Russland, März 1917- Der Monat der Räte und drei Aufbrüche

Arbeitersowjet in Petrograd Foto: Karl Dietz Verlag ©

Betrachtet man die Bilder, die auf diversen Websites und in diversen Posts zu den russischen Revolutionen genutzt werden, begegnet man häufig Lenin. Im März 1917 ist Lenin aber gar nicht in Russland – und er kann die Ereignisse nicht beeinflussen. Auch der bolschewistische Parteiapparat kann das nicht; es sind bestenfalls die bolschewistischen ArbeiterInnen, die in den Massen aktiv sind. Organ der Massen in der Revolution sind die Sowjets, in denen Anhänger verschiedener Parteien gleichermaßen aktiv sind. Sie und ihr Handeln prägen den Monat März 1917, sie treiben die Revolution voran. Damit werden Erfahrungen der Revolution von 1905-1907 und der Pariser Kommune aufgegriffen.

Wir haben es mit drei entscheidenden Brüchen, Umbrüchen, Durchbrüchen zu tun.

  • Der erste Durchbuch war die Selbstüberwindung der Massen, mit dem gewohnten Verhalten als duldende Untertanen zu brechen.
  • Der zweite war der Sturz der Zarenherrschaft, praktisch die Errichtung der Republik, auch wenn Russland „staatsrechtlich“ erst am 1. September (14.09.17) Republik wird.
  • Der dritte und entscheidende Schritt war die Konstituierung der Sowjets als Akt der Selbstorganisation. Ohne diesen Schritt wären die Bolschewiki, wäre die kommunistische Richtung nur Sekte, wäre Lenin einfach nur ein Prophet unter vielen geblieben.

In der ersten Mitteilung des Petrograder Sowjets an die Bevölkerung heißt es u.a.: „Für die erfolgreiche Vollendung des Kampfes im Interesse der Demokratie muss das Volk sich einen eigenen Machtapparat schaffen… Wir laden die Bevölkerung der Hauptstadt ein, sich unverzüglich um den Sowjet zu scharen, in den Bezirken örtliche Komitees zu bilden und die Leitung bezüglich der örtlichen Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen.“ (Sowjet 1964 [1917])

Die damit entstehende Doppelherrschaft – Provisorische Regierung vs. Sowjets – wird meist als ein Manko der Zeit zwischen Februar und Oktober 1917 dargestellt. Vielleicht war die in der Doppelherrschaft angelegte Verbindung von repräsentativ-demokratischer und direktdemokratischer Form aber die wichtigste Innovation der Revolutionen 1917. Dies zumindest legen zwei Positionen nahe: die These Rosa Luxemburgs, die das Nebeneinander von Sowjets und Konstitutioneller Versammlung als Grundlage des Übergangs zum Sozialismus betrachtete (vgl. Luxemburg 1974 [1918], 358) und die These Lenins (im Jahre 1920), dass die Gewerkschaften die Arbeiter vor dem sowjetischen Staat „schützen“ müßten. (Lenin 1961 [1920]) Die Sowjets waren zu diesem Zeitpunkt schon im Staatsapparat aufgegangen.

Wer führt?

Suchanow, Augenzeuge und Chronist der Revolutionen 1917, betont als „Eigentümlichkeit“ der Situation: „Fast keine der damaligen Parteien verfügte über Männer mit Autorität. Diese waren verbannt, saßen in Gefängnissen oder lebten in der Emigration. Auf den verantwortlichen Posten der großen Bewegung standen in den entscheidenden Momenten völlig zweitrangige Leute… In ihrer überwältigenden Mehrzahl konnte man von ihnen den angesichts der neuen Lage erforderlichen politischen Horizont, eine tatsächliche politische Führung der Ereignisse nicht erwarten… Sie waren der Situation nicht gewachsen.“ (Suchanov 1967, 28)

Die Entstehung des ersten Sowjets der Arbeiterdeputierten in Petrograd am Tag 1 der Revolution beschreibt Suchanov so: „Die aufständischen Truppenteile hatten im Verein mit den Volksmassen eine große Anzahl von sozialistischen Funktionären aus den Petersburger Gefängnissen befreit… Die führenden Funktionäre dieser Gruppe begaben sich unmittelbar aus dem Gefängnis zusammen mit den Truppen und dem Volk ins Taurische Palais, wohin bereits eine große Zahl von Petersburger Persönlichkeiten aller Richtungen und Ränge, aller Kaliber und Fakultäten strömte. Gegen 14 Uhr stellte sich heraus, daß dort auf einem Platz recht bedeutende Vertreter der gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Bewegung anwesend waren…“ So entstand das „Provisorische Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiterdeputierten“. Das hatte die einzige Aufgabe, einen Sowjet der Arbeiterdeputierten von Petersburg einzuberufen. Daneben organisierte es eine „Provisorische Versorgungskomission“, die eine Verpflegungsstelle für die Soldaten einrichtete und die Bevölkerung aufrief, an der Versorgung der revolutionären Soldaten mitzuwirken. Suchanov betont, dass dieses Komitee „durch seine Maßnahmen auf dem Versorgungsgebiet zugleich die wichtigste politische Aufgabe [löste]. Denn die hungrigen, heimatlosen und terrorisierten Massen bewaffneter Soldaten, die von keinem politischen Bewußtsein getragen waren, stellten jetzt für die Revolution keine geringere Gefahr dar als die organisierten Kräfte des Zarismus.“ (Suchanov 1967, 45f.)

Diese Umstände des Entstehens des ersten Sowjets in Petrograd machen auch verständlich, warum bis zum Sommer hin der Einfluss der Menschewiki und Sozialisten-Revolutionäre in den Sowjets so groß war: sie gehörten einfach zu denen, die die Sowjets mitschufen und ihnen erste organisatorische Formen gaben. Die Initiativen aus den Betrieben und die aus dem Kreis der sozialdemokratischen und linksliberalen Funktionäre am Taurischen Palais fanden in ihnen eine Form, in der ihre für diesen Moment gemeinsamen Interessen verwirklicht werden konnten. Es sind dann aber ArbeiterInnen der ersten oder zweiten Generation und Bauern, oft noch Analphabeten, die diese Arbeit leisten und die dafür sorgen, dass die Sowjets tatsächlich ein Machtfaktor werden und bleiben sollten.

Rätedemokratie als Prinzip

Innerhalb weniger Wochen entstehen Sowjets in fast allen Regionen des ehemaligen russischen Imperiums. Petrograd, Moskau, Podolsk, Jaroslavl, Tver, Ivanovo-Vosnesensk (die Geburtsstätte der Sowjets in der Revolution 1905-1907) Chabarovsk, Taschkent, Reval, Omsk – alle Regionen wurden erfaßt. Auf der betrieblichen Ebene entstehen gleichzeitig Fabrikräte. (vgl. dazu ausführlich Mandel 2012) Gleichzeitig fordern die Sowjets, dass die Gewerkschaften gestärkt werden müssen – und die Gewerkschaften setzen sich für die Stärkung der Sowjets ein. Es werden sowohl Forderungen gegenüber Regierung und Unternehmern formuliert, oft aber auch die Organisation der Produktion und der Versorgung in die eigenen Hände genommen. Mit dem Befehl Nr.1 des Petrograder Sowjets wurde das System der Sowjets auch für die Armee eingeführt. Obwohl der die Wählbarkeit bzw. Absetzbarkeit der Offiziere nicht vorsieht, wird das zur Praxis.

Im Verlaufe der folgenden Monate entstehen auf der Grundlage der „ursprünglichen“ Sowjets in Betrieben, in Armeeeinheiten und in bäuerlichen Strukturen regional organisierte Sowjets. Der Petrograder und der Moskauer Sowjet organisierte schon Mitte (Ende) März Abteilungen, die die Verbindung zu den Sowjets der jeweiligen Region herstellen sollten. Gleichzeitig begannen Vorbereitungen zu Konferenzen der Sowjets auf regionaler Ebene. (vgl. Serebrjakova 1988, 397) Bis zur Mitte des Jahres entsteht so ein flächendeckendes Netz von Sowjets und anderen basisdemokratisch legitimierten Körperschaften.

In diesen basisnahen Sowjets liegt auch die Opposition gegen den Kurs der Provisorischen Regierung, vor allem in der Frage des Friedens, aber auch bezüglich ihres Verhältnisses zum Unternehmertum. Als basisdemokratische Strukturen spiegeln sie viel stärker die Bewegungen und die Lernprozesse in den Massen wider, als dies die Regierung und die Parteien können. Die Verschiebung der Macht von den Menschewiki und rechten Sozialisten-Revolutionären hin zu den Bolschewiki und linken Sozialisten-Revolutionären vollzieht sich hier aus ganz praktischen Erfahrungen, nicht ideologischen Motivationen.

Neue Widersprüche

Die Situation zum 1. Sowjetkongress Mitte Juni 1917 scheint der oben gegebenen Einschätzung der Potenziale der Sowjets zu widersprechen: Die Führung der Sowjet-Bewegung, die von Sozialisten-Revolutionären und Menschewisten dominiert wurde, hatte sich für die Unterstützung der Provisorischen Regierung, auch ihres Kriegskurses, entscheiden. Obwohl so die zentralen Forderungen der Massen (Frieden und Landreform) unerfüllt blieben, ließen sich diese Massen von diesen Kräften führen. Hören wir noch einmal Suchanov: „Die SR [Sozialisten-Revolutionäre] hatten gerade ihren dritten allrussischen Parteitag beendet. Er hatte lange gedauert, und es hatten sich viele Menschen eingefunden, aber es kam dabei absolut nichts Neues oder Interessantes heraus. Auf dem allrussischen Kongreß der Sowjets waren dieselben SR die entscheidende Kraft. Sie hatten zwar nicht die absolute Mehrheit, aber zusammen mit den rechten Menschewiken stellten sie fünf sechstel des Kongresses. Die opppositionellen Fraktionen zählten, alle zusammengenommen und die beratenden Stimmen mit eingerechnet, nicht mehr als 150-160 Personen. Bei den Abstimmungen erhoben sich gegen den regierenden Block nicht mehr als 120-125 Hände. Es war ein schmaler Streifen, der sich vom Podium des Präsidiums auf der linken Seite an der Wand entlangzog und gerade bis zur Mitte des Saales reichte.“ Die folgende Passage sollte man besonders beachten: „Blickte man darauf vom Podium aus, so ragte dieser Streifen auch äußerlich aus der Masse heraus: Es waren fast ausschließlich zivile Kleidungsstücke, die man dort sah, insbesondere Arbeiterblusen. Die übrige Masse bestand durchweg aus Militärs. Da waren „echte“ Soldaten aus der bäuerlichen Bevölkerung darunter, aber in der Mehrzahl waren es doch mobilisierte Vertreter der Intelligenzija. Dann gab es noch mehr als einhundert Kriegsfähnriche, die immer noch den größten Teil der kämpfenden Truppe vertraten. Sodann hatten sich in den SR und den Menschewiken nicht nur verkappte Kadetten, Oktobristen und besonders Antisemiten angeschlossen, sondern auch nachweisbar liberale und nicht besonders liberale Rechtsanwälte, Ärzte, Pädagogen, Beamte und Mitglieder der Semstwo.“ (Suchanov 1967, 381) [Semstwo: ständische lokale Selbstverwaltungsorgane, die in zaristischen Zeiten gegründet wurden] Diese Verteilung gab fraglos den realen Stand des Bewußtseins der Massen wider. Zwar war die Zarenhörigkeit gebrochen – aber das hieß noch lange nicht, dass die Massen Vertrauen in die eigenen schöpferischen Kräfte erlangt hätten. Hier liegt letztlich der Ansatz der „Bolschewisierung“ der Sowjets in den folgenden Monaten. Indem die neue Oberschicht nicht in der Lage war, die Forderungen, mit denen sie an die Macht gekommen war, zu verwirklichen, legitimierte sie sich. Dieser Prozess konnte sich als Folge der basisdemokratischen Natur der Sowjets hier viel schneller vollziehen, als auf der Regierungsebene.


Quellen und zum Weiterlesen

Lenin, W.I. 1961 [1920]. „Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis.“ In Lenin Werke Bd. 32, 1-26. Berlin: Dietz Verlag.

Luxemburg, Rosa. 1974 [1918]. „Zur russischen Revolution.“ In Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 4 August 1914 bis Januar 1919, 332-365. Berlin: Dietz Verlag.

Mandel, David. 2012. „Die Bewegung der Fabrikkomitees in der Russischen Revolution.“ In „Die endlich entdeckte politische Form“. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute, hersg. von Dario Azzelini und Immanuel Ness, 129-164. Köln/Karlsruhe: Neuer ISP Verlag.

Serebrjakova, Z.L. 1988. „Die Gebietsvereinigungen der Sowjets zwischen Februar- und Oktoberrevolution 1917.“  Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 36 (5):397-409.

Sowjet. 1964 [1917]. „Aufruf des Arbeitersowjets an die Bevölkerung vom 28. Februar (13. März) 1917.“ In Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki, hrsg. von Manfred Hellmann, 128. München: dtv.

Suchanov, Nikolaj Nikolaevič. 1967. 1917: Tagebuch der Russischen Revolution. München: Piper.