem zentralen Gebiet fort: dem Militär. Wie viele Studien bemerkt haben, war das Militär hierarchisch streng geordnet, und die Offiziere setzten diese Hierarchie mit harter Disziplin durch.

Die Wehrpflicht hatte diese Situation zwar etwas entspannt, da eingezogene Intellektuelle und Offiziere der Mittelschicht Sympathien mit den niedrigeren Rängen hatten. Doch sie wandten sich damit gegen viele ihrer Kollegen, die glaubten, sie müssten die Soldaten in die Unterwerfung prügeln oder gar, wie es Kornilow vorschlug, bei mangelnder Disziplin exekutieren.

Nicht einmal der Februar konnte Einheit in das Militär bringen. Während die Nation feierte, übten Soldaten gegenüber ihren härtesten Kommandeuren gewalttätig Vergeltung. Von Anfang an spielten die Soldaten und Matrosen eine entscheidende Rolle in der Revolution, denn ihre Erfahrung begann mit einer Polarisierung, die sich noch verstärkte. Damit waren sie der Bevölkerung auf dem Land und in der Stadt einen Schritt voraus. Doch sie würde bald denselben Weg der Polarisierung gehen: durch eskalierende Gewalt, einem sinkenden Lebensstandard und den plumpen Versuchen der Elite, den revolutionären Impuls einzudämmen.

Der Kampf um Kontrolle

Die außergewöhnliche Macht der russischen Massen, ihr Einfallsreichtum, ihr strategischer Instinkt und ihre Hartnäckigkeit über 1917 hinaus sind in der Geschichte weiterhin unerreicht. Sie sind Aspekte der Revolution, die wir uneingeschränkt positiv werten und anerkennen können. In Dörfern, Fabriken, auf Schlachtschiffen und in den Baracken erreichten außergewöhnliche lokale politische Kämpfe ihren Siedepunkt.

Die hervorstechendsten Beispiele kamen aus der Bauernschaft. In den gebildeten Schichten und bei den sich modernisierenden Eliten herrschte mehrheitlich die Vorstellung vor, dass die Bauern den Fortschritt eher aufhalten würden. Sie stellten die ländlichen Massen als ängstlich und untertänig dar, aber auch als listig, engstirnig und geizig. Sie seien Dummköpfe aufgrund ihrer Tradition, ihrer Religion und ihres Aberglaubens.

Die rechten Intellektuellen und Aktivisten, einschließlich Nikolas II., idealisierten dieselben Qualitäten und glaubten, dass die Bauern ein Bollwerk der traditionellen Werte gegen die Ambitionen der Radikalen seien. Selbst in der Linken teilten viele diese Ansicht und betrachteten die ländlichen Arbeiter als ignorante Konservative, denen es vorrangig darum gehen würde, ihr eigenes kleines Landgut zu sichern.

Marx beschrieb das Bauerntum bekanntlich als die „Klasse, welche innerhalb der Zivilisation die Barbarei vertritt“. Später entwickelte er differenziertere Sichtweisen, doch die Linke war vorrangig mit seinen früheren Aussagen vertraut. Trotzki und Gorki teilten seine Ansicht und hassten die Bauernschaft.

Liberale und andere vertrauten ihnen ebenso wenig und nannten die Bauern temnje ljudi – die dunklen Massen.

Doch im Verlauf des Jahres 1917 überraschten die angeblich so rückschrittlichen Menschen ihre Unterstützer in der Intelligenz mit ihren schlauen revolutionären Aktivitäten. Auch wenn jede Region und jedes Dorf seine konkreten Eigenheiten hatte, teilten diese politischen Eigenaktivitäten in ihren groben Strukturen viele gemeinsame Charakteristiken.

Zunächst vereinten sich die Bauern in Dorfkomitees. Diese Organisationen wurden oft Bauernkomitees genannt, auch wenn es einigen glaubwürdigen und vertrauenswürdigen Nicht-Bauern mitunter erlaubt war, an ihnen teilzunehmen: Lehrer, Priester und selbst Grundbesitzer nahmen an den Aktivitäten der Komitees teil. Die ländlichen Arbeiter schlossen schnell all jene aus diesen Gruppen aus, die versuchten, die Organisation zu dominieren.

Nachdem die Bauern realisierten, dass sie nicht sofort mit Unterdrückung zu rechnen hatten, begannen die Komitees damit, ihre Aktionen zu auszuweiten. Sie sammelten gemeinsam illegal Feuerholz, was immer für Wut bei den Großgrundbesitzern gesorgt hatte. Außerdem begannen sie damit, die Wiesen für sich zu beanspruchen und pflanzten Samen auf privatem Grund. Sie verlangten höhere Löhne und niedrigere Mieten.

Sie erkannten, dass auch wenn sie die Landumverteilung verzweifelt wollten, der Tag der „Schwarzen Umverteilung“ noch nicht gekommen war. Doch als die Monate vergingen und sie noch immer nicht von Vergeltungsmaßnahmen betroffen waren, wurden ihre Aktionen mutiger.

Wir können die Zeit zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase begann mit der Abdankung Nikolas’ und ging bis zum Sommer, in dem die Radikalisierung sich verschärfte. Nach der bewaffneten Unterdrückung der Julitage versuchten reaktionäre und rechte Elemente in der Regierung die Errungenschaften des Volkes wieder rückgängig zu machen. Ironischerweise sorgte dieser Versuch, wie in der Februarrevolution zuvor, für eine erneuerte Radikalisierung.

Vor den Julitagen glaubte die Bauernschaft, dass ihre Siege bis zur Landumverteilung erhalten bleiben würden. Nach Juli erkannten sie jedoch, dass ihre Gegner genau das zu verhindern versuchten. Dies trieb die Bauern – und auch die Arbeiter – dazu, in eine Periode der defensiven Radikalisierung einzutreten, während der sie die Revolution vorantrieben, um sie zu erhalten.

Für die Bauern bedeutete dies, das Land zu enteignen und Gewalt gegen die unbeugsamen und feindlichen Großgrundbesitzer anzuwenden. Die Eskalation der bäuerlichen Aktivitäten von der Formierung der Komitees bis zur gewalttätigen Enteignung des Lands illustriert, auf welche Weise die Polarisierung aktive Form annahm. Es unterstreicht zudem, dass die Versuche, die Revolution zu stoppen, sie nur stärker machten.

Die Aktivität der Arbeiterklasse folgte einem ähnlichen Muster. Im frühen März gewann die städtische Arbeiterklasse langwierige Kämpfe: sie kürzte die Arbeitswoche und errang höhere Löhne. Doch genau wie bei ihren ländlichen Genossen eskalierten die radikalen Aktionen, und die Polarisierung der städtischen Arbeiter wuchs, nachdem deutlich wurde, dass die Regierung ihnen diese Rechte wieder wegnehmen wollte. Mit dem Ende des Sommers und dem Beginn des Herbstes gingen sie weit über Lohnforderungen hinaus. Sie wollten die Kontrolle – und Fabrikübernahmen wurden immer üblicher.

Dank der ausführlichen Arbeit einiger Historiker besitzen wir ein recht gutes Verständnis davon, wie dies geschah. Hauptantrieb der Radikalisierung war nämlich viel eher die Inflation als die Politik. Ihre Lohnerhöhungen vom März waren schnell ausgeglichen und der Druck der Kriegsproduktion, insbesondere in Petrograd, annullierte die Begrenzung der Arbeitsstunden. Schnell ging es den Arbeitern und ihren Familien genauso schlimm schlecht wie immer.

Diese Situation stimulierte Militanz, die im Gegenzug den Widerstand der Arbeitgeber hervorrief, die aus Vergeltung die Fabriken schlossen. Einige Arbeitgeber gaben offen zu, dass die Aussperrungen darauf abzielten, die Arbeiter zu disziplinieren und zu unterwerfen; andere Bosse behaupteten, dass ihnen Benzin oder Rohstoffe fehlen würden, um die Produktion aufrecht zu erhalten.

Die Antwort der Arbeiter überraschte ihre Manager und möglicherweise sogar sie selbst. Anstatt aufzugeben, verschafften sie sich Zugang zu den Fabriken und begannen damit, die Produktion am Arbeitsplatz selbst zu leiten. Es entwickelte sich ein Klassenkampf über den Besitz der Fabriken, und die Arbeitslosigkeit trieb diese Polarisierung voran. Eine Fabrikschließung bedeutete, dass die Arbeiter und ihre Familien – die von mageren Löhnen von Woche zu Woche lebten und keine Ersparnisse besaßen – vor dem Nichts standen.

Während die ländlichen und städtischen Arbeiter ihre Positionen radikalisierten, kämpfte die Regierung darum, ihre Legitimation zu erhalten.

Auf dem Weg zum Oktober

Die entscheidenden Ereignisse in der Stadt und auf dem Land auf dem Weg zum Oktober teilten einen weiteren entscheidenden Aspekt. Je mehr die Übergangsregierung moderate Sozialisten integrierte, um so mehr wandten sich ihre Wähler gegen sie.

Dies erfüllte Lenins Vorhersagen aus dem April. Er argumentierte, dass die Regierung in ihrer Essenz eine bourgeoise, kapitalistische und imperialistische Organisation sei. Als solche, warnte Lenin, sollte sie nicht unterstützt werden. Die für die Übergangsregierung fatalen letzten Wochen zeigten diese vorhergesagten Probleme deutlich.

Die Forderungen der Bauern nach Land eskalierte, doch die Regierung – die aus mehrheitlich sozialistischen Ministern bestand, mit einem hohen Anteil von angeblich bauernfreundlichen Sozialrevolutionären – ignorierte die Landenteignungen oder stellte sich im Namen der nationalen Einheit offen gegen sie. Viele der regionalen Gouverneure, die repressive Maßnahmen anwandten, gehörten selbst zu den Sozialrevolutionären. Die Bauern waren desillusioniert und die Partei spaltete sich in einen moderaten Flügel und einen linken Flügel. Letzterer stimmte schlussendlich mit den Bolschewiki überein und befürwortete die Landenteignungen vollauf.

Etwas Ähnliches passierte in den Fabriken. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre erlaubten die Repression von Streiks und Fabrikübernahmen. Das Ergebnis war, dass sich die Arbeiter den Bolschewiki zuwandten. Indem sie eine Regierung unterstützten, deren kapitalistische Interessen denen ihrer Basis direkt gegenüberstanden, versäumten es die moderaten Sozialisten, der Falle der Übergangsregierung zu entgehen.

Die Geschichte lehrt uns, dass sich die revolutionäre Aktion ebenso sehr aus ökonomischen und sozialen Antrieben entwickeln kann wie aus politischen. Für die einfache russische Bevölkerung auf den Feldern und in den Fabriken war das Elend eine radikalisierende Kraft. Es wurde außerdem deutlich, dass die angebliche nicht-revolutionäre Natur der Bauern und ihr angenommener fataler Lokalismus überwunden werden konnten, wenn die richtigen Bedingungen gegeben waren. Der Staat konnte sich gegen einige wenige Dörfer in Rebellion zur Wehr setzen, doch zehntausende, die sich zu gleicher Zeit erhoben, überforderten die Regierung. Diese Entwicklungen schufen eine Welle der Unruhe, und die Politiker waren gezwunden, die Welle zu reiten.

Als deutlich wurde, dass Lenin und seine Unterstützer die einzige Partei waren, die bereit war, an der Seite der Arbeiter und Bauern zu kämpfen, spülte die Massenbewegung sie an die Macht. Die Russische Revolution war eine echte Bewegung von unten, in der ihre Anführer und Intellektuellen mit den Ansprüchen der Bevölkerung mithalten mussten.

Chris Read lehrt Geschichte an der University of Warwick. Dieser Essay erschien zuerst als Teil der Jacobin Magazine-Reihe zur Russischen Revolution. Der Beitrag erscheint in deutscher Sprache in Kooperation von Rosa-Luxemburg-Stiftung und Jacobin.

Übersetzung: Johannes Liess / Redaktion: Einde O’Callaghan / Korrektur: Jasper Stange