Kapitalismus as a service. Das Kapital wird digital

Warum die Digitalisierung nicht das Verschwinden des Kapitalismus bedeutet

Foto: Illustration von Susann Massute ©

Timo Daum

is a university professor and focusses on the internet, media and the digital economy. His most recent book "Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie" (in German) has been published by Edition Nautilus.

LIFE AFTER CAPITALISM?

Paul Mason kommt in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch „Post-Kapitalismus“ zu dem Schluss: „Dieser Kapitalismus funktioniert nicht.“ Er konstatiert mit Blick auf die Finanzkrise:  „spätestens seit 2008 stottert der Motor.“ Und er fragt, ob „wir eine der üblichen Krisen oder den Anbruch einer postkapitalistischen Ordnung“ erleben. Der Autor entscheidet sich für Letzteres: Durch die Digitalisierung gerate der Kapitalismus an seine Grenzen. Mason zufolge stellt sich heraus, dass die Informationstechnologien nicht zu einem „neuartigen, stabilen Kapitalismus“ taugen, im Gegenteil, das digitale Zeitalter führe zur Zersetzung von Marktmechanismen, Aushöhlung  von Eigentumsrechten und zerstöre die Beziehung zwischen Einkommen, Arbeit und Profit.

Paul Mason steht nicht allein mit seiner Diagnose. Auch Jeremy Rifkin sieht ein Ende des Kapitalismus nahen: Das Internet der Dinge, die Shareconomy und die allgemeine Verfügbarkeit digitaler Güter führen Rifkin zufolge dazu, dass der Kapitalismus quasi automatisch übergeht in etwas Neues, das dieser wiederum „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ nennt. Und Nick Srnicek und Alex Williams schreiben in ihrem furiosen Manifest Inventing the Future über „life after Capitalism“, nachdem sie konstatiert haben: “Neoliberalism isn’t working”.

SOZIALES WISSEN

In einer der Fußnoten im Kapital, die seinem Zeitgenossen, dem Erfinder und Unternehmer Charles Babbage gewidmet ist, schreibt Marx – ohne den Begriff zu verwenden – über Innovation: »Allgemeine Arbeit ist alle wissenschaftliche Arbeit, alle Entdeckung, alle Erfindung. Sie ist bedingt teils durch Kooperation mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten Früherer.«

Die Konkurrenz zwingt das Kapital dazu, immer innovativ zu sein, zu rationalisieren, lebendige Arbeit durch Maschinen, Automaten und Algorithmen zu ersetzen. Der zunehmende Einsatz von Technologie für den Verwertungsprozess führe zu einer stetig wachsenden Bedeutung eines »gemeinschaftlichen kooperativen Prozesses«. Die Früchte dieses kollektiven Prozesses würden allerdings privat angeeignet: »Es ist daher meist die wertloseste und miserabelste Sorte von Geldkapitalisten, die aus allen neuen Entwicklungen der allgemeinen Arbeit des menschlichen Geistes und ihrer gesellschaftlichen Anwendung durch kombinierte Arbeit den größten Profit zieht.«

GENERAL INTELLECT

Diese beiden Prozesse – der stetig steigende Anteil kollektiven sozialen Wissens in der kapitalistischen Produktion einerseits und das ständige Bestreben des Kapitals, die Endprodukte dieses Prozesses zu privatisieren, andererseits –  ziehen sich durch die gesamte Geschichte des Kapitalismus. Kapitalistische Warenproduktion bedient sich der Erkenntnisse der Wissenschaft, operiert auf dem Stand der Technik, benutzt „allgemeines Wissen“. Marx erfand den Begriff des General Intellect (engl. für „allgemeinen Verstand“) für Knowledge, das in seiner gesellschaftlichen Funktion als unmittelbare Produktivkraft wirkt. Was passiert nun, wenn durch die Anwendung von Wissenschaft und Technik auf die kapitalistische Produktion in letzter Konsequenz die unmittelbare Arbeit aus dieser verschwindet, gegen Null geht, vernachlässigbar wird? Um dieses Szenario oder Extrapolation dreht sich das berühmte Maschinenfragment in den Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie.

DIE INNERE SCHRANKE

Wenn die Produktivität des Kapitals immer weiter steigt, sich seine organische Zusammensetzung (das Verhältnis von konstantem Kapital  zu variablem Kapital) immer mehr zugunsten des Capital Fixe verschiebt, wird irgendwann gar keine lebendige Arbeit mehr benötigt, kein Arbeiter wird mehr ausgebeutet, kein Mehrwert wird mehr produziert, das Kapital kann keinen Profit mehr abwerfen. Das Kapital schaut in die Röhre: es kann seinen Lebenssinn nicht mehr verwirklichen. Und muss daran zu Grunde gehen.

Es sieht so aus, als dürften wir dank des Ausbleibens der Revolution die Realisierung dieses Gedankenexperiments erleben: Wenn z.B. Google eine Milliarde Suchanfragen pro Tag abarbeitet, gibt es keine Arbeiter, die diese Anfrage in einem bestimmten Zeitraum abarbeiten und deren Arbeit dann wertschöpfend in ein Produkt – etwa das Suchergebnis – , einfließt. Einmal geschrieben, wird der Algorithmus milliardenfach prozessiert und liefert automatische Ergebnisse. Ein Programm muss nur einmal geschrieben werden, danach kann es unendlich multipliziert produktiv werden – als prozessierendes allgemeines Wissen. Nicht nur Google, auch Soziale Medien, Vermittlungsplattformen, Mobilitäts-Services, Routenplaner etc. funktionieren nach diesem Prinzip: Wir haben es mit digitalen Plattformen zu tun, die im Wesentlichen aus einem automatischen informationsverarbeitenden Aggregat bestehen, das Daten und Algorithmen beherbergt, ständig gefüttert durch die User selbst.

Christian Fuchs schreibt hierzu: »Google benutzt die Arbeitsergebnisse aller Nutzer, die WWW-Inhalte erstellt haben. Indem diese dann Google-Dienste verwenden, führen sie wiederum unbezahlte, produktive Mehrwert generierende Arbeit aus.« Die gesamte Web-Community schafft allgemeines Wissen, veröffentlicht dieses in der public domain, nur um sich postwendend in der Abhängigkeit von privaten Unternehmen wiederzufinden, die den Zugang zu eben diesem Wissen sowie die Formen der Kommunikation darüber diktieren. Google akkumuliert Kapital, indem es seine Nutzer auf zweierlei Arten für sich arbeiten lässt: Zunächst erstellen ja die Nutzer überhaupt sämtliche Inhalte des WWW, ohne die Google keine Suche anbieten könnte. Und zweitens speichert Google die Aktivitäten der Nutzer, die wiederum ihre Services nutzen.

Auf allgemeinem Wissen beruhende Technologie wird zum entscheidenden Produktionsfaktor, das Hinzutreten lebendiger Arbeit ist marginal. Die Summe menschlicher Geistesanstrengungen wird so zum unmittelbaren Motor der Geschichte in Echtzeit. »Als hätte Karl Marx unsere heutige Informationsökonomie in einem Science-Fiction-Roman beschrieben«, lobte Nick Dyer-Whiteford die prognostische Qualität des techno-futuristischen Maschinenfragments.

KAPITALISMUS AS A SERVICE

Werden Software und IT-Infrastrukturen von Unternehmen und Organisationen ausgelagert und von externen Dienstleistern betrieben, spricht man von Software as a service oder Infrastructure as a service. Der Verkauf von knappen Waren an zukünftige Besitzer wird zunehmend abgelöst durch gebührenpflichtigen oder durch User-Daten querfinanzierten Zugang zu einem Service. Immer mehr Lebensaspekte werden als Service, on demand, organisiert: Information und Kultur, Transport, Wohnen.

Haben wir es immer noch mit Kapitalismus zu tun? Definiert man Kapitalismus als „Kapitalisten beuten Arbeiter aus, die in der Fabrik Waren herstellen, die auf dem Markt verkauft werden, dabei durch ihre Arbeit den Tauschwert der Waren erhöhen durch die in ihnen vergegenständlichte Arbeitsquanta etc.“ – dann vielleicht nicht. Mit anderen Worten: machen wird den industriellen Kapitalismus mit seiner tayloristischen Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, zum Kriterium, dann vielleicht nicht mehr.

Masons Versuch ist nur der jüngste in einer langen Reihe Versuche, das Ende des Kapitalismus auszumachen, dem technologische Veränderungen den Garaus machen. Dabei kommen die einflussreichsten Interpretationen von dem, was Post-Kapitalismus genau ist, von Neo-Konservativen, die eine utopische Informationsgesellschaft entwerfen, die quasi natürlich durch den vernünftigen Umgang mit Informationstechnologien eine ökologischere, gerechtere Lösung für die Widersprüche des industriellen Kapitalismus bereithält.

Das globale Dorf Marshal McLuhans, das Universum der Technischen Bilder Vilém Flussers, die post-kapitalistische „creative society“ Richard Floridas ebenso wie die Informations- und Wissensgesellschaft Daniel Bells – verschiedene Namen für ein- und dasselbe: Soziale Antagonismen lösen sich auf, werden obsolet und abgelöst durch eine demokratischere, egalitärere Gesellschaft. Frei flottierende Information und geteiltes Wissen bilden die Basis nachhaltigen Wachstums und allgemeinen Wohlstands.

Was wir tatsächlich beobachten, ist ein Kapitalismus der digitalen Plattformen, der mit allgemeinem Wissen Millionen macht. Mächtige Internetkonzerne, die sich anschicken, der Welt eine neue Ordnung aufzuzwingen, mit eigenen Regeln, Gesetzen und einer schier unerschöpflichen Kapitaldecke. Der „herrschenden Klasse der digitalen Welt“ wie Nenad Romic die digitale Oligarchie aus dem Silicon Valley vor einigen Jahren genannt hat, gelingt es anscheinend, einen neuen digitalen Kapitalismus aus der Taufe zu heben.

Die in den Grundrissen formulierte kommunistische Utopie, der globale Siegeszug des General Intellect, ist tatsächlich dabei, realisiert zu werden – allerdings unter kapitalistischen Vorzeichen. Der Kapitalismus verschwindet nicht etwa, er intensiviert sich eher, wie Jason Williamson von den Sleaford Mods treffend bemerkt hat.

WEITERLESEN

  • Nick Dyer-Witheford, Cyber-Marxism. Cycles and Circuits of Struggle in High-Technology Capitalism. UI Press, Chicago 1999.
  • Christian Fuchs, Social Media. A Critical Introduction. Sage, London 2014.
  • Nick Srnicek, Alex Williams, Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work. Verso, London 2015.
  • Understanding Digital Capitalism – Reihe von Timo Daum

Vorabdruck aus dem Buch: Vollbeschäftigung für Roboter
Veranstaltungshinweis: Buchvorstellung mit dem Autor
Moderation: Sebastian Carlens (junge Welt)
26. September 2017, jW-Ladengalerie, Torstraße 6, 10119 Berlin

Autorenfoto: Benedikt Bentler