Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse

Poesie der Klasse Cover Matthes & Seitz ©

Eiden-Offes Buch Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats ist insofern ein Glücksfall, als es zur rechten Zeit kommt wie Didier Eribons Rückkehr nach Reims. Eribons Buch wurde ja erfolgreich, weil es einer verunsicherten Linken bei der Selbstverständigung half, warum mittlerweile Parteien wie der Front National auch und gerade von denjenigen Bevölkerungsteilen gewählt werden, die in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit noch von den Kommunistischen Parteien angesprochen wurden. Eribon stellt fest, dass er die proletarische Welt seiner Kindheit und Jugend, mithin die Welt seiner Eltern, verdrängt und verleugnet hat, ja dass er eigentlich gar nichts mehr weiß über dieses Leben seiner Eltern, die damals Anhänger der Kommunistischen Partei Frankreichs waren und dann den Front National wählten.

Rückkehr an den Anfang im Durchqueren der Geschichte

Eiden-Offes Buch Die Poesie der Klasse unternimmt eine vergleichbare, aber radikalere Rückkehr. Es kehrt zurück zu den Anfängen eines Proletariats, über das wir, wie Eribon über die Welt seiner Eltern, eigentlich gar nichts mehr wissen, die verdrängt und verleugnet wurde und von der wir nur diejenige „offizielle“ Geschichte kennen, die einerseits vom Marxismus und andererseits von der bürgerlichen Geschichtswissenschaft geschrieben wurde. Eiden-Offe folgt insofern den großen sozial-historischen Studien des britischen Marxismus, vor allem natürlich E. P. Thompsons bahnbrechender Studie The Making of the English Working Class, er folgt aber auch Jacques Rancières Die Nacht des Proletariats oder Karl-Heinz Roths Die „andere“ Arbeiterbewegung.

Dieses Zurückkehren zu den historischen Anfängen der Klasse des Proletariats ist insofern zeitgemäß, als zurzeit von der Wiederkehr dieser Klasse gesprochen wird. Das betrifft zum einen die fortschreitende Proletarisierung der Welt, d.h. die weltweit steigende Zahl von Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, vor allem in den sog. Schwellenländern, aber auch die Wiederkehr ungesicherter, atypischer Arbeitsverhältnisse in den klassischen Industrienationen – wobei diese Wiederkehr auch herausstellt, dass solche sog. ungesicherten und atypischen Arbeitsverhältnisse eigentlich typisch und normal sind für den Kapitalismus.

Zum anderen wird aber auch von einer Wiederkehr der Klasse als soziales Phänomen und politisches Subjekt gesprochen, auch und gerade in den klassischen Industrienationen, aber hier eben verbunden mit der Enttäuschung darüber, dass die Subalternen und die Verlierer des neo-liberalen Klassenkampfes empfänglich sind für völkisch-nationalistische, protektionistische und religiöse Parteien und Bewegungen. Was Eiden-Offe zufolge jedenfalls heute wiederkehrt, etwa im viel beschworenen Prekariat, das ist die ebenso bunte wie zerstreute und unübersichtliche Zusammensetzung der Klasse, damals bestehend aus „verarmten Handwerkern, städtischem Pöbel, umherziehenden ländlichen Unterschichten, bankrotten Adligen und nicht zuletzt freigesetzten prekären Intellektuellen“.

Die Poesie der Klasse kehrt zurück zu einem Anfang, der chronologisch noch vor der ökonomiekritischen Bestimmung der Klasse durch Karl Marx und noch vor ihrer Klassifizierung durch die bürgerliche Soziologie liegt. Der Anfang liegt mithin noch vor der Formierung und Organisierung der Klasse durch die großen Massenparteien und -organisationen einerseits und durch die Dynamik der Industrialisierung andererseits, mithin lange bevor die Klasse und ihre politischen Repräsentanten dem nationalen Taumel des Ersten Weltkriegs unterlagen und lange bevor schließlich der Realsozialismus im Namen der Arbeiterklasse Staatspolitik machte und sich daran überhob.

Die Rückkehr muss allerdings eben diese lange und wechselvolle Geschichte, die auf den Anfang gefolgt ist, durchqueren, und es ist die Stärke des Buches, dass diese wechselvolle Geschichte der Klasse im Problembewusstsein gleichsam implizit anwesend ist. Dieses Problembewusstsein betrifft bereits den Ursprung des Proletariats, der im Untertitel angekündigt wird als eine „Erfindung“ – im Buch dann beschrieben als Selbsterfindung durch Poesie und zugleich die Poesie dieser Selbsterfindung. Schwungvoll werden die wichtigsten Stimmen und Texte aus der Zeit vor allem des – hier weit gefassten – Vormärz aus Flugschriften und Zeitschriften, aus Gedichten und vergessenen Romanen vorgestellt, mit unverhohlenen Sympathiebekundungen an einzelne Autoren wie Wilhelm Weitling, Georg Weerth oder Ludwig Tieck.

Die Erfindung des Proletariats wird dadurch eher beschrieben und wiedergegeben als historisch rekonstruiert. Oder vielmehr ist dieses Beschreiben die notwendige und angemessene Form zur historischen Rekonstruktion eines Anfangs, dem die gesamte Ambivalenz der Poesie innewohnt: Poesie ist die schöne Wirkung gelungener Texte und die Schönheit eines gelungenen Moments, sie geht aber auch auf die Grundbedeutung des griechischen Wort poiesis zurück: Erschaffen.

Die Funktion des Romantischen: Das Imaginäre und das Anachronistische

Das Problembewusstsein des Buches betrifft des Weiteren den durchaus heiklen Untertitel „romantischer Antikapitalismus“. Das Romantische im Antikapitalismus hat Kritik auf sich gezogen durch seine – nicht nur in Deutschland – offene Flanke zum verkürzten Antikapitalismus und durch seine reaktionäre Aneignung. Eiden-Offe sieht in dieser Aneignung weder eine folgerichtige Übernahme noch den Verlust einer Phase der Unschuld durch unrechtmäßige Entwendung. Es geht ihm vielmehr durchaus unromantisch darum, dem Impuls zu folgen, den das Romantische dem politischen Kampf und der Organisierung gegeben hat. Dieser romantisch-antikapitalistische Impuls des Vormärz führte innerhalb der Typologie der Kampfformen zunächst zum Sozialrebellentum, zur Maschinenstürmerei und zur direkten Aktion, bevor solche Kampfformen im Zuge der Formierung der großen sozialistischen Bewegungen und ihrer Organisationen vom klassenbewussten streikenden Massenarbeiter verdrängt wurden.

Überhaupt zeichnen sich romantischer Antikapitalismus einerseits und die Frühformen sozialistischer Organisierung und Kämpfe andererseits noch durch dieselbe Ambivalenz und Ungeschiedenheit aus, die dem Begriff Poesie innewohnt. So war etwa das im Buch beschriebene Blumenzüchten ebenso Flucht aus dem elenden grauen Arbeitsalltag wie dessen Abmilderung durch Kontemplation, und Flucht wie Kontemplation waren wiederum sowohl ein Kräftesammeln für die revolutionären Erhebungen als auch Vorboten der späteren Verkleinbürgerlichung im sozialdemokratischen Schrebergarten des Westens wie in der realsozialistischen Datsche des Ostens.

Auch die Vorliebe für das Erstellen von Listen zum Zweck der Bestimmung, welche gesellschaftlichen Gruppen denn eigentlich zur Klasse gehörten und zu agitieren wären, waren ebenso unabschließbares Aufzählen im Ringen um Selbstverständigung wie Beginn einer Klassifizierung und das Feststellen von Zugehörigkeit. Hier widersteht Eiden-Offe, obwohl vom Wunsch einer Vergegenwärtigung und Aktualisierung getragen, der Versuchung, das Unabschließbare und Vielfältige emphatisch in dem wiederkehren zu sehen, was aktuell als „Multitude“ oder als „the dangerous class precariat“ (Guy Standing) diskutiert wird. Wiederkehrend ist eher, dass Prekarität und Unübersichtlichkeit eine Proletarisierung teilen, der, bei aller Vielfalt in der Klassenzusammensetzung, alle ausgesetzt sind.

Es geht Eiden-Offe neben dem Impuls, den der romantische Antikapitalismus dem Politischen gegeben hat, auch um die Funktion des Romantischen. Wie das Romantische überhaupt ist auch das Romantische des Anti-Kapitalismus Gefühl des Verlusts von etwas, das man, bei allem Klagen über ökonomische Verelendung und politische Rechtlosigkeit, in Wahrheit nie besessen hat. Dieser Verlust dessen, was nie anwesend war, ist bei Offe die eigentliche Erfindung des romantischen Antikapitalismus. Es ist allerdings auch genau das, was dem klassischen Marxismus als das Utopische galt und gemäß Engels‘ Formulierung „zur Wissenschaft gebracht“ werden musste. Eiden-Offe hebt dagegen diese eigentliche Erfindung auf doppelte Weise auf. Zum einen ist das Romantische als das „Imaginäre“ wirksam für „Konstitution und Klassenkampf“ (Krahl), zum anderen ist es das Anachronistische, aber nicht im Sinne des Überholten und Überkommenen oder auch einer unrealistischen – utopischen – Erwartung; vielmehr ist das, was als anachronistisch erscheint, ebenso überschreitend wie unabgegolten, ebenso unzeitgemäß wie insistierend.

Diesem Imaginären und Anachronistischen gilt wohl Eiden-Offes eigentliches Interesse. Er verfolgt daher keine bloße Ehrenrettung einer weitgehend vergessenen oder vielmehr unbekannten Phase, bevor die große, „offizielle“ Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen und Parteien anhob. Es kommt ihm vielmehr darauf an zu verfolgen, auf welche Weise das Imaginäre und Anachronistische sich weiterhin, auch als die frühe, heiße und utopisch-träumerische Phase der Poesie und ihre performative Kraft von dem Marx der Kritik der politischen Ökonomie durch eine nüchterne ökonomietheoretische Analyse abgelöst wurde – auf welche Weise das Imaginäre und Anachronistische sich weiterhin geltend machte, sei es in der Strenge und Systematik der Marx‘schen Kategorien, sei es in der erst kämpferischen, dann starren Rhetorik des Parteikommunismus, oder sei es in der gediegenen Prosa des sozialdemokratischen Reformismus.

Auch Marx selbst wäre demnach noch ambivalent. Setzte er in der Phase des Vormärz den romantischen Impuls noch in politische Agitation um, etwa im Zuge der revolutionären Erhebungen um 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei, so scheinen die ökonomiekritischen Schriften der Folgejahre nur mehr der Fixierung des Marxismus auf den „doppelt freien Lohnarbeiter“ und das – männlich konnotierte – Industrieproletariat den Weg zu ebnen. Andererseits lebt auch in diesen späten ökonomiekritischen Schriften das Verlangen nach einer Überwindung aller Klassen und nach einer Art Selbstabschaffung des Proletariats fort, und hier ginge es mit Eiden-Offe zwar wohl weniger darum, einen ursprünglichen romantischen Impuls bei Marx freizulegen, wohl aber darum, ihn von bestimmten Beschlagnahmungen zu befreien.

Und tatsächlich geht das Buch auch auf diejenige Politik nach Marx ein, die im Namen der Arbeit sprach, also auf die ideologische Homogenisierung und politische Formierung der Arbeiterklasse durch die Selbstdisziplin der Arbeiterbewegung und durch ihre Organisationen und Apparate. Zur Sprache kommt die verhängnisvolle Verbindung der sozialistischen Arbeiterbewegung mit der Nation und einer Politik im Namen des gesamten Volkes. Dabei werden auch die drei blinden Flecken in der Geschichte der Arbeiterbewegung: Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus, die Feminisierung, Naturalisierung und Privatisierung individueller und gesellschaftlicher Reproduktion sowie der antisemitisch verkürzte Anti-Kapitalismus einbezogen, mit Ausnahme des zuletzt genannten.

Diesen Entwicklungen ist vor allem der Epilog gewidmet, der zugleich ein Prolog zur großen Integration ist, der Integration durch den Klassenkompromiss im kapitalistischen Nationalstaat, aber auch durch die gewaltige Teilhabe der Arbeiterklasse an der erweiterten Reproduktion des Kapitals. Die Arbeiterklasse wurde nicht zuletzt schlagkräftig durch die Formierung eines klassenbewussten Industrieproletariats, das die – meist durch Exil erzwungene – „Vaterlandslosigkeit“ der „heimatlosen Klasse“ des Frühsozialismus, ihre rebellisch-diffusen Kampf- und Organisationsformen und ihre eher moralisch fundierten Forderungen Zug um Zug an die Bedingungen industrieller Massenproduktion und an die nationalen ökonomischen Funktions- und Reproduktionsräume anpasste.

Die Wiedergänger des Romantischen

Allerdings verweist Eiden-Offe auf zwei Wiedergänger des Romantischen, mithin des Imaginären und Anachronistischen. Der eine Wiedergänger ist der „virtuelle Pauper“: Das Gespenst, das in Europa umgeht und den rechtlich und sozialstaatlich abgesicherten Lohnarbeiter heimsucht, ist die nackte Existenz des recht- und besitzlosen Proletariers. Und der andere Wiedergänger ist die „andere“ Arbeiterbewegung jenseits von Parteikommunismus einerseits und sozialdemokratischem Reformismus andererseits, eine Arbeiterbewegung, die zwar ständig anwesend, aber meist nur untergründig wirksam war, etwa in den häretischen Strömungen des Marxismus, im Anarchismus und Rätekommunismus, im Operaismus oder in den künstlerischen Avantgarden wie der Situationistischen Internationale.

Diese ständigen Wiedergänger ergeben zwar eine gleichsam inoffizielle „andere“ Arbeiterbewegung (Karl-Heinz Roth), die aber, so räumt Eiden-Offe ein, gleichwohl mit der „offiziellen“ ineinander verschlungen ist. Das Zugeständnis an ein Ineinander ist etwas mutlos, wo es durchaus auf eine radikale Entgegensetzung ankäme – nämlich gerade deshalb, um durch die Extreme den Umschlag als solchen bestimmen zu können. Denn wissenschaftliche Klassifizierung, politische Formierung und Homogenisierung, realsozialistische Verstaatlichung im Osten und nationale Interessengemeinschaft im Westen, auch all die Verheerungen, die eine Politik im Namen der Arbeit allseits angerichtet hat - das alles ist der Klasse im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte nicht durch äußere Umstände zugestoßen und ist weder den Anfängen noch dem Fortgang äußerlich. Die Poesie des Anfangs und ihr Fortleben in den untergründigen Strömungen der häretischen Arbeiterbewegung wären, genau wie die gediegene sozialdemokratische Prosa und die klassenkämpferische Rhetorik des Parteikommunismus, als unterschiedliche Betriebsgeräusche ein und desselben kapitalistischen Produktionsprozesses lesbar zu machen.

Allerdings geht, so Eiden-Offe, mit der Erschöpfung der alten Arbeitsgesellschaft auch die verschlungene und wechselvolle Geschichte der Klasse – der Klasse zumindest dieser alten Arbeitsgesellschaft – ohnehin gerade zu Ende.

Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Matthes und Seitz, Berlin 2017, 460 S., 30.- €