Veranstaltung zu 150 Jahre "Kapital” in New York

Am 14. September 1867 verkündete das Börsenblatt des deutschen Buchhandels die Veröffentlichung von Karl Marx’s “Das Kapital, Erster Band: Der Produktionsprocess des Kapitals“. 150 Jahre später, am 14. September 2017, feierte das New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung das Jubiläum von Marx’ magnum opus. Mit Diskussionsbeiträgen des renommierten marxistischen Sozialtheoretikers David Harvey, der emeritierten Professorin Nancy Holmstrom (Rutgers University) und von Ajay Singh Chaudhary des Brooklyn Institute for Social Research lockte die Veranstaltung, die gemeinsam mit dem Goethe-Institut New York ausgerichtet wurde, ein großes Publikum an.

New York City als Veranstaltungsort zu wählen, mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, wie der Ko-Direktor der Rosa-Luxemburg-Stiftung New York Albert Scharenberg, der die Diskussion moderierte, anmerkte. Schließlich war Karl Marx nie in den Vereinigten Staaten. Aber sein Werk wurde zugleich in Deutschland vom Hamburger Verlagshaus Otto Meissner und vom Verleger L.W. Schmidt in Manhattan publiziert. Tatsächlich war Marx’ intellektuelles Schaffen breit angelegt, und seine politische Analyse beschränkte sich keineswegs auf den deutschen Kontext. Als Europakorrespondent für die „New York Daily Tribune“ beschäftigte sich Marx mit den damaligen politischen Zuständen in den Vereinigten Staaten, insbesondere dem Amerikanischen Bürgerkrieg und der sogenannten Krise der Sklaverei. Die Entscheidung, die Jubiläumsveranstaltung in New York auszurichten, war in diesem Sinne durchaus bedeutsam.

Die Inhalte der Veranstaltung waren dringlich und undogmatisch zugleich: Von der historischen Situation des 19. Jahrhunderts ausgehend, verortete die Diskussion das Marxsche Werk zunächst in seinem zeitgenössischen Kontext. Der zentrale Teil des Abends war jedoch darauf ausgerichtet zu erörtern, ob bzw. inwieweit Marx’ Thesen für die politische Theorie der Gegenwart Relevanz besitzen und auf heutige politische Kämpfe anwendbar sind.

David Harvey eröffnete das Gespräch, indem er “Das Kapital” in den größeren Rahmen der politischen Ökonomie Karl Marx’ einordnete. Diese Kontextualisierung diente sowohl der Neubewertung als auch einer Kritik des Marxschen Werkes. Marx hatte ja durchaus nicht immer Recht, wie Harvey anmerkte, doch war er grundsätzlich gewillt, seine Thesen zu korrigieren. Im Geiste des Marxismus muss somit auch die heutige Leserschaft dazu bereit sein, „Das Kapital“ kritisch zu hinterfragen und die grundlegenden Annahmen des Werkes an die geänderten geographischen und historischen Umstände anzupassen. Für Ajay Singh Chaudhary geht es deshalb weniger darum, in der Auseinandersetzung mit Marx dialektische Perfektion anzustreben, sondern vielmehr einen Marxismus zu formulieren, der sich nicht vor der Auseinandersetzung mit unserer heutigen chaotischen und widersprüchlichen Welt scheut.

Auch Nancy Holmstrom nahm in ihrem Beitrag Bezug auf die politischen Widersprüche, in denen wir uns in der heutigen Welt immer wieder verfangen. So verführerisch es auch sei, positive Veränderungen in unserer Gesellschaft hochzuhalten – etwa die Tatsache, dass Frauen Männern gegenüber heute zunehmend gleichgestellt sind –, so dürfen wir nicht übersehen, dass sich andere Ungerechtigkeiten wie Rassismus und Sexismus hartnäckig halten. Auch wenn manchen im Zeitalter des „progressiven Neoliberalismus“ – der meist in Begriffen wie Diversität, Gleichberechtigung oder Emanzipation seinen Ausdruck findet – alles fortschrittlich erscheint, so kann unter einer kapitalistischen Weltordnung keine wirkliche Befreiung stattfinden. Diskriminierung und Ausbeutung aufgrund sozialer Unterschieden wie Geschlecht oder Hautfarbe sind im Kapitalismus systemische Probleme. Gerade als marxistische (oder sozialistische) Feministen können wir uns deshalb gegen solche Ausbeutungsstrategien nur zur Wehr setzen, wenn wir den Kampf gegen Rassismus und Sexismus mit dem Kampf für ökonomische Gerechtigkeit verbinden.

Soll Marx auf unsere derzeitige politische Situation anwendbar sein, müssen wir uns aber auch von jeglicher Art moralistischer (und potentiell reaktionärer) Kritik des Kapitalismus distanzieren. Dies gilt gleichermaßen für engstirnige Aburteilungen, die einzig und allein maßlosen Konsum verdammen, wie für romantische Vorstellungen einer antikapitalistischen Utopie, die der Realität nicht standhalten können. Die Relevanz des Marxschen Werkes besteht vielmehr darin, dass es uns die Gesetzmäßigkeiten eines von Grund auf widersprüchlichen und ungerechten Systems aufzuzeigen vermag – eines Systems, in dem von Tag zu Tag die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Was uns der Kapitalismus lehrt, ist die Perfektion der Logik des Marktes: Wo es keine Nachfrage oder kein Verlangen nach Konsumwaren gibt, muss solch eine Nachfrage geschaffen, muss Verlangen geschürt werden.

Was uns “Das Kapital” lehrt ist, dass in diesem Widerspruch der Keim des Klassenkampfes ruht. Bestimmte Merkmale des Kapitalismus, wie etwa Profitmaximierung, sind heute nicht mehr allein der westlichen Welt oder den Industriestaaten vorbehalten, sondern treten universell auf. Diese Situation, so Ajay Singh Chaudhary, verlange eine neue, angstlose und radikal offene Lesart des Marxschen Werkes, die uns eine schonungslose Kritik des derzeitigen politischen Zustandes ermöglicht. Zugleich sei es unabdingbar, dass wir schon heute die Grundlage für eine zukünftige sozialistische Gesellschaft schaffen, indem wir den Arbeitern die Kontrolle über die Produktionsmittel geben und die „Dekommodifizierung“ von Bildung, Gesundheitsfürsorge, Lebensmittelversorgung, Unterkunft und Verkehr vorantreiben.

Für David Harvey ist „Das Kapital” auch 150 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung und jahrzehntelanger wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Werk immer wieder aufs Neue bestechend. „Das Kapital“ ist jedoch nicht nur großartige Literatur, sondern es bietet uns auch eine stechend scharfe und bis heute verlässliche Analyse der politischen Ökonomie. Im Kern zeigt es auf, dass das System des Kapitalismus keineswegs einen positiven Kreislauf darstellt, sondern eine Spirale, die jederzeit außer Kontrolle geraten kann. Wenn wir diesen Spiralmodus beenden wollen, so müssen wir eine konkrete Vorstellung einer anderen Welt entwickeln, die sowohl sozial gerecht als auch wirtschaftlich nachhaltig gestaltet ist.

 

  • Das Video mit den vollständigen Präsentationen und Ausschnitten aus der Diskussion
  •  Ein kurzes Video mit Highlights der Veranstaltung
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