Sichtweisen und Perspektiven - update

Aus einer Ausstellung der Russländischen Nationalbibliothek - Zur Geschichte der Sowjets
Aus einer Ausstellung der Russländischen Nationalbibliothek - Zur Geschichte der Sowjets Foto: Lb Public Domain

Die Eröffnung der Konferenz „Ändere die Welt, sie braucht es!“ brachte eine Reihe von Einblicken in die Diskussionen zu Bewertungen und Darstellungen der Ereignisse von 1917 in Russland heute. Wie schon an anderer Stelle gesagt, ist die Aufmerksamkeit gegenüber dem Revolutionsjubiläum durchaus größer, als es den Anschein hat.

Im ersten Teil der Diskussion präsentierte die Russländische Nationalbibliothek zwei Ausstellungen: eine zu den Parteien, die im Jahr 1917 maßgeblich die politische Landschaft bestimmten und eine weitere, die das Revolutionsjahr und dessen Akteure an Hand von Dokumenten nachzeichnet. Bei letzterer handelt es sich um eine virtuelle Ausstellung, da die Dokumente über Barcode abgerufen und gelesen werden können. Beide Ausstellungen sind als Wanderausstellungen konzipiert, die dann auch in den regionalen Bibliotheken für Bildungsarbeit genutzt werden sollen. Es wurde angemerkt, dass die heutige Generation kaum noch etwas über die Revolutionen 1917 weiß, dem soll auch durch die Nutzung des Internet etwas entgegen gehalten werden. Überhaupt ist anzumerken, dass in den vergangenen Jahren die russischen Bibliotheken eine ungeheure Masse an historischen Dokumenten digitalisiert und über Internet zugänglich gemacht haben. Dazu gehören auch Bücher aus den Jahren der Revolution, die selbst kaum noch antiquarisch oder in Bibliotheken zu finden sind. 

Dann stellte der Historiker Alexander Schubin seine Sicht auf das Jahr 1917 vor. Er hat in den vergangenen Jahren zu diesem Thema eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die allerdings meines Wissens nur in russischer Sprache vorliegen. Zu gegebener Zeit werden wir darauf noch einmal ausführlicher eingehen, jetzt seien nur drei Lehren, die er aus der Revolution ableitete, benannt:

Erstens sei es nötig, in revolutionären Umbrüchen, immer die Balance zwischen den allgemeinen, gesellschaftlichen Interessen und der Entfaltung von Formen der Selbstverwaltung zu finden. Zweitens müsse man sehr verantwortungsvoll die Frage der Gewalt behandeln. Drittens schließlich seien auch in Revolutionen Differenzierungen nötig; „um den Ring zu bekommen darf man nicht den Finger abschneiden.“

Heute wird die Konferenz im neuen Gebäude der Russländischen Nationalbibliothek fortgesetzt. Im Mittelpunkt der Vormittagssitzung steht das Thema „Revolution: Sichtweisen und Perspektiven“. Der Nachmittag wird dem Thema „Quellen, Versprechen, Hypotheken, Potentiale“ gewidmet sein. Diskutieren werden TeilnehmerInnen aus Russland, Griechenland, Tschechien und Deutschland. Die abschließende Runde steht unter der Überschrift „Raus aus dem Kapitalismus? Nichts ist erledigt.“, unter anderem mit Gabi Zimmer, Vorsitzende der Fraktion der GUE/NGL im Europaparlament.

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Der weitere Verlauf der Konferenz machte deutlich, dass Schubin die wunden Punkte benannt hatte. Vor allem die Frage der Rolle der Gewalt in Revolutionen rief immer wieder Kontroversen hervor. Michael Brie betonte mehrfach, dass es nicht um Gewalt als solche gehe, sondern um die „Qualität von Gewalt“. Jede Revolution sei mit Gewalt verbunden, da macht die Oktoberrevolution keine Ausnahme; aber der Übergang zum Terror bzw. später dann zu einem „permanenten Ausnahmezustand“, in dem jede Kritik oder vermutete Opposition bereits als Verbrechen verfolgt werden konnte (und diese Tendenz hat der Realsozialismus eben nie ablegen können), stand im Gegensatz zu den emanzipatorischen Tendenzen der Revolution. In den Diskussionen fiel es schwer, zwischen Erklärung und Rechtfertigung zu unterscheiden.

Die emanzipatorischen Tendenzen standen im Mittelpunkt der Beiträge von Alla Mitrofonova (die als Vertreterin des Cyber-Femininsmus gilt), Ludmilla Bulavka (Kulturwissenschaftlerin aus Moskau), des Kollektives Schtab (Bischkek, Kirgisien) sowie Gisela Notz und Fabiane Kemmann aus Berlin. Hier ging es um zwei Schwerpunkte: die Umwälzungen der Revolution in den Geschlechterverhältnissen und um die kulturellen Umbrüche, die sich in einer explosionsartigen Freisetzung von kreativen Potenzialen der bisher in den verschiedensten Formen vom Zarismus Unterdrückten zeigte. Anna Ochkina (Sozialwissenschaftlerin aus Pensa) betonte in diesem Sinne ähnlich wie Mitrofonova, dass für das Verständnis der Revolution nicht nur die „großen Ereignisse und Beschlüsse“ wichtig seien, sondern auch und vielleicht vor allem die „Mikropraxen“. Gerade vor diesem Hintergrund sei der Zusammenhang von politischen und sozialen Rechten zentral: ohne politische Rechte blieben soziale Rechte individuell, ohne gesellschaftlichen Bezug. Das sei eines der Gründe für die letztendliche Niederlage der Revolution gewesen.

An dieser Stelle kann nicht auf Details eingegangen werden (eine Dokumentation der Beiträge wird vorbereitet). Es zeigte sich aber auch auf dieser Veranstaltung, dass dieser Aspekt der vielleicht wichtigste der Revolution 1917 war. Hier fallen die Februar- und die Oktoberrevolution tatsächlich zusammen. Diese Umwälzungen und die Entwicklung eines politischen Systems mit starken repressiven Zügen bilden die beiden Seiten des Widerspruches, der die Jahre des Realsozialismus von 1917 bis 1990/91 prägten.

So bleibt auch nach dieser Konferenz das Fazit: das Jahr 1917 bleibt umstritten und in seiner Widersprüchlichkeit nahezu unergründlich. Es entzieht sich bis heute einer abschließenden Wertung, auch dank der Arbeit von Archiven und Bibliotheken, wodurch immer neue Materialien bekannt werden. Ein Teilnehmer brachte das Problem in das Bild, das Revolutionen eigentlich immer von Niederlage zu Niederlage fortschreiten. Das ist wohl so – aber für die Nachgeborenen ist wichtig, das WIE des Scheiterns zu verstehen, denn das hat Konsequenzen für künftiges Handeln. Damit sind ganz gegenwärtige Fragen aufgerufen, wie z.B. die nach den Strukturen der eigenen Organisationen, nach Werten, nach der Fähigkeit zu internationaler Solidarität.