Sahra Wagenknecht: "Ich kann die Lektüre nur empfehlen"

Sahra Wagenknecht bei einer Wahlkampfveranstaltung zur Bundestagswahl 2013 in Bonn Foto: Wikimedia Commons Wolkenkratzer CC BY-SA

Immer dann, wenn die kapitalistische Wirtschaft in die Krise gerät oder wenn ein Jubiläum ansteht, erfahren die Schriften von Karl Marx eine Renaissance. Wie jetzt zu 150 Jahre Kapital oder im Hinblick auf nächstes Jahr, wenn Marx im Mai 2018 seinen 200. Geburtstag feiert. Dann bekommt der alte Mann seinen Platz in den Feuilletons der Zeitungen und in den Abendprogrammen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im deutschen Bundestag, spricht im Interview mit marx200.org  über den gegenwärtigen Marx-Hype und erklärt, wieso Marx immer noch aktuell ist.

Frau Wagenknecht, begrüßen Sie diese temporäre Renaissance von Marx oder ärgern Sie sich auch manchmal darüber?

Ich freue mich über das erneute Interesse an Karl Marx. Seine Theorie ist ein zentraler Schlüssel für alle, die unsere Gesellschaft verstehen und gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit kämpfen wollen. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn es nicht nur ein temporärer Hype wäre, sondern wenn die Leute auch jenseits solcher Jubiläen wieder Texte von Marx lesen und darüber diskutieren würden.
 
Häufig wird in diesem derzeitigen Marx-Hype gesagt, dass das Kapital ein Buch des 19. Jahrhunderts sei und Marx daher nichts mehr zur Analyse des Kapitalismus im 21. Jahrhundert beizutragen habe. Ist das Ihrer Ansicht nach richtig? Hat Marx als Mann des vorvorigen Jahrhunderts über die aktuellen Verhältnisse nichts mehr zu sagen, weil er Phänomene wie Derivate und Digitalisierung noch nicht kannte?

Ich sehe das anders. Ohne die Bezugnahme auf Marx lassen sich die Ursachen vieler aktueller Entwicklungen - von Wirtschaftskrisen über Konzentrationsprozesse bis zur wachsenden Ungleichheit - kaum verstehen. Auch die Globalisierung der Wertschöpfung haben Marx und Engels treffend beschrieben und die Ausführungen von Marx über „fiktives Kapital“ sind immer noch sehr nützlich, wenn man begreifen will, was ein Finanzderivat ist. Aber natürlich sind nicht alle Prognosen von Marx eingetreten und wie jede lebendige Theorie muss auch die von Marx ständig weiterentwickelt werden. Trotzdem denke ich, dass Karl Marx nicht nur seiner Zeit weit voraus war. Eben weil er in einer historischen Epoche gelebt hat, in der sich der Kapitalismus gerade entfaltet hat, konnte er die zentralen Mechanismen dieser Gesellschaftsordnung so gut erfassen. Inzwischen hat sich der Kapitalismus weltweit so etabliert, haben viele Menschen seine Logik so verinnerlicht, dass sie gar nicht mehr „über ihn hinaus“ denken. Vielleicht ist das das Wichtigste, was wir von Marx lernen können: Dass der Kapitalismus eine historisch gewachsene und von Menschen gestaltete Ordnung ist, die sich zugunsten einer vernünftigeren Ordnung überwinden lässt.
 
Marx wird auch vorgehalten, dass es für ihn nur zwei Klassen gegeben habe: Kapitalisten und Arbeiter. Unsere modernen Gesellschaften seien aber wesentlich komplexer, von Klasse könne man kaum noch sprechen. Was würden Sie hier entgegnen?

Auch zu Zeiten von Marx gab es keineswegs nur Kapitalisten und Arbeiter, sondern auch „Zwischenklassen“, bestehend aus Bauern, Handwerkern oder Gewerbetreibenden. Marx hat vorausgesagt, dass diese kleinbürgerlichen Schichten durch die kapitalistische Entwicklung zerrieben werden, weil immer mehr Bauern oder Handwerker ihre Selbstständigkeit verlieren und lohnabhängig werden, während sich auf der anderen Seite immer größere und weltumspannende Konzerne etablieren. Diese Prognose hat sich nicht ganz erfüllt. Gerade in wirtschaftlich starken Ländern wie Deutschland gibt es nach wie vor eine große „Mittelschicht“ – das bedeutet aber doch nicht, dass es keine Klassen mehr gibt! Es bedeutet lediglich, dass wir heute wie damals eine differenzierte Klassenanalyse brauchen und auch weiterhin zwischen der objektiven Klassenlage und dem Bewusstsein unterscheiden müssen. Nach meinem Eindruck hat letzteres in den letzten Jahren übrigens wieder zugenommen – gerade in Europa und Nordamerika, wo die Mittelschicht seit ein paar Jahrzehnten wieder schrumpft.
 
Beliebt ist auch der Vorwurf, Marx hätte im Kapital das zwangsläufige Ende des Kapitalismus prophezeit, der an seiner eigenen Logik zu Grunde gehen würde. Verwiesen wird dann mitunter auf den tendenziellen Fall der Profitrate. Nun, so wird gesagt, wir leben aber immer noch im Kapitalismus. Marx also doch lieber in die Mottenkiste?

Marx verweist im Kapital selbst auf sechs Entwicklungen, die dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenwirken: die verschärfte Ausbeutung der Arbeitskräfte, das Herunterdrücken des Arbeitslohns unter seinen Wert, die Verbilligung von Elementen des konstanten Kapitals, die relative Überbevölkerung, der auswärtige Handel und die Zunahme des Aktienkapitals. Es gibt also marxistische Erklärungen dafür, warum der Kapitalismus noch immer existiert. Es ist auch eine irrige Vorstellung, dass der Kapitalismus an abstrakten Gesetzmäßigkeiten scheitert. Er muss durch zielgerichtetes Handeln von Mehrheiten überwunden werden.
 
Oft wird eine direkte Linie gezogen von Marx hin zum Gulag. Ein Autor der FAZ schrieb neulich, der Stalinismus sei bei Marx in der Tendenz bereits angelegt gewesen. Inwieweit kann man Ihrer Ansicht nach Marx, bzw. das KAPITAL verantwortlich machen für die auf ihn folgenden und sich auf ihn beziehenden Regime?

Marx und Engels haben den Kapitalismus analysiert, über den Sozialismus haben sie nur wenig geschrieben. Sie waren der Ansicht, dass sich eine neue Gesellschaftsordnung in konkreten Auseinandersetzungen herausbilden wird, die sich kaum voraussagen lassen. Ihre Vorstellungen vom Sozialismus haben sich an der Pariser Kommune von 1871 orientiert – einem Volksaufstand, der ja leider schon nach wenigen Monaten niedergeschlagen wurde. Ich weiß nicht, wie Marx und Engels die Entwicklungen nach 1917 in der Sowjetunion oder in Osteuropa beurteilt hätten. Aber ich denke, dass man die Ursachen für diktatorische Fehlentwicklungen nicht bei Marx und Engels findet. Schließlich hatte der real existierende Sozialismus mit der Rätedemokratie der Pariser Kommune nicht allzu viel gemein. Ich bin froh, dass sich meine Partei mit den damaligen Fehlentwicklungen gründlich auseinandergesetzt und ihre Schlüsse gezogen hat: Für uns gehören Sozialismus, Demokratie und Freiheit zusammen. Eine sozialistische Gesellschaft braucht eine lebendige Demokratie, braucht die kontroverse Diskussion, einen funktionierenden Rechtsstaat und die aktive Beteiligung der Menschen, um zu funktionieren.
 
Schließlich wird immer wieder kritisiert, was als Grundlage der Marx’schen ökonomischen Theorie gehalten wird: Die sogenannte Arbeitswerttheorie, also der Umstand, dass es die lebendige Arbeit ist, die den Wert der Waren ausmacht. Hans Werner Sinn nennt diese Theorie eine der „größten wissenschaftlichen Fehlleistungen“ von Marx. Was würden Sie ihm entgegnen?

Sicher hat die Arbeitswerttheorie von Marx ein paar Schwächen, weswegen sie weiterentwickelt und modifiziert werden sollte. Die relativen Preise für Güter werden nicht allein durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt, die zu ihrer Produktion nötig sind. Es gibt auch andere Faktoren, die die Preise beeinflussen und die etwas mit der Knappheit von Ressourcen, Marktstrukturen, Angebot und Nachfrage u.ä. zu tun haben. Gleichzeitig würde ich Hans-Werner Sinn entgegnen, dass die herrschende Volkswirtschaftslehre mit ihrer Grenznutzentheorie noch weiter davon entfernt ist, eine zufriedenstellende Erklärung für die Preisbildung von Waren zu liefern. Die menschliche Arbeit schafft Wert und dieser Wert wird von denjenigen angeeignet, die die Arbeitskraft kaufen – das kann man doch nicht ernsthaft bestreiten. Übrigens hat Herr Prof. Sinn die marxistische Wachstums- und Krisentheorie ausdrücklich gelobt – obwohl diese ja auch auf der Arbeitswerttheorie gründen.

Wenn Sie heute das Kapital jemandem zum Lesen empfehlen würden, dann: Wem und aus welchen Gründen?

Ich kann die Lektüre allen empfehlen, die nicht länger die Augen davor verschließen möchten, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben. Besonders empfehle ich die Lektüre all jenen, die die Schattenseiten des Systems schon selbst erfahren haben – seien es Löhne, die kaum zum Leben reichen, Zeiten der Erwerbslosigkeit, wachsender Konkurrenzdruck und Stress oder das Gefühl von Sinnlosigkeit und Leere, das mit entfremdeter Arbeit einhergeht. Und ganz besonders möchte ich die Lektüre all jenen ans Herz legen, die hierzulande und weltweit für mehr soziale Gerechtigkeit und Frieden kämpfen.