Mit dem Sowjetkongress, dem Beharren auf der Strategie der „Vaterlandsverteidigung“ und der Installierung einer nun vom Sowjet unabhängigen Regierung mit weitreichenden Vollmachten haben die Sowjetführer, nun z.T. selbst Regierungsmitglieder, im Verlaufe des Sommer eine Situation herbeigeführt, die fatal an die im Januar/Februar des gleichen Jahres erinnert.
Kein halbes Jahr früher wurde durch die bürgerliche und Teile der monarchistischen Opposition zum gegebenen System des Zarismus versucht, durch Lavieren unvereinbare Ziele zu erreichen: die Massen zu befrieden, trotzdem den Krieg weiterzuführen und die Macht in den „alten“ Händen zu belassen. Der Krieg kann jetzt nur weiter geführt werden, wenn man nun diejenigen, die die Revolution getragen hatten, unterwirft. Damit verliert der Sowjet aber seine Machtbasis. Die Frage Krieg/Frieden wird so zum zentralen Moment der Selbstentmachtung der Sowjets. Mit dieser Selbstentmachtung verliert aber auch die Provisorische Regierung ihre Legitimation: sie hatte ihre Legitimation aus der Kontrolle durch den Sowjet geschöpft. Der Ausgang der Wahl zur Konstituierenden Versammlung, die von den Massen gefordert wird, ist unsicher. Der Schachzug Kerenskis, eine „Staatsberatung“ am 25.8. einzuberufen, die weitgehend unter Kontrolle der etablierten Strömungen steht, liefert wenigstens eine Scheinlegitimation. Sie war auch der Versuch einer neuen „Lösung von oben“.
Lenin wechselt die Losung
Interessant ist, dass Lenin zur gleichen Zeit Ende Juli von der Losung „Alle Macht den Räten“ abgeht. Spätere KommentatorInnen werden darauf verweisen, dass er dabei die alten Sowjets und deren Versagen im Blick hatte:
„Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie. Daß wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt. Das ist nicht eine Frage der Sowjets schlechthin, sondern eine Frage des Kampfes gegen die gegenwärtige Konterrevolution und gegen den Verrat der gegenwärtigen Sowjets.“ (Lenin, W.I. 1974, 188)
Freilich ist die Darlegung Lenins im Unterschied zu seinen scharfsinnigen Beobachtungen des fatalen Weges der Menschewiki und Sozialisten-Revolutionäre in die Selbstentmachtung unscharf, suchend. Die Sowjets waren seiner Meinung nach nicht in der Lage, die Machtfrage aus sich selbst heraus zu klären. Als mit den Massen verbunden spiegeln sie weitgehend unvermittelt nicht nur deren Stärken und ihr revolutionäres Potential wider, sondern auch ihre Schwächen, ihren Konservatismus, ihre Ängste; das hatte er gerade in Petrograd erleben müssen. Wie kann unter diesen Bedingungen der Unberechenbarkeit eine Revolution erfolgreich sein? Das könnten Fragen sein, die ihn nach seiner Flucht nach Rasliv bewegt haben mögen und die ihn zu den dann in „Staat und Revolution“ formulierten Schlussfolgerungen bezüglich der Natur der „Diktatur des Proletariats“ führten. (vgl. Brie 2017, 43ff.) Die damit verbundene Orientierung auf das Proletariat als entscheidende Kraft stieß dann auch sofort auf Widerspruch, so beim Anarchisten Fischiljew. Er sieht in der leninschen Aussage eine Absage
„nicht nur im Hinblick auf die gegenwärtigen Sowjets, sondern auch hinsichtlich des Prinzips der politischen Organisation der Mehrheit des Volkes, seiner werktätigen Massen in Form der Sowjets.“ (Rajewski, Maxim [d.i. Jossifowitsch Fischeljow] 2017, 240)
In dem gleichzeitigen Bekenntnis Lenins „gegenüber dem Prinzip der Sowjetorganisation“ sieht er einen „unauflösbaren Widerspruch“. (vgl. ebd., 241) Er sieht die wichtigste Aufgabe des Proletariats in „der Selbstorganisation zwecks Durchsetzung der Kontrolle der Produktion und Verteilung. Die Verwirklichung dieser Aufgabe hat nicht die jetzt undurchführbare und unerwünschte Eroberung der Staatsmacht zur Voraussetzung, diese Aufgabe kann durch die Wirtschaftsorganisationen der Arbeiter und Bauern auch während des Übergangs der Macht an die mehrheitlich kleinbürgerliche „revolutionäre Demokratie“ erfolgen.“ (ebd., 242) Dahinter steht, und das ist festzuhalten, ein unterschiedliches Verständnis von Rätemacht.
Unter diesen Gesichtspunkten erklären die Ereignisse des Juli-August 1917 den Oktober und die folgenden Bürgerkriege. Auf der einen Seite stehen die Erfahrungen der Bolschewiki und anderer Linker, auf der anderen Seite die Erfahrung der Massen, dass weder Regierung noch Sowjetführer sich in irgendeiner Weise auf sie zubewegen würden. Beide sahen sich zudem einer erstarkenden Konterrevolution gegenüber, die immer offener den „Pöbel“ wieder auf seinen Platz verweisen wollte. Die Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front war dafür ein deutliches und unmißverständliches Symbol. Bolschewiki, AnarchistInnen und zunehmend die linken Sozialisten-Revolutionäre waren die einzigen, die diese Signale verstanden. Sie waren aber organisatorisch noch zu schwach, um einen Kurswechsel in den Sowjets insgesamt zu erzwingen. Der bewaffnete Aufstand schien so aus der Sicht der Bolschewiki die einzige Möglichkeit, die Errungenschaften der Revolution zu bewahren: sie beschließen am 8. August einen entsprechenden Kurs. Und es deuten sich bereits die Auseinandersetzungen in der revolutionären Linken nach der Oktoberrevolution an.
Kleine und große Putschversuche
Am 3. August traten Kerenski und die bürgerlichen Minister zurück. Suchanow interpretiert diesen Schritt dahingehend, dass Kerenski damit jeden Widerstand gegen die Zusammenarbeit mit den Kadetten durch Erpressung brechen wollte. (Suchanow 1967, 483)
Interessant und wesentlich ist jedoch, wie die Sowjetparteien diese Regierungskrise lösen wollten, nämlich duch den Ausschluss derer, die die Revoluion "gemacht" hatten:
„Und was war das für eine Konferenz, die eine neue Regierung bilden und das Schicksal der Revolution bestimmen sollte? Eine Konferenz der Parteien, der „größten“ ..., wozu man auch die Radikaldemokraten und die NS zählte, die alle zusammen in eine Straßenbahn gepasst hätten. Aber die Vertretung der Arbeiterklasse war mit dem Segen der Sternkammer vollständig unberücksichtigt geblieben.“ (ebd., 485)
Diese Zusammensetzung bestimmt auch den Tonfall vieler Reden. Suchanow berichtet über Ausfälle gegen die „maßlosen Forderungen der Arbeiter“, gegen den „Befehl Nr. 1“ zu den Bürgerrechten der Soldaten, gegen die Rechenschaftspflicht der Minister gegenüber dem Sowjet usw.
Es gelingt Kerenski jeden Widerstand gegen die Zusammenarbeit mit den inzwischen offen konterrevolutionär auftretenden bürgerlichen Kräften zu brechen und sich völlig aus der Verantwortung gegenüber dem Sowjet zu befreien. Am 6. August tritt die 2. Koalitionsregierung ihr Amt an. Die neue Regierung besteht wieder aus nichtbolschewistischen Linken und Bürgerlichen. Suchanow charakterisiert diese Regierung als Diktatur der Bourgeoisie, die allerdings weitgehend handlungsunfähig ist – wie nun auch die Sowjets, die nach den Angriffen der Regierung und angesichts der schwankenden Positionen der Sowjetfunktionäre in Petrograd zunehmend desorganisiert waren. (ebd., 490) Das Ende der Doppelherrschaft im Juli führte nicht zu einer Klärung der Machtfrage, sondern zeigte nur, dass sie geklärt werden musste und dass bürgerliche und monarchistische Gruppierungen bereit waren, sie in ihrem Sinne zu klären.
Eine „Staatsberatung“ (nach anderen Übersetzungen „nationale Beratung“) vom 25.-28. August 1917 in Moskau sollte wenigstens die Regierung legitimieren, änderte aber an der Problemkonstellation nichts. Suchanow beschreibt den Charakter der Veranstaltung wie folgt:
„Die Zusammensetzung der auf rund zweitausend Menschen berechneten Konferenz entsprach durch ihren unsinnigen und künstlichen Charakter der Bestimmung der ehrenwerten Unternehmung… Die Arbeiter- und Soldatenorgane verschwanden gänzlich in der Masse der „gesamten Bevölkerung“. Aber das wollte man eben, um den „Willen des Landes“ richtig klarzustellen. Was das Programm der „nationalen Konferenz“ anbelangt, so war lediglich geplant, sich die gegenseitigen Erklärungen anzuhören und dann friedlich auseinanderzugehen.“ (ebd., 494f.)
Er hält eine nähere Betrachtung der Beratung für überflüssig, aber die gehaltenen Reden und der Verlauf zeigen die entstandene Konstellation sehr gut. Nicht nur, dass die revolutionäre Fraktion schwach vertreten war: Kornilow als Vertreter der harten Linie gegen die Errungenschaften der Revolution wurde stürmisch gefeiert – er sollte knapp zwei Wochen später einen Putschversuch unternehmen. Trotzki beschreibt den Verlauf der Sitzung als Konfrontation zwischen den gemäßigten Demokraten unter Kerenski und dem konterrevolutionären Lager, das seine Symbolfigur in Kornilow findet. Beide Lager finden in der Phrase der Einheit des russischen Volkes im Krieg allerdings wieder zueinander. (vgl. Trotzki 2010, 145–149) Dem entspricht auch die Rede Tschcheidses, der als Vertreter der „gemäßigten Revolutionäre“ zwar die Probleme des Landes sicher zutreffend auflistet, alle am Umgestaltungsprozess interessierten zur Zusammenarbeit auffordert aber den Bruch mit der offensichtlichen Konterrevolution vermeidet. (vgl. Hedeler, Wladislaw et al. 1998c) Auf einer Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten heißt es völlig offen:
„Die Regierung habe … eine absolute Handlungsunfähigkeit [gezeigt] … Die Staatsmacht registriere gewissenhaft alles was geschieht, bringe aber selbst nichts in die Geschehnisse ein und halte alles in Erstarrung… Jetzt müsse die Regierung auf die Wiederherstellung der elementaren Disziplin an der Front zurückkommen, auch wenn es Meutereien geben sollte; im Hinterland könne sie ruhig ihr revolutionäres Programm beibehalten und durchsetzen. Allein damit würde sie ihre Existenz rechtfertigen können. Andernfalls müßten wir uns nur auf eine Diktatur gefaßt machen. Die Linken begehren einstweilen noch auf, aber auch sie würden sich sklavisch unterwerfen und zerdrückt werden.“ (Hedeler, Wladislaw et al. 1998b, 330)
Tatsächlich war die politische Wirkung dieser Veranstaltung gering – bestenfalls bestätigte sie die Massen in ihrer Abkehr von den bisherigen Revolutionsführern. In Moskau gab es während der Beratung einen großen, wenn auch keinen General- Streik – und in Petrograd gewannen die Bolschewiki am 2. September 33 Prozent der Stimmen bei den Wahlen zur zentralen Stadtduma (stärkste Fraktion wurden die Sozialisten-Revolutionäre mit 37 Prozent). Auf der Gegenseite erwiesen sich die „gemäßigten revolutionären Demokraten“ und die nunmehr offen auftretende Konterrevolution als unfähig, eine gemeinsame Front gegen die Forderungen der Massen aufzumachen. Suchanow meint, dass die Führung der Kadetten und Kornilow im Unterschied zu den Sowjetführen und Kerenski durchaus fühlten und begriffen, dass sie handeln mussten (wie auch obiges Zitat zeigt). Vorbereitet wurde dies durch eine neue Pressekampagne gegen die Bolschewiki. (vgl. Suchanow 1967, 500)
Durch die Verschlechterung der militärischen Situation gewannen die Ereignisse schnell an Dynamik. Am 3. September besetzten deutsche Truppen Riga, wodurch Petrograd unmittelbar in Gefahr geriet. Die Linken waren sofort bereit, die Verteidigung mit zu organisieren, forderten aber Garantien dafür, dass die Situation nicht für einen konterrevolutionären Vorstoß genutzt werden könnte.
Am 7. September versuchte General Kornilow, der von Kerenski Anfang August zum Obersten Befehlshaber ernannt worden war und bis vor einiger Zeit noch enger Vertrauter Kerenskis galt, mit einem Militärputsch die Lage im Sinne der bürgerlichen Fraktion zu klären. Er behauptet eine Verschwörung der „bolschewistischen Mehrheit der Sowjets“ (die es damals noch nicht gab) mit dem deutschen Generalstab (vgl. Hedeler, Wladislaw et al. 1998a) und bezichtigt die gegenwärtige Führung der Schwäche. Aber diese Argumente, die noch wenige Wochen zuvor die Bolschewiki an den Rand der Vernichtung geführt hatten, zünden nicht mehr.
Um die Verteidigung der Hauptstadt zu gewährleisten wurde ein Revolutionäres Militärkomitee geschaffen. Bei dessen Schaffung und bei der Niederschlagung des Putschversuches spielten die Bolschewiki eine zentrale Rolle. Angesichts des Zerfalls von Regierungs- und Sowjetgewalt sind sie, so wieder Suchanow in seinen Erinnerungen, nur wenige Wochen nach den Juli-Ereignissen die einzige organisierte Kraft:
„Das Militär-revolutionäre Komitee musste bei der Organisation der Verteidigung die Arbeiter- und Soldatenmassen in Bewegung setzen. Soweit diese Massen überhaupt organisiert waren, waren sie es durch die Bolschewiken, und diesen folgten sie. Ihre große, durch elementare Disziplin zusammengehaltene Organisation war damals die einzige, die mit dem demokratischen Kern der Hauptstadt verbunden war.“ (Suchanow 1967, 508)
Letztlich scheiterte der Putschversuch, der aktiv auch nur von einem Teil des Offizierskorps unterstützt wurde, durch die agitatorische Arbeit von Aktivisten verschiedener regierungs- bzw. sowjettreuer Strömungen unter den Soldaten. Die Putschisten wurden allerdings nicht ernsthaft gemaßregelt. Kerenski, gerade durch die revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten gerettet, ernannte sich nach der Absetzung Kornilows selbst zum Oberbefehlshaber und einen bekannten Schwarzhunderter, Alexejew zum Stabschef. Kerenski hielt trotzdem weiter an einer Regierung unter Beteiligung der Kadetten fest, was ihm schließlich ja auch gelingt – und gleichzeitig sein Ende besiegelt. Es ist nicht das Ende der demokratischen Entwicklung – die endet bereits im Juni 1917. Die 2. Koalitionsregierung zerbricht am 13. September, am 14. September bildet Kerenski ein „Direktorium“ und am 8. Oktober schließlich die 3. Koalitionsregierung, wieder unter Beteiligung der Kadetten. Am gleichen Tage wird mit Leo Trotzki ein Bolschewik Vorsitzender des Petrograder Sowjets; deutlicher kann die Verschiebung der Macht im Lande nicht werden.
Suchanow beschreibt die entstandene Situation so: „Wer Geschichte schreiben wird und nicht, wie ich, Memoiren, der wird beim Studium der nachkornilowschen Periode sein Hauptaugenmerk auf die Vorgänge richten müssen, die sich im Herzen der Volksmassen abspielten. Alles andere war ephemer und hinterließ keinerlei Spuren. Es war „dramatisch“, aber bar jeder historischen Bedeutung. Anders ausgedrückt: Alles andere war nur der Hintergrund, vor dem sich die Revolution entwickelte.“ (ebd., 529)
Zu diesen Ereignissen „bar jeder historischer Bedeutung“ gehörte die am 27. September einberufene „demokratische Beratung“, die ähnlich wie zuvor die Staatsberatung nur die Unversöhnlichkeit der Positionen deutlich machte. Nur in dieser Hinsicht waren und sind sie von Interesse. Initiativen gehen von derartigen Ereignissen nicht mehr aus.
Die Initiative geht zu den Bolschewiki über
In dem Maße, in dem Provisorische Regierung und Sowjetführer versuchen, durch Scheinbewegung die Massen hinzuhalten, gewinnen die Bolschewiki einen Sowjet nach dem anderen. Besonders deutlich wurde dies an den Auseinandersetzungen um eine an sich allgemein gehaltene Resolution im Petrograder Sowjet. In dieser von den Bolschewiki am 13.9. initiierten Resolution wurde die Schaffung einer Macht aus Vertretern des revolutionären Proletariats gefordert. Grundlagen sollten sein:
- die Proklamierung einer demokratischen Republik,
- die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden,
- die Arbeiterkontrolle über die Produktion,
- die Erklärung der Ungültigkeit von Geheimverträgen (gemeint sind hier internationale Verträge),
- der Vorschlag eines allgemeinen demokratischen Friedens,
- die Abschaffung der Todesstrafe an der Front,
- die Beendigung von Repressionen gegen die Arbeiterklasse,
- die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und
- die sofortige Einberufung der konstituierenden Versammlung. (vgl. Kudelli, P.F. 1927, 269)
Die Bolschewiki waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Mehrheit. Aber die Entscheidung des Sowjets provozierte eine Stellungnahme des Exekutivkomitees, in dem die „gemäßigten Revolutionäre“ und Anhänger der Provisorischen Regierung die Mehrheit hatten. Diese wollten in einer Abstimmung am 18. September eine Distanzierung von der fünf Tage zuvor angenommenen Resolution erzwingen. Sie unterlagen entgegen ihren Erwartungen. Damit waren die mit den Bolschewiki verbundenen Kräfte aus einer Opposition zur Mehrheit geworden. Einen Tag später wurde auch in Moskau eine gleichartige Resolution bestätigt. (vgl. Suchanow 1967, 534f.)
Im „Herzen der Volksmassen“ wächst der Widerstand. Eine Streikwelle erfaßt das Land, die Bauern rebellieren, die Armee zerfällt. Dazu bedarf es nicht der bolschewistischen Agitation. Die Verhältnisse sind so. Die Losung „Alle Macht den Räten“ wird von den Bolschewiki wieder aufgegriffen, nun im Sinne der Errichtung der Diktatur des Proletariats. Den Arbeitern ist der Sinn klar – die Bauern interessieren die Feinheiten nicht, für sie ist eine Sowjetmacht, die ihre Rechte achtet wichtig – wie sie sich auch immer nennen mag.
Am 2. Oktober erreichen die Bolschewiki eine Mehrheit im Moskauer Sowjet und am 8. Oktober wird Leo Trotzki Vorsitzender des Petrograder Sowjets. Damit ist die Konfrontation zwischen den revolutionären Massen und der Provisorischen Regierung und den Exponenten der „alten“ Sowjets unübersehbar. Es ist einfach unsinnig zu sage, die Bolschewiki hätten am 7. November 1917 „die Macht an sich gerissen“ (so jüngst in der Ankündigung der Deutschen Welle) - sie fiel ihnen zu, nachdem sich alle anderen politischen Kräfte als unfähig oder unwillig erwiesen, sie im Sinne der Revolutionäre zu gebrauchen. So diskutierte das ZK der Sozialisten-Revolutionäre nach dem Kornilow-Putsch über das zukünftige Verhalten gegenüber den Kadetten. Dabei standen sich zwei Positionen gegenüber. Tschernow, selbst in die Regierungsgeschäfte verstrickt, schreibt:
„Eine Gruppe im ZK mit dem Autor dieser Zeilen an der Spitze behauptete vor allem, dass die Kadettenpartei als Ganzes unzweifelhaft während des Aufstandes auf der Seite Kornilows gestanden habe und dass man sie sich daher unmöglich in einer Regierung vorstellen könne, die die demokratische Revolution verteidigen wolle.“ (Tschernow, W.M. 1964, 274)
Allerdings spricht das ZK mehrheitlich für die zweite Position, die Fortsetzung der Koalition mit den „Vertretern der Großindustrie“ aus. Angesichts dieser Konstellation ist verständlich, warum die linken Sozialisten-Revolutionäre trotz ihrer Differenzen mit den Bolschewiki diese in den folgenden Monaten unterstützen werden. Eine führende linke Sozialistin-Revolutionärin, Maria Spiridonowa, schreibt in Kritik der Menschewiki und der rechten Sozialisten-Revolutionäre im August 1917:
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Theorie und in der Praxis zu behaupten, dass unsere Revolution eine bürgerliche ist, sich auf die berüchtigten „lebendigen Kräfte des Landes“ zu stützen, mit der Bourgeoisie auf ökonomischem und politischem Gebiet zusammenzuarbeiten, das bedeutet, die zerrüttete bürgerliche Ordnung zu festigen, das bedeutet, ihr zu helfen, sich weitere Jahre und Jahrzehnte auf den gebeugten Schultern der werktätigen Klasse zu halten … Die PSR [Partei der Sozialisten-Revolutionäre] schreitet an der Spitz der sozialen Revolution, ihr Programm bedeutet die Sprengung einer der stabilsten Säulen der modernen Ordnung (Grundbesitz), sie verstößt gegen eins der heiligen Prinzipien der bürgerlichen Ordnung – das Privateigentum -, sie ist ein erklärter und gefährlicher Feind der bürgerlichen Klassen, und das nicht erst in der Zukunft, sondern in der Gegenwart.“ (Spiridonowa, Maria Alexandrowna 2017, 228f.)
Eine ganz andere Sache ist, was die Bolschewiki dann mit der ihnen zufallenden Macht tun. An dieser Stelle wird dann auch die Kritik Rosa Luxemburgs ansetzen.
Bis in den Oktober hinein arbeiten die Provisorische Regierung und die bürgerlich-monarchistische Opposition von unterschiedlichen Seiten an einer „Lösung von oben“ doch eine Staatsstreich, der sich auf die revolutionären Massen stützen würde (und nur das machte ihn im Februar/März zu einer Revolution) ist, anders als im März 1917, nicht mehr möglich.
Quellen und zum Weiterlesen
Brie, Michael (2017). Lenin neu entdecken: das hellblaue Bändchen zur Dialektik der Revolution & Metaphysik der Herrschaft, Hamburg: VSA: Verlag, abrufbar unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VS...
Hedeler, Wladislaw/Schützler, Horst/Striegnitz, Sonja (Hrsg.) (1998a). Aufruf General L.G. Kornilows an die Bevölkerung Rußlands. 27. August [9. September] 1917, in: Die Russische Revolution 1917 - Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 339–340
Hedeler, Wladislaw/Schützler, Horst/Striegnitz, Sonja (Hrsg.) (1998b). Aus dem Protokoll einer Sitzung des Zentralkomitees der Kadettenpartei über die politische Lage im Lande im Zusammenhang mit der Staatsberatung in Moskau. 20. August [2. September] 1917, in: Die Russische Revolution 1917 - Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 329–335
Hedeler, Wladislaw/Schützler, Horst/Striegnitz, Sonja (Hrsg.) (1998c). Aus der Rede von N.S. Tschcheidse auf der Staatsberatung in Moskau am 14. [27.] August 1917, in: Die Russische Revolution 1917 - Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 320–324
Kudelli, P.F. (Hrsg.) (1927). Pervyj legal’nyj Peterburgskij komizez bol’shevikov v 1917g.; sbornik materialov i protokolov zasedanij Peterburgskogo komiteta RSDRP(b) i ego Ispolnitel’noj komissii za 1917g., Moskva/Leningrad: Gos. Izd., abrufbar unter: http://elib.shpl.ru/ru/nodes/25525-pervyy-legalnyy-peterburgskiy-komitet...
Lenin, W.I. (1974). Zu den Losungen, in: W.I. Lenin Werke Bd. 25, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 181–189
Rajewski, Maxim [d.i. Jossifowitsch Fischeljow] (2017). Die neue Losung der Bolschewiki, in: Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Die russische Linke zwischen März und November 1917, Berlin: Karl Dietz Verlag, 239–242
Spiridonowa, Maria Alexandrowna (2017). Über die Aufgaben der Revolution, in: Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Die russische Linke zwischen März und November 1917, Berlin: Karl Dietz Verlag, 226–233
Suchanow, N.N. (1967). 1917: Tagebuch der russischen Revolution, R. Piper&Co. Verlag, abrufbar unter: https://books.google.de/books?id=FLbNAAAAMAAJ
Trotzki, L. (2010). Geschichte der Russischen Revolution: Oktoberrevolution. Bd. 2, Mehring-Verlag, abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/index.htm
Tschernow, W.M. (1964). Die Kornilowaffäre und die Sozialrevolutionäre, in: Hellmann, Manfred (Hrsg.): Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki, dtv dokumente. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 274–275