Es spricht sehr wohl für das Buch von Ingo Schmidt und Carlo Fanelli, wenn Leserinnen und Leser nach der Lektüre fragen: Und nun? Genau darauf zielt die Publikation und das ist ihre große Stärke, denn es geht um ein „Weiter“, das „kein weiter so“ sein darf.
Die Herausgeber werben für ihr Produkt als „ein politisches Projekt“, das es ihnen und den LeserInnen „erlaubt, von den Erfahrungen der SozialistInnen und anderer AktivistInnen der Vergangenheit zu lernen; zu verstehen, wie der Kapitalismus unserer Tage zustande gekommen ist und sozialistische Strategien für die Zukunft zu entwickeln.“ (S. 16) Dass ihr Buchtitel an „Das Kapital lesen“ erinnert, ist von beiden Autoren und Herausgebern gewollt (Ingo Schmidt's Eröffnungsbeitrag, S. 25). Die Autorin dieser Rezension nimmt die Einladung zur Diskussion gerne an und akzentuiert auf einen Austausch zum „Kapital“, der mögliche politische Bündnisse auslotet. Sie meint, dass die UnterstützerInnen des Projektes deutlich artikulieren sollten, dass sie nicht das gesamte Spektrum der „Kapital“-Rezeptionen kennen und ihre bisherigen Diskussionszusammenhänge für viel zu eng ansehen.
Zugespitzt gesagt: Die Kapitel-Überschrift „'Das Kapital' und die Geschichte der Klassenkämpfe“ (S. 18-33) wirbt für kollektive Arbeit und übersteigt das durch einen Verfasser Leistbare. Man muss sich schon intensiv mit der „Kapital“-Geschichte in den einst „sozialistisch“ genannten Ländern und den ehemaligen Kolonien befassen, wenn man zu einem solchen Thema schreibt oder aber das betrachtete Segment klar begrenzen. Diese Bemerkung schmälert nicht die Vorzüge des Buches von Schmidt und Fanelli. Dazu gehört nicht zuletzt, Zusammenhänge zwischen den Texten als Ringen emanzipativ-solidarischer Akteure um politische, soziale, ökologische und Geschlechter-Gerechtigkeit überzeugend herausgearbeitet zu haben.
William Pelz beweist, dass man Marx's unvollendetes Manuskript und System nur verstehen und würdigen kann, wird sein Wirken als Politiker gesehen – vor allem als Mitbegründer und Funktionär der Ersten Internationale. Selbstverständlich geht es da um Arbeitszeit, Löhne und Arbeitsbedingungen als unmittelbaren Ausgangspunkt für die Organisation der ArbeiterInnen, aber Pelz fokussiert auf ihre politische Aktivität und insbesondere auf die Idee des Internationalismus (S. 36). Deutlich zeigt er den zentralen Stellenwert der Solidarität vor allem mit den Schwächeren und Schwächsten auf. Auch ist ihm dafür zu danken, dass er die proletarische Vorkämpferin Harriet Law und die Auseinandersetzung der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) mit der multiplen sozialen Benachteiligung von Frauen thematisiert (S. 40). Die Darlegungen zu den imponierenden IAA-Aktivitäten im Kampf gegen Rassismus und Nationalismus machen den größten Raum des Beitrages aus.
Dieser ist indirekt auch eine solidarische Kritik an Silvia Federicis Text „'Das Kapital' und Gender“ (S. 79-95), das sich auf den ersten Band des „Kapital“ konzentriert (S. 80). Federici erklärt, dass dort Marx die Unterordnung der Frau in der bürgerlichen Familie und damit ihre Rolle als Hausfrau ausblende (S. 81). Ebenso bleibe die Problematik der Rasse außen vor (S. 90). Mit Maria Mies und Ariel Salleh erklärt sie diese Defizite mit dem Marxschen Herangehen, das die menschliche und menschheitliche Reproduktion nicht gebührend in den Blick nehme (S. 93-94). Allerdings verhehlt Federici nicht ihre eingeschränkte Marx-Kenntnis (S. 94) und versteht ihre Marx-Kritik als Aufforderung an sich selbst, die eigene wissenschaftlich-feministische Arbeit zu intensivieren (S. 95).
Wie sich Federici dem Öko-Feminismus zugehörig sieht (S. 93), sieht sich Hannah Holleman dem Öko-Sozialismus (S. 160) verbunden. Sie findet bei Marx die Grundlagen dafür, die Reproduktionsproblematik umfassend zu analysieren und zu diskutieren (ebd.). Sie setzt sich, gestützt auf sein System, mit der Kapital-Gewalt gegen Menschen und Natur auseinander (S. 160-178). Die UN-Klima-Vereinbarungen, die die Interessen der global Ärmsten und die komplexen Grenzen für die Belastbarkeit der Ökosysteme weiter ignorieren, radikal kritisierend, stützt sich Holleman auf die drei Bände des „Kapital“ (S. 165ff). Sie weiß, dass sich Marx insbesondere seit Ende der 1860iger Jahre mit ökologischen Fragen der menschheitlichen Reproduktion auseinandergesetzt hat (S. 170) und sieht seine Aktualität in der Analyse der gesellschaftlichen Arbeit als Stoffwechselprozess der Menschen mit der Natur. Holleman zeigt die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der kapitalistischen Industrie und Landwirtschaft, brutaler Ausbeutung, Raubbau an der Natur und blutigem Kolonialismus deutlich auf. Hiervon leitet die Aktivistin für Umweltgerechtigkeit globale Probleme und die besondere Verpflichtung der Ökobewegungen gegenüber den Armen im sog. Globalen Süden ab.
Auch Prabhat Patnaik analysiert die gesellschaftliche Arbeit. Er spricht von der „Arbeitswerttheorie als Theorie von den Makroeconomics einer kapitalistischen Wirtschaft“ (S. 65). Er nennt drei mit dieser Theorie verknüpfte Voraussetzungen: Geld dient nicht nur als Zirkulationsmittel, sondern auch der Schatzbildung, was für die erforderliche Geldmenge relevant ist; es gibt einen von der Geldmenge unabhängigen Geldwert; das Wachstum der Arbeitslohnrate geht mit einem Fall der Profitrate einher (S. 65-66). Dies beweisend (S. 64-78), erklärt er die Austausch-Relation zwischen der Geldware einerseits und der Gesamtheit der Nicht-Geld-Waren andererseits (S. 64). Plausibel diskutiert er einen relevanten Aspekt der Marxschen ökonomischen Lehre, aber die Wertsubstanz als vergegenständlichte abstrakte Arbeit interessiert ihn anscheinend nicht.
Peter Gose und Justin Paulson beschäftigen sich ebenfalls mit „Gesetzen“ im „Kapital“. Sie arbeiten sechs verschiedene Begriffsverwendungen von "Gesetz" heraus: Ursächlichkeit (S. 100) – unter besonderen Bedingungen muss eine besondere Folge eintreten; Ironie (S. 102) – ein gesellschaftlicher Zusammenhang wird von bürgerlichen Ökonomen zum naturwissenschaftlichen Gesetz erhoben; „logische Notwendigkeit“ (S. 103) – z.B. Konsequenzen aus quantitativ ausdrückbaren Gleichungen; „historisch bedingte Notwendigkeit“ (S. 105) – gesellschaftliche Wirkungen sind an historische Bedingungen geknüpft; die „phänomenologische Bedeutung“ (S. 107) – in der Auseinandersetzung mit Erscheinungen von Fetischisierung; die „dialektische Tendenz“ (S. 109) – als Ergebnis des komplexen Zusammenspiels sämtlicher Tendenzen und Gegentendenzen. Resümierend stellen die Autoren einen begrenzten Determinismus für individuelle Prozesse und Entscheidungen im „Kapital“ fest. Aber sie negieren eindeutig einen vorgeblichen Geschichtsdeterminismus, der dem praktizierten historischen Herangehen an gesellschaftliche Entwicklung und der dialektischen Tendenz widersprechen würde.
Allerdings finden sich im „Kapital“ Aussagen zur künftigen Gesellschaft ohne kapitalistische Produktionsweise, die aus der logischen Negation der analysierten gesellschaftlichen Praxis erwachsen. Eine gewisse Kritiklosigkeit in Peter Hudis' Umgang damit (S. 181-198) lässt angesichts seiner enormen Kenntnis der Marx-Schriften und Philosophiegeschichte überraschen. Hudis ist es wichtig, Unterschiede zwischen Marx und Lenin auszumachen, was angesichts eines propagierten „Marxismus-Leninismus“ nur sehr begründet ist. Lenin hatte bei Marx zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaft – eine niedere sozialistische und eine höhere – ausgemacht, aber Hudis unterstreicht die inhaltliche Gleichheit, den changierenden Gebrauch der Begriffe durch Marx (S. 196). Endlich fokussiert Hudis auf eine Marx-Interpretation Lenins zur anfänglichen sozialistischen Produktverteilung, die in ihrer Konsequenz einen starken Zentralstaat erfordert (ebd.). Er kritisiert Lenins „Staats-Fetischismus“ (S. 197), der nicht auf die Aktivitäten von selbstorganisierten ArbeiterInnen orientiert.
Für diese interessieren sich nicht zuletzt Peter Thomson und Chris Smith mit ihrer imposanten Analyse des Arbeitsprozesses im „Kapital“ (S. 116-133). Sie kritisieren das Konzept einer dominierenden immateriellen Produktion, das nicht den Tatsachen widerspricht. Die Autoren würdigen Marx' Kombination aus empirischer Analyse und theoretischer Durchdringung komplexer Zusammenhänge. Diese erlaubt keinerlei Unterordnung der Praxis unter verschleiernde Ideologien bzw. unter voluntaristische Marx-Interpretationen, die die eigene Konzeption – darunter zum Zusammenspiel von Wissenschaft, Technik und Automatisierung – stützen (S. 132-133). Hier setzen Carlo Fanelli und Jeff Noonan an, denen es ebenfalls um die emanzipativ-solidarische Organisation der ArbeiterInnen geht. Sie zeigen, dass die traditionelle Gewerkschaftsbewegung nicht daran orientiert ist (S. 145ff). Sie stellt das Kapitalverhältnis nicht in Frage. Eine radikale Kritik dürfe allerdings nicht von den realen gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen und den konkreten Alltagsproblemen der Lohnabhängigen abstrahieren.
Vielmehr käme es darauf an, die Schnittpunkte zwischen den traditionellen Gewerkschaftsthemen, den gesellschaftlichen und globalen Problemen und daher zu den Commons bzw. Gemeingütern – zu den elementaren Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben in Würde, in solidarischem Miteinander und intakter Umwelt – sichtbar und politikwirksam zu machen. Dies sei Bestandteil des „continuums im Kampf zum Sozialismus“ (S. 157), wobei unentwegt zwischen „Reformismus“ und „Radikalisierung“ unterschieden, aber auch vermittelt werden müsse. Die Orientierung auf das Sich-wehren, auf die Solidarität mit den Sich-Wehrenden und auf das „Problem der demokratischen Kontrolle der Wirtschaft von unten“ (ebd.) sei dafür zentral. Diese Aspekte betreffen die Veränderung von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die Arbeitsinhalte und -bedingungen, die sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen und vor allem die Selbstveränderung der (potentiell) veränderungsfähigen Akteure (ebd.).
Die Gewerkschafts-Kritik von Fanelli und Noonan ist zugleich eine Kritik und Selbstkritik der sozialistischen Bewegung, für die zweifellos die Russische Revolution als „Revolution gegen das Capital“ (Gramsci) hochrelevant war. Anej Korsika, der einzige Autor aus einem einst „sozialistischen“ Land und radikal linker Politiker, beschäftigt sich damit (S. 48-63). Der sozialistische Versuch, der als Ausbruch aus Krieg und Elend in einem rückständigen Land begann und dessen „Köpfe“ vergeblich auf unterstützende Revolutionen im Westen setzten, hat unsere Geschichte ambivalent geprägt und eine sozialistische Zukunft relevant verstellt. Korsika will verstehen und analysiert sowjetische Strategien im Wettlauf mit der Zeit um die Zukunft – „abstrakte Zeit“ (S. 52), „rational-charismatische Zeit“ (S. 55), Arbeitsproduktivität in der „Systemauseinandersetzung“ zwischen kapitalistischer und sozialistischer Produktionsweise (S. 57-60). Ihr Scheitern und die kapitaldominierte Globalisierung lassen ihn nach Chancen für den Sozialismus als eine globale Gegentendenz fragen (S.62): Schließlich habe dieser mit konkretem Staatsgebrauch zu tun. Was aber geschieht, wenn die Länder zu bloßen Unter-Einheiten in der von transnationalen Konzernen, Freihandels- und Investitionsschutz-Gesetzen getriebenen kapitaldominierten Globalisierung werden? Die sozialistische Alternative im 21. Jahrhundert müsse also in der Auseinandersetzung mit diesen Strategien und in der Debatte über eine zeitgemässe Art und Weise von Akteursorganisation entwickelt werden (S. 63).
„Reading 'Capital' today.“ liefert dafür „good food for thought“, wofür den Herausgebern sehr zu danken und ihnen nur zu gratulieren ist.