Marx’ Theorie und die Philosophie der Praxis

Zwischen Wissenschaft und Weltanschauung

Alex Demirović

hat an verschiedenen Universitäten gelehrt, darunter TU Berlin, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Redakteur der Zeitschrift LuXemburg und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Schwerpunkt seiner Arbeit ist materialistische Gesellschafts- und Staatstheorie.

György Dalos, ungarischer Schriftsteller und Historiker, beschreibt in einem kleinen, nachdenklich-rückblickenden Text sein Verhältnis zu Marx (Neue Zürcher Zeitung, 25.10.2017). Dieser habe an jene ältesten Gedanken der Menschheit angeknüpft, in deren Zentrum eine Gesellschaft in Wohlstand und ohne Unsicherheit, ohne Angst vor Gewalt und Strafe steht. Karl Kautsky habe Marx‘ Lehre zum »Ismus« kanonisiert. Dazu habe der Anspruch gehört, das Naturgesetz der gesellschaftlichen Evolution vom Urkommunismus über den Kapitalismus bis zum Kommunismus zu kennen.

Mit den vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten im Rücken habe die KPdSU den Anspruch erheben können, bis in die 1980er Jahre die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einzuholen, um sie dann zehn Jahre später zu überholen. Mittlerweile, so Dalos, trenne uns ein Menschenalter vom Kollaps der sowjetischen Systeme. Angesichts dieser Erfahrungen sei der »Ismus«, jeder politische »Ismus« für ihn vorbei. Nachdenklich wirft Dalos allerdings die Frage auf, ob denn ohne den Ismus sich die Welt besser, friedlicher, vernünftiger darstelle. Sind wir, so fragt er, ohne eine solche Lehre mit ihren sicheren, in die Zukunft weisenden Gesetzmäßigkeiten lebenslänglich zur Gegenwart verurteilt?

Die Frage muss aber anders gestellt werden, weil es verhängnisvoll wäre, das Versprechen auf eine offene Zukunft wieder an Gesetzmäßigkeiten zu binden. Erhebt nicht gerade Marx für die materialistische Theorie den Anspruch, dass sie Teil jener Bemühungen ist, mit denen Menschen gemeinsam und mit Wissen und Bewusstsein jeweils ihre Verhältnisse frei gestalten und nicht nur Gesetze vollziehen wollen? Trennt nicht, könnte man ergänzend fragen, der Verzicht auf den „Marx-Ismus“ die Linke eben von dieser Geschichte voller Widersprüche, von ihren Erfahrungen, ihren Erkenntnissen und der von den historischen Kämpfen angestoßenen weiteren Ausarbeitung der materialistischen Theorie? Trägt nicht der Verlust des „Marx-Ismus“ dazu bei, dass die Individuen und politischen Gruppen keine Koordinaten mehr haben, um die ständigen Veränderungen und widersprüchlichen Vorgänge zu deuten, keine Begriffe, sich gemeinsam ihre Welt zu erschließen, kein gemeinsames Vokabular, um sich – durchaus konfliktreich – auf gemeinsame Praktiken zu verständigen? Greifen sie deshalb bei vielen Fragen, die sich ihnen im Alltag stellen, eklektisch auf sich wie selbstverständlich anbietende Ideologeme, auf vorherrschende Konzepte, Vorstellungen, Gefühle zurück, die versprechen, Handlungen zu motivieren und Ziele anzudeuten? Es zeichnet sich eine schlechte Alternative ab: Wird die wissenschaftliche Theorie von Marx zur Geschichtsphilosophie und Weltanschauung, zu einem „Ismus“ verallgemeinert, wird sie autoritär; wird darauf verzichtet, leistet die Theorie gerade in der gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzung nicht mehr das, wofür sie einstmals stand, nämlich im Prozess sozialer Auseinandersetzungen diese zu erklären, den Alltagsverstand zu revolutionieren und somit zu umfassender emanzipatorischer Handlungsfähigkeit beizutragen.

Theoretiker der bewussten Praxis zum Umbau der Verhältnisse

Angesichts dieses Dilemmas wäre es denkbar, sich darauf zu beschränken, Marx als einen Wissenschaftler zu betrachten. Eine Kanonisierung und Dogmatisierung seiner Theorie hat er abgelehnt – das widerspräche ja gerade dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Jene vor Augen, die sich auf ihn beriefen, bekundete er, kein Marxist zu sein. Die Vorstellung, dass seine Theorie eine Konstruktion a priori sei und gar einen geschichtsphilosophischen Schlüssel zu jedem Geheimnis und die fertige Antwort auf jede Frage biete („Es ist die Ökonomie, Dummkopf!“), hat er ausdrücklich zurückgewiesen. Forschung und begriffliche Durchdringung des Gegenstands galten ihm als wesentliche Momente der materialistischen Haltung zur Welt, und da die Verhältnisse sich aufgrund der Praktiken der Menschen ändern, nähert sich die materialistische Theorie der Wirklichkeit nicht abschließend, sondern ist mit diesen Praktiken immanent verbunden, verfeinert sie und bleibt deswegen systematisch offen. Marx hat seinem Selbstverständnis nach zu einer wissenschaftlichen Revolution beigetragen. Der Gegenstand seiner Analyse war die kapitalistische Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt. Ihm selbst gelang es nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung lediglich, Teile der „Anatomie“ dieser Produktionsweise darzulegen, nicht jedoch den Gesamtprozess – also des Kapitals und der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Durchschnitt. Seinen Andeutungen nach war das der Anspruch seines Forschungsprogramms. Trotz einer Vielzahl von Analysen konkreter sozialer Kämpfe hat er keine der Kritik der politischen Ökonomie vergleichbare Theorie der Politik, der Philosophie, des Rechts oder der Moral, sondern allenfalls Hinweise hinterlassen. Viele, die sich auf ihn bezogen und das Feld des Marxismus konstituiert haben, haben sich in der Ausarbeitung solcher Bereichsanalysen engagiert und viele weitere Untersuchungsgegenstände hinzugefügt.

Marx selbst nahm in Anspruch, die ökonomischen Verhältnisse naturwissenschaftlich genau zu beobachten. Gleichzeitig jedoch betonte er, dass die Naturgesetze der kapitalistischen Produktionsweise vergänglich seien und aufgrund ihrer eigenen Logik die kapitalistische Reproduktion irgendwann einmal an ihre Grenze gelangen ließen. Bei einer solchen Überlegung handelt es sich nicht um Geschichtsphilosophie, vielmehr ist sie das Ergebnis nüchterner begrifflicher und empirischer Analyse. Marx‘ Theorie zielt darauf, jene innere Dynamik verständlich zu machen, nach der sich die Kämpfe der kapitalistischen Produktionsweise abspielen. Die Probleme, die die kapitalistische Reichtumserzeugung schafft, können von der bürgerlichen Klasse nicht gelöst, sondern nur in die Zukunft aufgeschoben werden. Parteilich gehört es zum Selbstverständnis von Marx, dass das von ihm ausgearbeitete Wissen schon ein Beitrag zur Lösung jener Probleme ist und die Menschheit damit die Mittel hat, aus der Vorgeschichte herauszutreten. Selbstverständlich konnte Marx nicht wissen, welche konkrete Gestalt die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Klassenkämpfen annehmen würden. Aber er konnte die Konsequenzen des bürgerlichen Begriffs von Reichtum und jene widersprüchlichen Bewegungen benennen, durch die hindurch sich seine Erzeugung vollziehen muss: den Zwang zum Wachstum und die Zerstörung von Kapital (also Betrieben, Anlagen, Arbeitsplätzen, menschlichen Fähigkeiten), die stetigen Wechsel von Prosperität und kleinen und großen Krisen, von Marktöffnung und -schließung, von Demokratie und Diktatur, Unruhen und Repression, den Überschuss und den Mangel an Bevölkerung, die Teilhabe der Arbeiter*innen an dem von ihnen erzeugten Wohlstand und ihre erneute Verarmung. Alle diese und weitere Bewegungen zeichneten sich schon zu seinen Lebzeiten ab. Er selbst war ständig bemüht, sein Verständnis des idealen Durchschnitts der kapitalistischen Produktionsweise zu präzisieren: also zu bestimmen, was sie, erstens, notwendigerweise und logisch auszeichnet, was, zweitens, zur historischen Dynamik einer konkreten Gesellschaft gehört und was, drittens, schnell vergehende Tagesereignisse sind. Zu der Art und Weise, wie sich die Logik der Akkumulation, des Weltmarkts, der Klassenverhältnisse oder die Formen des kapitalistischen Staates und der zahlreichen Überbauten modifizierten, konnte Marx angesichts des historischen Stands der kapitalistischen Entwicklung nichts beitragen. Dies erlaubte voreilige Revisionen und Widerlegungen. Wenn in der Ära des fordistischen Wohlfahrtsstaats die Ansicht vertreten wurde, dass die miesen Arbeitsbedingungen, die Arbeitslosigkeit, die Hungerlöhne, die Unsicherheit der Lohnverhältnisse historisch überwunden seien, so war dies nicht nur eine Beschönigung der fortgesetzten Ausbeutungs-, Gewalt- und Disziplinarverhältnisse, sondern auch eine unzulässige Verallgemeinerung. Denn die widersprüchlichen Bewegungen wurden nicht außer Kraft gesetzt, sondern auf höherem und zerstörerischerem Niveau reproduziert (Demokratie, Menschenrechte, Ausweitung des Zugangs zu Bildung und Massenkonsum gingen mit ökologischer Zerstörung, militärischen Konflikten und Völkermord, Autoritarismus und einer globalen ‚Überschussbevölkerung’ einher) und bestimmen heute das Leben der globalen Bevölkerung. Mit den neoliberalen Politiken sind prekäre Lebenslagen auch für viele Lohnabhängige in den entwickelten kapitalistischen Staaten zurückgekehrt: geringe Einkommen, unsichere Lebensplanung, erschöpfende Arbeitsbedingungen, zunehmende Konkurrenz unter den Lohnabhängigen. Marx war weder Evolutionist noch Voluntarist, seine wissenschaftlichen Einsichten und seine politischen Analysen und Aktivitäten wollen zu einer sozialen Organisation beitragen, in der die Menschen frei von aller Herrschaft miteinander leben können.

Wissenschaft oder Weltanschauung?

Die Versuche, im Namen von Marx die gesellschaftliche Entwicklung dogmatisch auf bestimmte Gesetzmäßigkeiten festzulegen und das Handeln autoritär auf ihren Vollzug zu verpflichten, waren ein arger Rückfall in den bürgerlichen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Sie sind in einem solchen Ausmaß gescheitert, dass sich bis heute Parteien, Gewerkschaften oder Bewegungen in ihrer Praxis kaum auf die Traditionslinien jenes anderen Marxismus beziehen, der für radikale Emanzipation und Freiheit einsteht. Die Theorie beschränkt sich auf kritische politische Ökonomie oder die gelegentliche Nutzung der Marx’scher Begriffe für die einzelwissenschaftliche Forschung. Diese entspricht weitgehend dem, was Marx vielleicht als anschauenden Materialismus bezeichnet hätte, der eine Wirklichkeit „da draußen“ als gegeben hinnimmt und dann glaubt, Begriffe verschiedener Theorien, darunter dann auch die Marx’sche, distanziert-vergleichend und frei je nach ihrer vermeintlichen Nützlichkeit auswählen zu können. Der Zusammenhang der Theorien mit den spezifischen gesellschaftlichen Tendenzen und sozialen Praktiken gerät dabei aus dem Blick, die vorherrschenden Problemdefinitionen werden hingenommen. Mit solchen Wissenspraktiken wird indirekt nahegelegt, dass sich unter Bezug auf die Marx’sche ökonomiekritische Theorie zu vielen gesellschaftlichen Prozessen wenig sagen lässt – und auch nichts gesagt werden sollte, weil dies die Begriffe der Theorie unzulässig überdehnen würde. Aus ihnen gar einen „Marx-Ismus“ zu konstruieren, würde suggerieren, durch eine richtige Auslegung von Marx‘ Texten oder daran anschließende weitergehende Überlegungen ließen sich Handlungsanweisungen für all jene Themen und Probleme gewinnen, mit denen Menschen heute in ihren politischen Entscheidungen oder im alltäglichen Leben konfrontiert sind. Partikulare Akteure könnten unter dem Deckmantel von „Marx-Ismus“ versuchen, ihre besonderen Sicht- und Lebensweisen durchzusetzen, würden dem wissenschaftlichen Anspruch der Theorie damit jedoch schaden.

Es ist in einem radikalen Sinn richtig, dass die Marx’sche Theorie als ein entscheidender Beitrag zur kritischen Theorie keiner Standpunktlogik folgt – sofern darunter ein Ort verstanden wird, den man einnehmen und von dem aus man sprechen und andere beurteilen kann. Marx ist kritisch gegenüber jenen Wissenschaftlern, die gesinnungstüchtig den bürgerlichen Standpunkt vertreten und die wissenschaftliche Wahrheit verraten. Aber die Theorie von Marx ist auch keine wertneutrale, empirisch-analytische Wissenschaftsdisziplin. Sie ergreift in aller Entschiedenheit Partei für die gesellschaftliche Arbeit, die Erzeugung der gemeinsamen Welt, die Emanzipation der Menschheit. Das antagonistische Gesellschaftsprinzip – das lebendige gesellschaftliche Arbeitsvermögen – war für Marx symbolisch verdichtet im Proletariat. Marx hat ein kritisches Verständnis von Klasse, sein Ziel ist die Überwindung der Klassengesellschaft und die Emanzipation der Individuen von allen Herrschaftsverhältnissen, einschließlich des Zwangs zur Arbeit. Unter diesem Blinkwinkel stellt die Marx’sche Theorie die Gesamtheit der existierenden Lebensformen und die Organisation der Gesellschaft infrage. Historisch hat der „Marx-Ismus“ in Anspruch genommen, den Standpunkt der Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Zwangsläufig hat er differenzielle Emanzipationsbedürfnisse in der Klasse und in vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen gar nicht oder zumeist nur unter instrumentellen Gesichtspunkten wahrgenommen. Kritisch gegenüber diesem problematischen Allgemeinen, haben die sozialen Bewegungen die Klasse nicht nur vergessen, sondern viele ihrer Intellektuellen haben auch bestritten, dass das „Proletariat“ jener leere Signifikant sein könnte, in dem sich das Allgemeine der Emanzipation verdichtet. Bei der Verfolgung ihrer eigenen jeweiligen Emanzipationsziele wurde der „Marx-Ismus“ aus vielerlei Gründen kritisiert – für die klassenreduktionistische Einseitigkeit seiner Parteilichkeit, für den Ökonomismus, den Anspruch auf Systematik, sowie seinen wissenschaftlichen Rationalismus und Eurozentrismus –, aber damit auch jener von Marx zur Geltung gebrachte Anspruch auf Emanzipation von Herrschaft schlechthin aufgegeben.

Zu einer neuen Weltauffassung

Diese Kritiken geben Anlass dazu, über den Status der Marx’schen Theorie nachzudenken. Wird sie lediglich als eine wissenschaftliche Theorie verstanden und als eine solche fortgesetzt, dann verbindet sie sich kaum mit dem Alltag, den gelebten Begriffen und Überzeugungen der Individuen, mit ihren täglich erfahrenen Widersprüchen, Gewohnheiten und Kämpfen. Ein solches positivistisches Theorieverständnis legt nahe, dass es sich um eine normale Wissenschaft handelt, die arbeitsteilig von den politischen Praktiken und der Lebensweise der Individuen getrennt ist. Das ist in mehrfacher Weise folgenreich. Erstens wird die Zuständigkeit der Marxschen Theorie begrenzt: Sie habe zu vielen Aspekten des gesamtgesellschaftlichen Prozesses nichts zu sagen. Im Ergebnis wird eklektisch Bezug auf andere Theorien genommen. Als Theorie, die im Handgemenge entsteht und sich als ein Beitrag zur Selbstverständigung der Kämpfe versteht, ergreift sie jedoch in allen Fragen Partei und drängt auf eine umfassende Emanzipation. Zweitens ist dies folgenreich für die Wissenschaftler*innen selbst. Diese können sich als Expert*innen der Kritik der politischen Ökonomie verstehen und ein marxphilologisches oder spezifisches Fachwissen ausbilden. Es lässt sich beobachten, dass ein so verstandener Materialismus sie glauben lassen kann, sich in überlegener Weise der Härte der materiellen Lebensbedingungen zu stellen – im Vergleich zu all jenen, die sich immer noch Illusionen in den Charakter der Verwertungsdynamik des Kapitals hingeben oder dem Fetischcharakter in der einen oder anderen Weise aufsitzen. Doch in allen anderen Hinsichten können sie ignorant, wenn nicht kalt sein, ohne jede Reflexivität gegenüber eigenen Kommunikations- und autoritären Verhaltensmustern, blind gegenüber dem Sexismus, unverständig gegenüber ökologischen Einwänden gegen die herrschende Lebensweise, ignorant gegenüber herrschenden Kulturpraktiken. Sie selbst können ganz konventionelle bürgerliche Lebensformen pflegen, ja, diese affirmieren: den lustvollen Fleischkonsum, das Freiheitsgefühl einer schnellen Autofahrt, das extensive Reisen, den Hedonismus der Kulturindustrie. Die Kritik daran wird als moralisierender Asketismus zurückgewiesen. Lebensentwürfe und Alltagspraktiken scheinen in keinem inneren Zusammenhang zur Theorie zu stehen. Es stellt sich drittens die Frage, warum Individuen den Wahrheitswert dieser Theorie überzeugend finden sollen, wenn sie nicht in einer Vielzahl von alltäglichen und politischen Praktiken gelebt wird. Es bedarf besonderer Überzeugungen, an der Theorie auch dann festzuhalten, wenn sie politisch oder wissenschaftlich unter Druck gerät. Viertens schließlich verliert die Marx’sche Theorie ihre Autonomie gegenüber dem gängigen Wissenschaftsverständnis. Sie wird dann nicht als eine Bemühung verstanden, die die Emanzipation der Menschen ohne Rückgriff auf religiöse, ethische oder rein politische Begründungen anstrebt, wie Marx es in Auseinandersetzung mit den Frühsozialisten kritisierte.

Mit der Perspektive einer umfassenden Emanzipation arbeitete Marx offensichtlich an einer historisch neuen Form des Wissens und Wahr-Sagens, die die Trennung von Wissenschaft und „Weltanschauung“ aufheben will. Auch wenn er und Engels programmatisch von einer materialistisch, kritischen Anschauung der Welt sprechen, so legt ja ihre Kritik an Feuerbach nahe, dass damit nicht die distanzierte Anschauung der Welt unter der Form des Objekts gemeint ist, sondern, um mit Gramsci zu sprechen: eine aktive, aneignende und verändernde Auffassung (concezione del mondo), die die spontanen Gefühlsregungen und das Denken zur Einheit eines Blockes zusammenführt. Individuen sollen theorie- und wahrheitsfähig werden, die Form ihres Zusammenlebens von gemeinsamen und für alle in freier Einsicht gewonnenen Entscheidungen, also von Vernunft, bestimmt sein. Freiheit bedeutet, dass die Vernunft kein Gerichtshof ist, sondern sich aus der gemeinsamen Praxis der Kooperation herausbildet. Sie ist keine letzte autoritative Entscheidungsinstanz, sondern das Medium des Gemeinsamen.

Reflektierter Marxismus: eine neue Form des Wissens und Wahr-Sagens

In der Tradition der an Marx anschließenden Theoretiker finden sich kritische Vorschläge dazu, die es ermöglichen, in einem reflektierten Sinn von Marxismus zu sprechen. Die Vertreter der älteren Kritischen Theorie standen dem Marxismus als Weltanschauung skeptisch gegenüber, weil er auf formelhaftes Lehrbuchwissen reduziert wurde, das sich gegenüber Erfahrungen und Widersprüchen der Individuen abschloss. Marxistische Erkenntnis berührte die Lebenshaltung der Individuen kaum. Konventionelle und autoritäre Lebensformen, subalterne Denkweisen und konforme Einstellungen konnten fortbestehen. Die Frage, die sich also stellte, war, wie die alltäglichen Verhaltens-, Denk- und Gefühlsweisen in emanzipatorischer Absicht verändert werden und die Individuen eine Haltung der Autonomie erwerben können. Dies umfasst alle Bereiche – und da die ökonomischen und politischen Verhältnisse ihrer Schwerkraft wegen schwieriger zu verändern sind, sollte Adorno zufolge durchaus bei der Subjektivität begonnen werden, um das Individuum in seiner Autonomie zu stärken. Dies hieß, es zu befähigen, kollektivem Druck zu widerstehen, vor der Aneignung schwieriger Begriffe nicht zurückzuschrecken, Widersprüche zu ertragen und das Harmonische, Positive, Glatte, das logisch Saubere und technisch Reibungslose zu problematisieren, die Unterordnung des Denkens unter Praxis infrage zu stellen, sich selbstkritisch gegenüber den eigenen Gefühlsregungen zu verhalten, Introspektion und Selbstreflexivität zuzulassen, die alltäglichen Gewohnheiten zu überprüfen, also das, was als Vergnügen erschien, als Selbstverständlichkeit in den Interaktionen mit anderen.

Vom Subjekt und seinen intellektuellen Aktivitäten her zu denken, ist im Lichte der gramscianischen These, dass alle Menschen Philosophen sind, aber unter Bedingungen der herrschaftlichen Organisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die Fähigkeit, sich die Welt begrifflich-aktiv anzueignen, nicht entfalten können, keine Verlegenheitslösung. Die Subalternen leben vielfach sehr ungleichzeitig: In ihrer konkreten Arbeit nehmen sie teil an den modernsten Produktionsmethoden zur Bearbeitung der Natur; gleichzeitig können sie ihren Alltagsverstand nicht rational ausarbeiten und bleiben religiösen, metaphysischen, provinziellen oder bürgerlichen Weltanschauungsmomenten unterworfen, wie sie von Schule oder Kulturindustrie verbreitet werden. Ihr Alltagsverstand ist bizarr zusammengesetzt und macht sie handlungsunfähig und passiv. Hier sieht Gramsci die bedeutsame Aufgabe der von Marx initiierten Philosophie der Praxis. Sie trägt zur Ausarbeitung einer eigenständigen Weltauffassung der Subalternen bei, die sie ermächtigt, sich das höchste Niveau der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens anzueignen, „an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen“ und Führer ihrer selbst zu sein (Gramsci, Gef., H. 11, 1375). Das Ziel ist es, dass Wahrheit zur Basis vitaler Handlungen und Element der Koordination der intellektuellen und moralischen Verhältnisse der Menschen wird, also eines geschichtlich neuen moralisch-intellektuellen Blocks. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass die bislang von ihren intellektuellen Funktionen getrennten Individuen ihre reale Gegenwart kohärent denken und die Heterogenität von Theorie und Praxis überwinden, indem sie ihr Zusammenleben von der alle Tätigkeiten umfassenden Kooperation her rational organisieren. Das wäre eine folgenreiche Veränderung, denn der Zusammenhang, das Gemeinsame, würde nicht mehr durch die Wertbestimmung der gesellschaftlichen Arbeit vermittelt in der Form abstrakter Arbeit erfahren und begriffen, also in der Konkurrenz und in den Konflikten zwischen Einzelnen der verhärteten Kollektiven, für die Weltanschauungen, Deutungsmuster, Interpretationen immer noch Momente der sozialen Kämpfe sind. Das Allgemeine wäre den emanzipierten Individuen und ihrem versöhnten Stoffwechsel mit der Natur unterworfen.

 Literatur

Gramsci, Antonio, 1995: Gefängnishefte, Bd. 6, hgg. v. Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug u.a., Berlin/Hamburg

Dieser Beitrag ist eine Vorveröffentlichung von „Marxte noch mal?“ – LuXemburg 2-3/2017