Vietnam diskutiert über Marx

Konferenz in Buon Ma Thuot
Begrüßung der TeilnehmerInnen am Tagungsort Foto: Privat Public Domain

Eine Konferenz im vietnamesischen Hochland Mitte Mai widmete sich der Frage, welche Bedeutung Marx heute für die Entwicklung Vietnams haben könnte. Die Vietnamesische Akademie für Gesellschaftswissenschaften Hanoi hatte dazu mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung WissenschaftlerInnen aus Vietnam, Laos, China, Südkorea, Japan und Deutschland eingeladen.

Interessant war erst einmal der Fakt dieser Konferenz selbst. Eine Diskussion des Marxschen Erbes hier in der Region wird in Westeuropa eher nicht vermutet werden. Die Region wird wohl eher als Rohstoffressource und Hort der Billigkonkurrenz wahrgenommen, in der die Ideen des Neoliberalismus in grober Form ihren Triumph feiern. Das ist sicher nicht völlig falsch. Auch auf dieser Konferenz waren Stimmen zu hören, die das neoliberale Weltbild vom hart arbeitenden Unternehmer, der doch eben seiner harten Arbeit wegen Reichtum verdient habe, vertraten. Alle müssten nur hart genug arbeiten, so würden alle reich werden - so die implizite Schlussfolgerung. Auch die demotivierende Wirkung staatlicher Arbeitslosenunterstützung wurde beschworen.

Folie für andere DiskutantInnen war eine klassisch wohlfahrtsstaatliche Orientierung. Der Schwerpunkt lag – verständlich angesichts der Herausforderungen der gesellschaftlichen Realität – auf der Frage der Herstellung von Gerechtigkeit durch Regulierung. Es wurden im Plenum und in den Konferenzunterlagen interessante Untersuchungen zur sozialen Situation in Vietnam vorgestellt. Der Bezug auf Marx war in den meisten der Beiträge eher vermittelt. Verweise auf Marx gab es hinsichtlich der Begründung von Ungleichheit bei der Verteilung in der ersten Etappe des Sozialismus. In dem einführenden Beitrag des Veranstalters wurde auch kurz das Problem der Entfremdung und der Bedeutung der Eigentumsverhältnisse angesprochen. Der Staat müsse entsprechend intervenieren. An dieser Stelle wurde die Diskussion unscharf. Worin die Beziehung zwischen Verteilung, Gerechtigkeit, Eigentum und Entfremdung besteht, wurde praktisch nicht diskutiert.

Hinsichtlich der Perspektiven für Vietnam bezog man sich auf die westeuropäischen Sozialstaatsmodelle. Die eigentlich wichtige Frage, wie diese entstehen konnten, blieb dabei aber weitgehend unberücksichtigt. Deutschland wird als Vorbild gesehen. Der Sachverhalt, dass sich der deutsche Sozialstaat nur im Kontext harter sozialer Kämpfe entwickeln konnte und diese Entwicklung mit weitgehenden staatlichen Interventionen in das Wirtschaftsleben verbunden war, spielte in diesem Bild eine untergeordnete Rolle. Man muss berücksichtigen, dass in der BRD der 1950er Jahre weite Sektoren der Wirtschaft aus der unmittelbaren Wirkung von Marktbeziehungen ausgenommen waren. Es waren die Stärke der Gewerkschaften und die historische Ausnahmesituation nach dem Weltkrieg, die die Spielräume des deutschen Kapitals einengten und diese Art von Sozialstaatlichkeit ermöglichten. Auch die Schattenseiten dieser Entwicklung, die repressiven Momente bundesdeutscher Sozialstaatlichkeit, wurden übergangen.

Hier sind deutliche Parallelen zu entsprechenden Debatten in Russland oder China zu beobachten. Das ist auch nachvollziehbar, besteht doch in diesen Ländern eine Arbeiterklasse, wie sich einst in Westeuropa entwickelt hatte, eben nicht. Ergebnis ist eine Gesellschaft, die sich von dem ja auch sehr differenzierten westeuropäischen Gesellschaftsmodell unterscheiden muss.

Wenn man in diesem Zusammenhang über die Rolle marxscher Erkenntnisse diskutieren will, so muss man sich vor allem über dessen methodischen Ansatz klar werden. Andernfalls bleiben Bezugnahmen auf die Aussagen in der Kritik des Gothaer Programms – hier knüpften die meisten Beiträge an - inhaltsleer. Es geht letztlich darum, wie Marx die Verteilungsverhältnisse im Kontext der Widersprüche der Reproduktion in ihrer Gesamtheit, einschließlich der Widersprüche zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Gesellschaft und Natur und der den Geschlechterverhältnissen innewohnenden Widersprüche versteht. Letztlich betonte Marx auch das Verhältnis zwischen der Verteilungsweise und der Menge dessen, was überhaupt zu verteilen ist. Damit ist auch und nicht zuletzt das Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte angesprochen.

Im Verlaufe der Diskussion wurde aber auch noch eine Frage aufgeworfen, die bezüglich der Verteilungsgerechtigkeit und des Weges zu ihr von nicht unwesentlicher Bedeutung ist: sollen Lohnabhängige überhaupt Lohnerhöhungen fordern - oder ist das sinnlos, weil damit nur die Inflation befeuert werde? Diese Kontroverse zwischen MarxistInnen und KeynesianerInnen hat natürlich eine weitreichende politische Dimension, weil sie die Frage nach dem Subjekt der Gesellschaftsveränderung betont – Staat und Partei als Regulierungsinstanzen oder die Menschen selber?

Die Fixierung auf den Staat führte in den Diskussionen zu einer gewissen Hilflosigkeit. Man schaut auf das Ergebnis der sozialen Auseinandersetzungen in Westeuropa, das als Resultat staatlichen Handelns erscheint, als gegebene Gesetzlichkeit. Damit verschwindet aber der Fakt des Abbaus des Systems in den vergangenen 20 Jahren als Resultat der Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Die Ursachen lassen sich dann bestenfalls als Staatsversagen oder als fatalistisch hinzunehmende Wirkung von Marktkräften interpretieren. Die deutschen TeilnehmerInnen verwiesen auf diese Widersprüchlichkeiten. Während also Verteilungsprinzipien diskutierbar sind, sind deren Grundlage in den sozialen Auseinandersetzungen aus vietnamesischer Sicht vor dem Hintergrund unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrungen schwer nachvollziehbar. Fragen der Selbstorganisation der Arbeiter, der Entwicklung von Klassensolidarität als eine unerlässliche Voraussetzung für die Eindämmung bzw. Gestaltung von Ungleichheit und Voraussetzung ihrer schrittweisen Überwindung stellen sich hier anders als in Westeuropa. Marx fasste ja die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft und die ihr innewohnenden emanzipatorischen Momente eben im Widerspruch von bürgerlichem Recht und emanzipatorischem Anspruch. Dieser muss, so Marx, durch bewusstes, planvolles Handeln gelöst werden. (vgl. zu diesem Komplex Marx 1987 [1875])

Um also das Marxsche Verständnis von Verteilung und Gerechtigkeit zu verstehen, reicht die Bezugnahme auf die Kritik des Gothaer Programms nicht aus. Für ihn sind beide Momente von gesellschaftlicher Reproduktion und menschlicher Emanzipation. Es kann keine Gerechtigkeit als „ewigen Wert“ geben, Gerechtigkeit ist immer historisch bestimmt. Man muss also den „ganzen Marx“ in den Blick nehmen.

Die Konferenz setzte an einem Punkt an, an dem Marx endete. Nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des „Kapital“ widmete er sich (wie übrigens ja auch Engels schon vor ihm) intensiv der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Formen, die dem Kapitalismus vorausgehen und in ihm auch immer noch präsent waren. Es ging also darum, nach der Ergründung des Wesens des Kapitalismus die Formen, die Differenzierungen des Übergangs aus vorkapitalistischen Gesellschaften und die sich aus diesen Differenzierungen ergebenden Konsequenzen zu beleuchten. Der Brief an Vera Sassulitsch, mehr noch die Vorarbeiten dazu (vgl. Marx 1987 [1881]), die bereits vorher erarbeiteten Bemerkungen für die Otecestvennye zapiski (vgl. Marx 1987 [1877]), die Notizen zu Russland (vgl. Marx 1978, 1987 [1881-1882]) und vor allem auch die intensiven Diskussionen mit Kowalewski deuten darauf hin, dass es Marx an dieser Stelle um sehr grundsätzliche Fragen ging. Es sollte berücksichtigt werden, dass er sich gerade auf diese Gebiete begab und nicht in gleicher Intensität die Arbeiten an den ausstehenden Bänden fortsetzte; obwohl er in Briefen immer wieder betonte, dass er stark von der Arbeit am 2. Band seines Werkes eingenommen sei. Diese Schwerpunktsetzung des späten Marx legt nahe, dass die Frage des Werdens der kapitalistisch-bürgerlichen Ordnung in ihrer inneren Dynamik und Widersprüchlichkeit ihn sehr bewegt haben muss. Er schrieb z.B. an Sorge 1880: „Es wäre mir lieb, wenn du mir was Tüchtiges (inhaltsvolles) über die ökonomischen Zustände in Kalifornien auftreiben könntest… Kalifornien ist mir sehr wichtig, weil nirgendwo sonst die Umwälzung durch kapitalistische Zentralisation in der schamlosesten Weise vollzogen hat – mit solcher Hast.“ (Marx 1983 [1880], 478) Praktisch bedeutet das ja dann auch, dass die Bedeutung von auf vorkapitalistische Wurzeln zurückgehenden gesellschaftlichen Formen, Traditionen etc. vor einer neuen Bewertung gestanden haben könnte. Die bei Marx zu findende Bemerkung, dass das Kapital sich alle anderen Bereiche letztendlich unterordnet, erhielt damit eine dialektische Ausdeutung: Sie betonte die Widersprüchlichkeit dieses Prozesses und die Vielfalt der dabei zu berücksichtigenden gegenläufigen Tendenzen. Die Entwicklungen in Sowjetrussland und in den anderen realsozialistischen Ländern ab 1921 bestätigten auf jeden Fall diese komplexere Sicht.

Das war und, so zeigte auch die Diskussion in Vietnam, ist ein entscheidendes Moment sowohl hinsichtlich der Weiterentwicklung des marxschen theoretischen Ansatzes, also auch hinsichtlich der politischen Strategien, die sich darauf beziehen.

Quellen und zum Weiterlesen

Marx, Karl. 1978. Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts : über den asiatischen Ursprung der russischen Despotie ; mit Komm. von Bernd Rabehl und D. Rjasanov. Edited by Ulf Wolter, Revelations of the diplomatic history of the eighteenth century <dt.>. Berlin: Olle & Wolter.

Marx, Karl. 1983 [1880]. "Marx an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken." In Karl Marx Friedrich Engels Werke Bd. 34, 474-478. Berlin: Dietz Verlag.

Marx, Karl. 1987 [1875]. "Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programms)." In Karl Marx/Friedrich Engels Werke Band 19, 11-32. Berlin: Dietz Verlag.

Marx, Karl. 1987 [1877]. "Brief an die Redaktion der "Otetschestwennyje Sapiski"." In Karl Marx Friedrich Engels Werke Bd. 19, 107-112. Berlin: Dietz Verlag.

Marx, Karl. 1987 [1881-1882]. "[Notizen zur Reform von 1861 und der damit verbundenen Entwicklung in Rußland]." In Karl Marx Friedrich Engels Werke Bd. 19, 407-424. Berlin: Dietz Verlag.

Marx, Karl. 1987 [1881]. "Brief an V.I. Sassulitsch " In Karl Marx Friedrich Engels Werke Bd. 19, 242-243. Berlin: Dietz Verlag.