Unberechenbare Vergangenheit in ungewissen Zeiten: Hundert Jahre Revolution im heutigen Russland

Code der Revolution - Ausstellung in Moskau
Code der Revolution - Ausstellung in Moskau Foto: lb Public Domain

Das hundertjährige Jubiläum der russischen Revolutionen von 1917 ist omnipräsent. Bücher, Fernsehsendungen, Ausstellungen leuchten überall auf der Welt die unterschiedlichsten Aspekte von 1917 aus. Aber was macht das Putin-Regime mit der Revolutionsgeschichte und wie reagiert die Bevölkerung? Erschienen am 27. August 2017 auf Geschichte der Gegenwart

„Wie wird man in Russland das hundertjährige Jubiläum der Revolution begehen?“, werden wir schon seit einigen Jahren immer wieder von ausländischen Kollegen gefragt. Doch selbst jetzt, Mitte 2017, können wir immer noch keine genaue Antwort darauf geben. Russland wurde oft als das „Land mit der unberechenbaren Vergangenheit“ bezeichnet – ein Land, in dem Geschichte immer wieder von einander ablösenden Regimes umgeschrieben wurde. Gegenwärtig stellt sich die Vergangenheit in Russland noch unvorsehbarer dar als sonst: Die politische Entwicklung ist ungewiss, und jeder Kurswechsel kann sich auf die Erinnerungspolitik niederschlagen.

Kurs auf „nationale Versöhnung“

Besonders aufmerksam verfolgen Beobachter die öffentlichen Äußerungen von Vladimir Putin, in denen gleichsam der Schlüssel zum Verständnis der staatlichen Erinnerungspolitik gesehen wird. Im Dezember 2016 rief Putin in einer Ansprache vor der russischen Bundesversammlung dazu auf, das Jubiläum als Ressource zur „Versöhnung“ sowie zur „Stärkung des gesellschaftlichen, politischen und staatsbürgerlichen Zusammenhalts“ zu nutzen. Zugleich wandte er sich gegen einen seinem Verständnis nach missbräuchlichen Umgang mit der Vergangenheit: Es sei „unzulässig, die Spaltungen, die Wut, die Kränkungen und die Verbitterung der Vergangenheit in unseren heutigen Alltag hineinzuzerren, um mit den Tragödien, von denen fast jede Familie in Russland beiderseits der Barrikaden betroffen war, für eigene politische und andere Interessen zu spekulieren.“ Dieses Konzept vom Revolutionsjubiläum als Gelegenheit zu Versöhnung und Verständigung ist nicht bloß von der Zentralregierung ersonnen und den Peripherien aufgedrückt worden – es gibt dafür durchaus eine gesellschaftliche Nachfrage in der Provinz, was sich in der Errichtung entsprechender „Versöhnungsdenkmäler“ in Novočerkassk und Krasnodar zeigt.

Am 19. Dezember 2016 schließlich unterzeichnete Putin einen Erlass „zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen zum 100-jährigen Jubiläum der Revolution von 1917“, infolge dessen die offiziöse Russische Historische Gesellschaft, finanziert vom Kulturministerium, ein Organisationskomitee zur Durchführung von Jubiläumsmaßnahmen formierte. Unter den vom Organisationskomitee bewilligten Maßnahmen finden sich Ausstellungen, Publikationen und Bildungsprojekte. Wenn es jedoch um das eigentliche Gedenken geht, ist die Liste außergewöhnlich kurz. Zwar wird die Einweihung eines Versöhnungsdenkmals am 4. November geplant – auf der Krim. Ein resonanzträchtiges Unterfangen, aber niemand scheint zu wissen, ob das Denkmal tatsächlich erbaut werden kann, zumal die Mittelakquise für seine Errichtung bislang mit nur mäßigem Erfolg verlaufen zu sein scheint.

Passivität der Jubiläumspolitik – Angst vor neuer Revolution?

Die Worte Putins wurden von vielen russischen Entscheidungsträgern als Handlungsanleitung aufgenommen. Doch es wäre verkürzt, so scheint uns, ihnen zu viel Bedeutung beizumessen und die Jubiläumsmaßnahmen lediglich als Ausführung des präsidialen Willens zu interpretieren. Zum einen ist Putin selbst durch seine vorangegangenen Äußerungen in seinem Spielraum eingeschränkt. Zwar bietet die Geschichte genügend Beispiele radikaler erinnerungspolitischer Kehrtwenden, doch solche Brüche bergen auch offensichtliche Risiken, die Politiker gewöhnlich zu vermeiden versuchen. Zum anderen stellt das Jubiläum eine Ressource dar, die schwer, wenn nicht gar unmöglich zu monopolisieren ist. So wurden auch zu Sowjetzeiten Jubiläen genutzt, um unterschiedliche, mitunter einander widersprechende Erinnerungsprojekte zu lobbyieren. Drittens schließlich stellt jedes kommemorative Projekt eine begrenzte Ressource dar. Dabei geht es nicht nur um materielle und personelle Kapazitäten, sondern auch um die Besonderheiten des kulturellen Gedächtnisses und das historische Wissen der Adressaten der entsprechenden Botschaften, denn es ist letztendlich die Wahrnehmung der Kampagne, die über ihren Erfolg entscheidet.

Wo also liegen die Limits dieser Erinnerungspolitik?

Es gibt mehrere Daten, die mit kommemorativen Aktionen begangen werden können: So wurde zunächst im März 1917 die Monarchie gestürzt, im November 1917 kamen die Bolschewiki an die Macht. Die Staatsmacht ignorierte das erste Datum weitgehend und gedachte dem Fall der Monarchie mit keinerlei bedeutenden Aktionen. Zwar wurden Ausstellungen eröffnet, Fachtagungen abgehalten, neue Bücher publiziert, und die 100 Jahre zurückliegenden Ereignisse in den Massenmedien beleuchtet (wobei viele dieser Projekte von staatlicher Finanzierung profitieren konnten) – doch es gab keinerlei staatliche Zeremonien, die diesem Jahrestag zugedacht gewesen wären. Die Staatsmacht versuchte, so scheint es, das Jubiläum so gut es ging zu ignorieren, da sie die Revolutionsgeschichte als „unverwertbar“ einschätzte.

Dieses Schweigen der Staatsmacht wird zuweilen mit der Angst der gegenwärtigen politischen Eliten vor „Revolutionsimporten“ erklärt. In der Tat bezeichnen einige regierungsnahe Autoren den Sturz der Monarchie in anachronistischer Weise als „farbige Revolution“ [in Anknüpfung an die demokratischen Umwälzungen im postsowjetischen Raum der letzte 15 Jahre, Anm. d. Übers.], und haben bei der Beleuchtung der historischen Ereignisse vor allem ausländische Einmischungen sowie alle nur denkbaren Verschwörungen im Blick. Auch Putin selbst hatte in den vergangenen Jahren bei mehreren öffentlichen Auftritten vom Dolchstoß gesprochen, der der glorreichen russischen Armee im Ersten Weltkrieg zugefügt worden sei. Diese Interpretation spiegelt sich auch zu einem gewissen Grad in der öffentlichen Meinung: Hatten noch 1990 den Angaben des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“ zufolge lediglich 6% der Befragten eine „Verschwörung der Feinde des russischen Volkes“ als Grund für die Revolution angegeben, waren es 1997 bereits 11%. Nach 2014 erfreute sich die Suche nach Feinden, in Vergangenheit wie Gegenwart, noch größerer Popularität – bei den Eliten wie auch in der breiten Bevölkerung: 2017 bekannten sich bereits 20% der Befragten zur verschwörungstheoretischen Interpretation der Revolutionsgeschichte.

Doch selbst der aufrichtigste Verschwörungsglaube kann nicht als alleinige Erklärung dafür dienen, warum die Ressource des Jubiläums nicht genutzt wird – zumal sich gerade in diesem Jahr der Anteil verschwörungstheoretischer Geschichtsbetrachtungen in den Massenmedien verringert zu haben scheint. Ebenso ist nicht davon auszugehen, dass sich die politische Führung ernsthaft vor einer kommenden Revolution fürchtet: Wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, ist die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, dass im heutigen Russland eine neue Revolution um jeden Preis zu verhindern sei. Diese Meinung wird von öffentlichen Intellektuellen, der Kulturprominenz, Oppositionsführern und sogar einigen Teilnehmern von Protestaktionen geteilt, wobei letztere in ihrem Agieren einen Beitrag zur Verhinderung einer neuen Revolution sehen. Dieser antirevolutionäre Konsens stellt für die Staatsmacht eine überaus wichtige Ressource dar.

Polarisierte Erinnerung

Während also die Bewohner des heutigen Russlands eine Revolution als Zukunftsszenario ablehnen, bewerten sie die historische Revolution auf höchst unterschiedliche Weise. Die Entwicklungsdynamiken im Verhältnis zur Oktoberrevolution seit den 1990er-Jahren lassen sich an den landesweiten Umfrageergebnissen des Allrussischen Meinungsforschungszentrums (WZIOM), des Fonds „Öffentliche Meinung“ sowie des Lewada-Zentrums nachzeichnen. Man könnte annehmen, dass die Inhalte und Prinzipien der Geschichtsvermittlung an Schulen und Hochschulen sich in den Vorjahren geändert hätten, und dass eine neue Generation herangewachsen wäre, die diese Vermittlung durchlaufen hätte. Wenn man jedoch die Umfragewerte als Ausgangspunkt nimmt, hat sich die Einstellung zur Revolution nur geringfügig – wenn überhaupt – geändert. Dies lässt sich am Beispiel der Frage, was die Oktoberrevolution „den Völkern Russlands“ gebracht habe, beobachten, die zum Repertoire des WZIOM und des Lewada-Zentrums gehört. 23% der Befragten erklärten sich mit der Variante „sie öffnete eine neue Ära in der Geschichte der Völker Russlands“ im Jahr 1990 einverstanden, über 20 Jahre später waren es 25%. Der Meinung, sie habe „eine Beschleunigung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung“ bewirkt, schlossen sich 26% beziehungsweise 28% an.

Die Prozentzahl derjenigen, die unter den Akteuren der Revolutionsepoche Lenin die größte Sympathie entgegenbrachten, fiel im gleichen Zeitraum von 67% auf 26%. Allerdings verbleibt Lenin erstens nichtsdestotrotz unter den populärsten politischen Führern des 20. Jahrhunderts (wovon alle Umfragen zeugen), und zweitens hat sich dieser Wert seit 1997 kaum verändert.

Zugleich spaltet die Einstellung zur Revolution die russische Gesellschaft. Mit der gegenteiligen Meinung, die Revolution habe „die Entwicklung gebremst“, erklärten sich nach Angaben des Lewada-Zentrums im Jahr 1990 18% der Befragten einverstanden, zwanzig Jahre später waren es 19%. Der Meinung, die Revolution sei für die Völker Russlands eine „Katastrophe“ gewesen, schlossen sich 12% beziehungsweise 8% an. Auch die Umfragewerte des WZIOM offenbaren fast gleiche Ergebnisse. Insgesamt sind nach Angaben des Lewada-Zentrums 48% der Bürger in verschiedener Intensität davon überzeugt, dass die Oktoberrevolution eine positive Rolle in der russischen Geschichte gespielt habe, während 31% ihr eine negative Rolle zuschreiben.

Auch die Zahl der Befragten, die Lenin als die negativste Gestalt der Revolutionsepoche bewerteten, wuchs im selben Zeitraum von 5% auf 13% an. Es ist bezeichnend, dass Putin in einigen seiner öffentlichen Auftritte sich negativ über die Rolle Lenins geäußert hat, doch zugleich muss er die Stimmungen vieler Bürger in Betracht ziehen, die dies anders sehen.

Auch die Versuche einiger öffentlicher Akteure, sich zu „Erben“ dieser oder jener politischen Kräfte von 1917 zu stilisieren, führen zu neuen Konflikten statt zu Versöhnung. Ein Beispiel dafür bietet die Duma-Abgeordnete Natal’ja Poklonskaja, die seit geraumer Zeit bestrebt ist, ein Geschichtsnarrativ zu etablieren, in dessen Zentrum die sakralisierte Figur des (von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochenen) Zaren, Nikolaus II., steht. Ein solches Projekt der offensichtlichen und aggressiven Entsäkularisierung der staatlichen Geschichtspolitik widerspricht dabei objektiv der Linie der „Versöhnung“, denn offensichtlich werden die unterschiedlichen, einander oft diametral entgegenstehenden Kräfte der Gesellschaft nicht dazu bereit sein, ihn anzunehmen.

Starke Meinungen, schwaches Wissen

Die Chancen dafür, dass das Jubiläumsjahr die Bürger dazu bewegen wird, ihre Einstellung zur Revolution zu revidieren, sind gering. Im Gegenteil kann man davon ausgehen, dass sich ihre prononcierten Meinungen noch mehr verfestigen werden. Im heutigen Russland gibt es praktisch niemanden, der nicht zumindest etwas über die Ereignisse von 1917 weiß (wenn auch die eigenen Kenntnisse oft überschätzt werden). So gehörte die Revolution laut den Umfragewerten des Fonds „Öffentliche Meinung“ für über 60% der Bürger zu den fünf historischen Ereignissen, dessen Datum man kennen müsse, und ganze 77% konnten tatsächlich das richtige Datum nennen.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die russische Bevölkerung tatsächlich viel über die Revolution wüsste. Wenn auch lediglich 15% der Befragten erklärten, nie über die Februarrevolution 1917 gehört zu haben, konnte nichtsdestotrotz über die Hälfte derjenigen, die angaben, davon zu „wissen“ oder „gehört“ zu haben, nichts benennen, was ihnen im Zusammenhang mit diesem Ereignis in den Sinn käme. Aus den Antworten von ungefähr 10% der Befragten wird zudem offensichtlich, dass in ihren Köpfen alle Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts verschmolzen sind – nicht nur die von 1917, sondern auch die Revolution von 1905. Der Großteil der Antworten war zudem maximal schwammig: Die Respondenten gaben zu Protokoll, man habe die Revolution „in der Schule durchgenommen“, oder präsentierten ihre Meinung über die Revolution als allgemeines Phänomen. Lediglich 10% der Befragten äußerten Assoziationen und Einschätzungen, die mehr oder weniger konkret auf die Februarrevolution und ihre Protagonisten Bezug nahmen.

Die unnutzbare Vergangenheit

Dabei ist es gerade die „starke Meinung“ im Zusammenspiel mit einem niedrigen Grad historischen Wissens, die einen großen Einfluss auf die Rezeption geschichtspolitischer Botschaften ausübt. Daher wird die uneinheitliche und polarisierende Einstellung zur Revolutionsgeschichte wohl weiterhin bestehen bleiben. Womöglich gibt es in Russland tatsächlich eine gewisse Nachfrage nach Angeboten nationaler Versöhnung, doch ein Bedarf nach einem Kompromiss bezüglich der ein Jahrhundert zurückliegenden Ereignisse und einer Korrektur der eigenen Ansichten lässt sich nicht beobachten.

In dieser Situation erscheinen das Handeln Putins und seines Umfeldes auf eine eigene Art pragmatisch; sie berücksichtigen die Besonderheiten des historischen Bewusstseins der Öffentlichkeit. Sie deklarieren zwar, das Jubiläum zur „Versöhnung“ zu nutzen, halten diese aber im Grunde nicht für realisierbar. Die Erinnerung an die Revolution ist für sie folglich politisch nicht nutzbar. Die Staatsmacht lässt eine relativ freie Diskussion im akademischen Rahmen zu und gewährt einzelnen Veranstaltungen sogar finanzielle Hilfe, allerdings haben die im akademischen „Reservat“ eingehegten Gelehrtendispute kaum gesellschaftliche Resonanz. Und auch andere politische Kräfte – mit Ausnahme vielleicht der orthodoxen Kirche – haben für die Erinnerung an die Revolution keine politische Verwendung.

Angesichts der politischen Ungewissheit fällt es schwer, Hypothesen anlässlich bevorstehender staatlicher und gesellschaftlicher Gedenkmaßnahmen im Oktober/November 2017 aufzustellen. Man kann jedoch annehmen, dass die Institutionen der Macht auch weiterhin darauf verzichten werden, auf die Ressource des Jubiläums zurückzugreifen – denn es soll auch nicht das geringste Risiko eingegangen werden, den gegenwärtigen Status Quo in Frage zu stellen. Die hier beschriebene Abwesenheit jeglichen staatlichen Gedenkens zum hundertjährigen Jubiläum des Zarensturzes spricht für diese Prognose. Und es sieht nicht danach aus, dass aus der Gesellschaft heraus Druck ausgeübt werden würde, um dies zu ändern.

Boris Kolonitski ist Professor für Geschichte an der Europäischen Universität St. Petersburg und an der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, Maria Matskevich ist Soziologin an der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg.

Aus dem Russischen von Gleb J. Albert

Erschienen am 27. August 2017 auf Geschichte der Gegenwart