Leerstelle bei Marx oder Ignoranz der Leser?
Der Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft in der auf dem Wert beruhenden Produktionsweise
Marx und noch mehr seinem Freund und Ko-Autor Friedrich Engels sind in der 150jährigen Geschichte, seitdem „das Kapital“ erschienen ist, so viele Vorwürfe gemacht worden, dass man sie gar nicht alle auflisten kann. Er habe anders als die politischen Ökonomen vor ihm nicht die Bildung der Preise erklären können, die vorausgesagte Verelendung der Arbeiterklasse habe es nicht gegeben, und der Kapitalismus ist nicht zusammen gebrochen sondern feiert seinen Sieg im Systemwettbewerb. Marx und Engels hätten mit ihren theoretischen und politischen Schriften die Stalin’schen Untaten vorbereitet, seien sozusagen geistige Rädelsführer der Verbrechen im „Zeitalter der Extreme“.
Das ist harter Tobak, der auch heute aus den journalistischen Pfeifen qualmt. Dabei gähnen einen die Leerstellen, die von Marx zweifelsfrei hinterlassen wurden, eher als Vorurteil an: Marx und noch mehr Engels haben auf die ökologische Frage, die uns alle heute so umtreibt, keine Antwort. Sie hätten übersehen, dass Werte nicht nur durch Arbeit erzeugt, sondern dass auch die Natur Wertbildnerin sei, dass der Natur im theoretischen Gebäude zu wenig Platz im Vergleich zur Gesellschaft eingeräumt werde, dass die monotheistische Auffassung von der Herrschaft des Menschen über die Natur nicht kritisch hinterfragt werde. Doch zeigt eine Inspektion der Blauen Bände der Marx-Engels-Werke, des ersten Bandes des „Kapital“ in MEW 23 zumal, dass die Leserinnen und Leser Fettflecken, Fingerabdrücke, also Spuren ihres ökologischen Daseins hinterlassen haben. Marx-Lektüre ohne Ökologie geht gar nicht. Man liest ja Marx mit Kopf und Verstand, aber auch mit den Fingern, haptisch blätternd.
Ein Autor ohne blinde Flecken in seinen Schriften ist wie ein Ritter ohne Fehl und Tadel, ein Heiliger wie er im Buche steht und ein Langweiler vor dem Herrn. Natürlich sind Leserinnen und Leser eineinhalb Jahrhunderte, nachdem der Autor ins Gras gebissen hat, erstens klüger als dieser, oder sie sollten es zumindest sein, auch wenn der Autor Karl Marx heißt. Die Leserklugkeit aber reicht oftmals nur, um beim Autor Prognosen, die sich nicht bewahrheitet haben, und die eine oder andere Leerstelle der Argumentation zu entdecken und diese Entdeckung der Welt kundzutun. Manche Leser können nur mit ollen Kamellen in den Kampf gegen die Marx’sche Theorie ziehen.
Über Leerstellen muss man sich nicht aufregen
Keine Frage, dass Marx wie andere Autorinnen und Autoren offene Flanken hinterlassen hat. Diese sollten als Herausforderungen angenommen werden, sie mit eigenen Gedanken und daraus gewonnenen Argumenten zu füllen. Das erfordert eine gewisse Anstrengung, auch wenn die von Marx gelassenen Leerstellen so gut gedüngt sind, dass darauf mindestens 1000 Gedankenblumen blühen könnten. Doch diese Kreationen hegt und pflegt niemand in Zeiten, in denen vom Präsidenten eines Fakelands sehr reale tödliche airstrikes per Kurznachrichten-Twitter unterhalb der Schwelle, wo das Nachdenken beginnt, angeordnet werden, und wenn – weniger empörend – die Kritik der Ideen einschließlich der ausgearbeiteten Theorien, für die Marx die wissenschaftliche Begründung gab und zugleich Beispiele lieferte, einem affirmativ angepassten Karriereopportunismus eingegliedert werden oder wenn sich ein journalistischer Dummdäubel von einem Qualitätsblatt hoffnungslos abmüht, Fehler zu entdecken. Über Leerstellen muss man sich nicht aufregen. Wir beziehen uns auf Marx wie auf andere große Geister, die auf unsere offenen Fragen n der heutigen Arbeit unverzichtbare Antworten vermittelt haben. Wir können sie gar nicht alle benennen, weil manche so in Fleisch und Blut und die Alltagsdiskurse übergangen sind, dass wir überrascht sind, wenn uns jemand auf die Urheberschaft so mancher „geflügelter“ Gedanken aufmerksam macht, z. B. darauf, dass Ökonomen Leute sind, die den Preis von allem kennen, aber den Wert von nichts. Das sagte Oscar Wilde, der es als Poet offenbar besser wusste als die Riege der Ökonomie-Nobelpreisträger, die sich regelmäßig in Lindau zur Selbstbespiegelung einfindet. Das Münz- und Bargeld des „Monetarsystems“ sei „wesentlich katholisch“, das „Kreditsystem wesentlich protestantisch“, sagt Marx. Er fügte als Beleg hinzu, dass man das schon daran erkennen könne, dass „the scottish hate gold“ (Marx, MEW 25: 606). Heute erfahren wir, dass es vor allem Protestanten waren, die das Euro-System aus der Taufe gehoben haben, und Protestanten dabei sind, das Bargeld in Europa gänzlich abzuschaffen. Ein Kirchenkampf mit monetaristischen Mitteln. Und Marx hat ihn geahnt, da er von dem unauflöslichen Gesamtzusammenhang der auf dem Wert beruhenden Produktionsweise mit ihren kulturellen und ideologischen Konstruktionen wusste.
Nach jeder erneuten Lektüre des „Kapital“ entdeckt man Neues. Dies aber auch nur, wenn man neugierig und mit aktueller Perspektive an den Text herangeht und ihn nicht wie eine in Stein gehauene Gesetzestafel liest. Auch 200 Jahre, nachdem Marx das Licht der Welt erblickte, gibt es das kreuzdumme Bestreben, die Welt nicht in diesem Licht zu sehen, sondern lieber ins Dämmer der eigenen Funzeln zu tauchen. Es gibt wahabitische Marxisten, die eine (wie z. B. die von Mathias Greffrath 2017 herausgegebene) kritische „re-lecture“ des Kapital verteufeln. Aber es sind weniger geworden.
Dabei ist es eine intellektuelle Kernaufgabe der Aufklärung, man könnte emphatisch hinzufügen: zum Besseren der Menschheit, das gesamte Gelände des Klassenkampfs, der Vielfalt von sozialen Konflikten und der Akteure, ihres Ursprungs, ihrer Dynamik und Verlaufsformen und ihrer beabsichtigten Folgen und nicht beabsichtigten Nebenwirkungen auszuleuchten. Diese Vielfalt ist im Jahr 2017 eine andere als zur Zeit der russischen Revolution 1917, oder einhundert Jahre früher als 1818 Marx in Trier geboren wurde, oder 1867, als Marx vor 150 Jahren das Manuskript des „Kapital“ bei seinem Hamburger Verleger Otto Meissner persönlich ablieferte.
Eine theoretische, sehr komplexe und nicht jeder und jedem leicht zugängliche Schrift wird zu einem Wurfgeschoss im Klassenkampf
Das sollte nicht nur Buchmanuskript, sondern das „dem Bürger an den Kopf (geworfene) furchtbarste missile“ sein, wie Marx in einem Brief an Johann Philipp Becker vom 17. April 1867 kurz nach der Hamburg-Reise schrieb (MEW 31: 541). Eine theoretische, sehr komplexe und nicht jeder und jedem leicht zugängliche Schrift wird zu einem Wurfgeschoss im Klassenkampf. Der Praxistest fragt nach ihrer Qualität für die theoretische Arbeit, für die Strategiebildung und auch für die Taktik in der politischen Praxis der sozialen und politischen Bewegung(en). Der Gesamtkomplex der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Ökonomie und Ökologie, gerät ins Visier. Marx ist der einzige unter den Ökonomen, der in seinen Kategorien den „dialektischen Gesamtzusammenhang“ von Stoff und Wert, Material und Form, Gebrauchswert und Tauschwert, konkreter und abstrakter Arbeit, von Natur und Gesellschaft, von gesellschaftlicher Struktur und individueller wie kollektiver Aktion, von Theorie und Praxis also, beachtet und analytisch entschlüsselt hat.
Der Gesamtzusammenhang der „auf dem Wert beruhenden Produktionsweise“ bestimmt den analytischen Zugang, die Form und Reichweite der Kritik. Sie ist holistisch, umfassender als analytische Ansätze aus anderen sozialwissenschaftlichen und ökonomietheoretischen „Schulen“, die daher eher Leerstellen aufweisen als die an Marx und Engels orientierten Theorieansätze. Daher ist er auch der einzige Ökonom (jawohl, der einzige!), in dessen Kategoriensystem die ökologischen Probleme der kapitalistischen Gesellschaft angemessen analysiert und debattiert werden können. Ist das eine arrogante und daher dreiste und zugleich dumme Anmaßung? Es könnte so sein. Doch gibt es gute Argumente, die für die Berechtigung des Arguments sprechen. Vor Beginn des fossil-industriellen Zeitalters gab es auch ökonomische Theorien, und daher wird die Dogmengeschichte bis in biblische Zeiten zurückgeblendet. Doch erst seit der systematischen Nutzung der fossilen Energieträger können sich arbeitende Menschen der Instrumente der Naturveränderung bedienen, mit denen zum einen die Produktivität der Arbeit und der „wealth of nations“ in bis dahin unerreichbare Höhe gesteigert werden kann, zum anderen aber auch die Naturzerstörung. Denn der Metabolismus der kapitalistischen Reproduktion ist gleicherweise Konsumtion und Ausscheiden, also Erzeugung von Naturstoffen. Allerdings ist deren Mischung nicht immer natur-und menschenverträglich. Die Umweltkrise beginnt, deren Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse Friedrich Engels 1844 in seiner „Lage der arbeitenden Klasse in England“ (MEW, Bd. 2: 225-506) beschrieben hat.
Die Möglichkeit der Steigerung gibt den Impuls für wissenschaftliche – theoretische wie empirische - Anstrengungen zur systematischen Erforschung der Herkunft des neuen Reichtums – aus dem Austausch auf dem Markt, aus der Arbeit im Produktionsprozess? Das sind Fragen, die eine gute Fee aufwirft, aber keine zufrieden stellenden Antworten hat. Wo die Fee nicht hilft, muss die Wissenschaft einspringen. Eine neue Disziplin entsteht, zunächst natürlich innerhalb des tradierten Kanons der Wissenschaften. Kein Wunder daher, dass die vorrevolutionären Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts in Frankreich ökonomische Fragen der Morallehre zuordneten. Moderne Neoliberale können sich da nur schütteln. Jedenfalls kommt die politische Ökonomie auf. Beginnen wir also mit einem äußerst knappen Überblick über die großen Schulen der Ökonomie seit dem 18. Jahrhundert.
Erstens. Die klassischen Ökonomen haben verstanden, dass ökonomische Werte durch Arbeit erzeugt werden und dass es dabei auf den Überschuss, den Mehrwert ankommt. Sie haben auch den Unterschied von Stoff und Wert identifiziert, dabei aber deren spezifisch gesellschaftliche Form verkannt. Für sie waren Kapitalismus und Marktwirtschaft sowieso die ultima ratio der ökonomischen wie natürlichen Ordnung. Ein Unterschied zwischen dem Surplus in vorkapitalistischen und dem Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft war ebenso wenig ein Thema wie eine mögliche nach-kapitalistische Gesellschaft oder die heute auf den Nägeln brennenden Umweltfragen. Aber „die Klassiker“ hatten eine Ahnung davon, dass Ökonomie politisch ist, auch etwas mit „moral sentiments“ und Ethik zu tun hat, analytisch hart zupackend und zugleich normativ auf die Ordnung des Gemeinwesens bezogen sein muss. Politische Ökonomie war also ein – jedenfalls zu Beginn des Bürgertums – selbstbewusstes Programm der Gestaltung der im Leibniz’schen Sinne besten aller möglichen Welten. Im Interesse des Bürgertums, der aufstrebenden Kapitalistenklasse war die klassische politische Ökonomie parteiische Wissenschaft. Vom Streit um Werturteile, der im 20. Jahrhundert losgetreten wurde, war sie noch unberührt.
Zweitens. Über die anmaßende und eigentlich verrückte Idee einer bestmöglichen Gesellschaft haben schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts Bernard de Mandeville (1703) in dem Spottgedicht von der „Bienenfabel“ oder Voltaire (1759) in seinem Leibniz aufs Korn nehmenden Roman „Candide oder der Optimismus“ gelästert. Hohn und Spott freilich waren keine „Kritik der politischen Ökonomie“, an der Marx seit den 1840er Jahren arbeitete. Die gerade erst mit dem Bürgertum aufkommende politische Ökonomie als Wissenschaft arbeitet sich nicht zur Kritik der politischen Ökonomie empor, sondern folgt dem leichteren Prinzip der Entbettung alles Ökonomischen aus gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen, aus den Konflikten, Legitimationszwängen, Traditionen und Bräuchen. Es passt in die Landschaft der inzwischen vorherrschenden kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Ökonomie mutierte zur Wissenschaft von der entbetteten Marktökonomie, die Karl Polanyi (1978) zu seinem Thema machte. Sie verstand sich nun nicht mehr als politische Ökonomie wie sie die Klassiker entwickelt hatten, moralisch begründeten Normen standen sie abwehrend und skeptisch gegenüber und eine materialistisch-dialektische Kritik an der politischen Ökonomie lag ihr fern. Das an materialistische, und daher auch gesellschaftliche und natürliche Substanz erinnernde Wort Ökonomie wurde nun auch gestrichen und durch „economics“, im Deutschen am ehesten durch „Ökonomik“ (immer noch besser als „Volkswirtschaftslehre“ oder „Nationalökonomie“), ersetzt. Mit dieser Entbettungsgeschichte, in deren Verlauf mit den Jahren jede Ahnung von Gesellschaft, Politik, Kultur und Natur in den Wirtschaftswissenschaften verblasste, verschwand die Kritik aus den ökonomischen Diskursen und wurde mithin auch aus den universitären Curricula der „economics“ genannten, aus dem sozialen Kontext entbetteten Wissenschaft gestrichen. Der trostlose Zustand der heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten hat also eine ebenso triste Geschichte.
Die neoklassischen Ökonomen des 19. und erst recht die neoliberalen followers des 20. Jahrhunderts interessieren sich daher nur noch für die monetäre Seite ökonomischer Prozesse und dabei noch nicht einmal für Ursprung, Form und Inhalt des Geldes, mit dem allein sie zur Kommunikation über ökonomische Probleme in der Lage sind. Daher können sie, auch wenn sie von Naturkapital schwadronieren, ökologische Problemlagen nicht erkennen und darüber verständig reden. Es reicht ihnen die Mitteilung der von ihnen eingerichteten Zentralbank über die Quantität des Geldes (das ja nach einem viel zitierten Bonmot des neoliberalen Oberpriesters Milton Friedman aus einem Hubschrauber abgeworfen wurde und daher Helikoptergeld M1, M2, M3 etc. genannt wird). Durch Arbeit erzeugte Werte ebenso wie die materielle Ökonomie von Stoff und Energie sind ihnen egal. Auch der Produktionsprozess vor dem Funktionieren des Marktes und der Prozess der Entsorgung von Abfall, Abwasser, Abluft in die Natursphären des Planeten Erde nach Produktion und Konsumtion der Produkte interessiert sie nicht.
Die Natur ist nur interessant als Naturkapital, der Mensch nur als Humankapital
Hauptsache ist, dass alles ordentlich einen Preis hat, mit dem Ökonomen rechnen können. Die Natur ist nur interessant als Naturkapital, der Mensch nur als Humankapital. Das ist der mit vielen Nobelpreisen befeierte Tiefpunkt ökonomischer Intelligenz. Dass diese nicht menschlich ist, sagt der Ökonom selbst, zumeist ohne zu begreifen, was er da sagt: wenn er (nur in wenigen Fällen müsste hier „sie“ stehen) mathematische Strukturmodelle mit sehr artifiziellen Annahmen bastelt oder die Rationalität des homo oeconomicus unterstellt. Diese ist immer instrumentell und muss daher alles aus dem Kalkül ausklammern, das sich nicht auf dem Radar des „economic man“, des „Investors“ befindet. So wird er von jeder Verantwortung für Umweltschäden als Folge von Profitstreben bei Investitionsentscheidungen entbunden. „Social costs and environmental disruption… may be considered the principal contradicton within the system of business enterprise“, schreibt K. William Kapp (1971: XIV), einer der wenigen Ökonomen, die sich mit den Umweltfolgen der privaten Kapitalakkumulation auseinandergesetzt haben.
Externalisierung ist in der neoklassisch geprägten Ökonomie mit frei gesetztem Privatkapital, Akkumulationszwang und Zurückdrängung von commons und staatlicher Regulation ein Strukturprinzip, es ist in der kapitalistischen Moderne unvermeidbar. Bemühungen der Internalisierung der „social costs“ könnten daher nur dann Erfolg versprechen, wenn die Rationalität der kapitalistischen Gesellschaft in Frage gestellt, wenn also diese Gesellschaft verändert wird. Externalisierung ist daher der von den Ökonomen nicht begriffene Ausdruck der Entbettung der Marktwirtschaft aus Gesellschaft und Natur, des von Marx kritisierten Fetischismus. Dieser verhindert die Erkenntnis, dass die Externalisierung genannte Inbesitznahme des Planeten zum Zwecke der kapitalistischen (zumeist privatwirtschaftlichen) Verwertung nichts anderes ist als die Verdauung der Natur im unersättlichen, gierigen metabolischen Trakt von Wirtschaft und Gesellschaft.
Drittens. In der keynesianischen Ökonomie nach der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre wurden Raum und Zeit und daher Kategorien der Natur in ihrer Bedeutung für die Ökonomie wiederentdeckt. Aber das Verständnis war äußerst begrenzt, ging es doch im Wesentlichen darum, ökonomische Instabilitäten als Folge der Unsicherheit bei in der Zukunft wirksamen Investitionsentscheidungen zu erkennen. Die Entscheidung wird ja in der Gegenwart getroffen, auf der Basis von Sicherheiten, die aus vergangenen Perioden stammen. Die Erwartungen sind aber auf zukünftige Erträge gerichtet. Investitionen sind also immer und notgedrungen risikobehaftet und können scheitern, weil die Zukunft unbekannt ist und alles ganz anders kommt als ein entscheidendes Wirtschaftssubjekt denkt. Dieses vergleicht externen und internen Zinssatz, den Marktzins wie er von der Zentralbank in Grenzen reguliert werden kann, und Profitrate, die von Produktivität und Arbeitskosten abhängig ist. Entscheidungen darüber sind von privatem, profitorientiertem Kalkül abhängig.
Viertens. Anders als in der Klassik, der Neoklassik oder dem Keynesianismus und seinen Spielarten sind in der thermodynamischen Ökonomie Stoff und Energie und deren Transformationen, also ökologische Bedingtheiten von Produktion, Konsumtion und Zirkulation zentrale Kategorien. Sie ist eine Antwort der mit dem neoliberalen und neoklassischen naturvergessenen Denken unzufriedenen Ökonomen. Sie war auch gegen die Marx’sche Theorie gerichtet, allerdings auf der Basis einer arg verkürzten Interpretation der Marx’schen Analyse der auf dem Wert (und eben nicht auf dem Stoff!) beruhenden Produktionsweise.
Die thermodynamische oder Bio-Ökonomie wird heute zumeist mit dem Namen des rumänischen Mathematikers und Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen und seinem Hauptwerk aus dem Jahre 1971 in Verbindung gebracht. Stoffliche und energetische Transformationen sind von zentraler Bedeutung für die ökonomische Analyse und dürfen aus dieser nicht ausgeklammert werden. Denn alle ökonomischen Transaktionen finden in Raum und Zeit statt und daher ist eine ökonomische Wissenschaft ohne Berücksichtigung der physischen Zeit und des physischen Raums ein Unding. Denn dann ist es ausgeschlossen, den entropischen Charakter aller ökonomischen Stoff- und Energietransformationen zu begreifen. Im Zeitverlauf steigt die Entropie, d. h. einmal genutzte Energie (für Material gilt Ähnliches) ist kein zweites Mal nutzbar. Die Qualität zur Leistung von Arbeit sinkt. Darauf verweist im Gegensatz zur neoklassischen die thermodynamische Ökonomie, in deren Kategoriensystem daher auch die bereits angesprochene Externalisierung privatwirtschaftlich erzeugter sozialer Kosten angemessen diskutiert werden könnte. Dafür aber werden die Analysen der gesellschaftlichen Formen des Wirtschaftens in der thermodynamischen Ökonomie vernachlässigt. Sie geraten nicht ins Blickfeld. Auch die kapitalistischen Treiber der heute ökologisch desaströsen Stoff- und Energietransformationen werden in ihrer ökologischen und umweltpolitischen Bedeutung nicht zureichend erkannt. Einmal mehr zeigt sich die zentrale Rolle der Kategorie des Doppelcharakters der Arbeit und ihres Produkts der Ware als „Springpunkt“ der politischen Ökonomie (dazu ausführlicher Altvater 2017 a und b).
Fünftens. Die politische Ökonomie ist seit ihren Anfängen eine einseitige Wissenschaft. Entweder ist Geld alles oder Stoff und Energie befinden sich im Zentrum der Betrachtung. Die spezifisch gesellschaftliche Form der Nutzung von Stoff und Energie in der kapitalistischen Produktionsweise und warum sich Geld in Kapital verwandelt und dann mit der Produktionsweise alle Lebensweisen umgewälzt werden, geraten weder für die einen noch für die anderen auf den Radarschirm der ökonomischen Theorie. Die Einseitigkeit wird auch nicht aufgehoben, wenn sie in „pluraler Ökonomik“ vervielseitigt wird und dies durch vielseitige Namen unterstrichen wird: Plurale Ökonomik, ökologische, evolutorische Ökonomik, Commons-Ökonomie, Gemeinwesenökonomie, Postwachstumsökonomie etc. (Schneidewind et al 216).
So entsteht nicht die Wissenschaft, die seit Marx als „Kritik der politischen Ökonomie“ und mit Friedrich Engels in einem, wie wir heute sagen würden, holistischen und chaostheoretischen Ansatz als „Wissenschaft vom dialektischen Gesamtzusammenhang“ bezeichnet werden kann. Pluralismus ist gut, aber zu wenig, um die Widersprüche und die Krisen der gesellschaftlichen Dynamik kapitalistischer Ökonomien und des von ihnen regulierten „web of life“ (so Jason Moore 2015) auf dem Planeten Erde begreifen zu können. Dieses Netzwerk des Lebens ist bislang in seiner ganzen Komplexität erstens nicht erfasst, und kann wissenschaftlich möglicherweise gar nicht erfasst werden, und kennt zweitens sehr viele Akteure, die alle eine Rolle in den sozialen Auseinandersetzungen, in den Klassenkämpfen des ökologischen Zeitalters spielen. Wir müssen sie möglichst bald begreifen, um handlungsfähig zu werden oder zu bleiben. Denn der Umweltraum, der uns zur Verfügung steht, ist nicht nur begrenzt, wie seit den 1990er Jahren auch mit den Erkenntnissen der Studien über die Grenzen des Wachstums bekannt ist. Wir nähern uns „auf der begrenzten Kugelfläche des Planeten“ (so Immanuel Kant) den „planetary boundaries“, die eine internationale Gruppe von Naturwissenschaftlern um Johan Rockström 2009 markierte. Einige haben wir bereits überschritten. Wir existieren von der Hand in den Mund. Die Hand hat immer weniger zu bieten, doch der Mund wird trotzdem als großes Maul genutzt, vor allem von den „great Americans“.
„Akkumuliere, akkumuliere! Das ist Moses und die Propheten“, zitiert Marx das Zwangsgesetz des Kapitalismus
Die naturwissenschaftliche Evidenz der Begrenztheit der Ressourcen auf der einen und der Senken, der Abfall- bzw. Schadstoffdeponien des Planeten Erde auf der anderen Seite ist offensichtlich und erschreckend, umso mehr, wenn die von Marx analysierten kapitalistischen und daher für die Gesellschaftsformation spezifischen Treiber mitberücksichtigt werden: Die Wertproduktion, die sich rücksichtslos gegenüber der Arbeit, also den Menschen, und gegenüber der nicht-menschlichen Natur verhält und jedes Mal gegen die kapitalistischen Interessen zum Schutz von Natur und Mensch gezwungen werden muss. „Akkumuliere, akkumuliere! Das ist Moses und die Propheten“, zitiert Marx das Zwangsgesetz des Kapitalismus im „Kapital“ (MEW 23: 621). Selbst die selbstverständlichsten Regeln der Reinlichkeit müssen dem Kapital abgetrotzt werden, wenn dies auch nur ein wenig auf Kosten der Mehrwerterzeugung durch Arbeit geht. Der Gegensatz von Stoff und Wert, von Lohnarbeit und Kapital, von Natur und Gesellschaft, von Akkumulation und Krise muss daher zuerst einmal als ökonomischer Widerspruch und gesellschaftlicher Konflikt in der kapitalistischen Produktionsweise begriffen werden, bevor von Gemeinwohl, Postwachstum etc.-Ökonomie oder pluraler Ökonomik, die von Systemzwängen nichts wissen will, verständig gesprochen werden kann.
In der neoliberalen Mainstream-Ökonomie ist da Hopfen und Malz verloren. Aber auch die plurale Nachhaltigkeitsökonomik glaubt an eine Versöhnung der Kapitalinteressen und der Interessen an Naturerhaltung und der Arbeiterinteressen. Natürlich geht es in den sozialen Auseinandersetzungen nicht immer auf Spitz und Knopf, Verhandlungen finden statt, Kompromisse sind möglich und sie halten eine Zeitlang. Die sustainable development goals (SDG) sind Zeichen der Hoffnung, Signal für den Aufbruch in eine nachhaltige Zukunft des Postwachstums. Das ist wie in den Zeiten des Reformismus, als in der Arbeiterbewegung an eine Versöhnbarkeit der gegensätzlichen Klasseninteressen geglaubt wurde. Auch in den ökologischen Konflikten wird der Teppich ausgerollt, auf dem man Hand in Hand zum Kompromiss schreitet. Doch wie die erstrebte sozialökologische Nachhaltigkeit erreicht werden und wie sie gestaltet sein soll, wenn nicht die Treiber der Akkumulation von Kapital stillgestellt, d.h. wenn nicht Moses und die Propheten entmachtet werden, wird von der pluralen Ökonomik nicht thematisiert.
Es geht nicht anders als eine ökonomisch effiziente, sozial ausgeglichene, demokratisch und ökologisch nachhaltig organisierte Gesellschaft zu errichten
Die bisherige Geschichte war eine Geschichte von Klassenkämpfen, schreiben Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“. Das wird auch in Zukunft so sein. Allerdings wird es in den zukünftigen Kämpfen nicht nur um Lohn, Leistung und Quantität und Qualität der Beschäftigung im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft und bzw. oder um deren Überwindung gehen, sondern um Arbeits- und Lebensbedingungen in einer Gesellschaft an den Grenzen der planetarischen Leistungsfähigkeit. Die Organisation eines Imperialismus der Plünderung, wie sie David Harvey (2005) beschreibt, oder die Externalisierung der Belastungen und Überlastungen der Natur aus dem Rationalkalkül der „Investoren“, wie sie Lessenich (2016) beschreibt, sind hilfloses Flickwerk am eingerissenen Schutzzaun. Es geht nicht anders als eine ökonomisch effiziente, sozial ausgeglichene, demokratisch und ökologisch nachhaltig organisierte Gesellschaft zu errichten. Viele werden diese Botschaft zustimmend zur Kenntnis nehmen. Doch kommt die nicht aus Einsicht in die Vorzüge der Postwachstums-Ökonomie zustande, weil es sie ohne Überwindung des Kapitalismus nicht gibt. Sie ist wie immer in der Geschichte Resultat der Klassenkämpfe für eine lebenswerte Zukunft im 21. Jahrhundert und darüber hinaus, der praktisch-politischen Arbeit an der humanen und ökologischen Gestaltung des dialektischen Gesamtzusammenhangs.
Literatur
Altvater, Elmar (2017a): Kapital und Anthropozän, in: Greffrath, Mathias (2017): 53-72
Altvater, Elmar (2017b): Nach 150 Jahren „Das Kapital“ – Kritik der politischen Ökonomie am Plastikstrand, in: Z – Nr. 111, September 2017
Engels, Friedrich: Dialektik der Natur, in: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962: 305-570.
Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Band 2. Dietz, Berlin 1972: 225–506.
Georgescu-Roegen, N. (1971): The Entropy Law and the Economic Process, Cambridge, Mass. (Harvard University Press)
Greffrath, Mathias, Hrsg. (2017): Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, (Kunstmann) München
Kapp, K. William (1971): The Social Costs of Private Enterprise, New York
Mandeville, Bernard de (1703/1957). Die Bienenfabel, (Akademie-Verlag) Berlin
Marx, Karl (MEW Bd. 23): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin 1970
Moore, Jason (2015): Capitalism in the Web of Life, (Verso) London
Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation (Suhrkamp) Frankfurt am Main
Rockström, Johan et al (2009): Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity, in: Ecology and Society 14 (2) (http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/)
Voltaire (1759/1990). Candide oder der Optimismus, (Büchergilde Gutenberg) Frankfurt am Main/ Wien