Marxsches Denken bewahren ohne „-ismus“

Wieso wir bei der Suche nach einem alternativen Entwicklungsmodell nicht mit Marx alleine auskommen. Aber auch nicht ohne ihn.

Christa Luft

Die Autorin studierte Außenhandelsökonomie und internationale Wirtschaftsbeziehungen. Sie lehrte und forschte an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. In der Wendezeit war sie in der Modrow-Regierung mit der Konzipierung einer DDR-Wirtschaftsreform beauftragt, die auf eine sozial und ökologisch orientierte Marktwirtschaft zielte. Christa Luft ist Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropa-Forschung.

Mit dem Zerfall des sozialistischen Lagers und nach der Implosion der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre galt Karl Marx als erledigt. Der Kapitalismus erreichte einen Legitimationsbonus. Francis Fukujama sprach vom „Ende der Geschichte“. Ganze eineinhalb Dekaden später brach die globale Finanzkrise aus, riss die Realwirtschaft in den Abgrund und belebte spürbar das Interesse am Werk des Totgesagten.

Vertreter der Mainstream-Ökonomie, der Neoklassik, erklärten die Krise u. a. mit der Gier von Investmentbankern sowie der ungenügenden Transparenz und Kontrolle von Finanzgeschäften. Solche Faktoren haben auch eine Rolle gespielt, aber auf den Punkt bringen sie das Problem nicht. Der liegt in der enormen Anhäufung von Finanzvermögen, das nach Anlage mit höchstmöglichen, in der Realwirtschaft nicht erzielbaren Renditen strebt, also in der Überakkumulation. Das ist ein von Karl Marx beschriebener Vorgang, wie er in der Geschichte des Kapitalismus periodisch aufgetreten ist und in seinem finanzmarktgetriebenen Stadium mit den täglich vagabundierenden Dollar-Billionen den bisherigen Höhepunkt erfuhr. Marx erklärte dieses Phänomen mit der Tendenz des Kapitals zur schrankenlosen Vergrößerung des Angebots bei gleichzeitiger Lohnkostensenkung und damit Kaufkraftminderung, also dem Widerspruch zwischen Produktion und realer Konsumtion. Wörtlich heißt es bei ihm: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“ (MEW Bd. 25: 501).

Die Armut der Massen hat heute zwar ein anderes Gesicht als zu Marxens Zeiten. Aber selbst in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern schreitet die Prekarisierung der Arbeit voran, verarmen Vollerwerbstätige, spricht die Kluft zwischen Arm und Reich Bände. Die Finanzindustrie entzieht der Realwirtschaft kaufkräftige Nachfrage. Spekulationsgewinne forcieren die Umverteilung von unten nach oben und die Kommodifizierung von immer mehr zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehörenden Leistungen  – oder mit Marx gesprochen, deren Subsumption unter die Logik der Kapitalakkumulation – treiben die Überakkumulation weiter an. 

Nicht die Befriedigung von Bedürfnissen ist das Ziel im Kapitalismus, sondern die Akkumulation 

Marx war der erste Theoretiker, der nachwies, dass im Kapitalismus nicht die Befriedigung von Bedürfnissen das Ziel ist, sondern die Akkumulation. Er nahm die Rolle des Konsums als eines wesentlichen Elements der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in den Fokus und zeigte, dass ohne steigende Nachfrage kein Investitionsanreiz besteht. So legte er den Grundstein für die später von Keynes entwickelte nachfragebasierte Konjunkturtheorie. Auf diese stützen sich heute nicht dem Mainstream verhaftete Ökonomen, wenn es zum Beispiel um die Überwindung der fatalen Folgen der den südeuropäischen EU-Ländern aufgezwungenen  Austeritätspolitik geht. Die Marxsche Krisentheorie gehört aufgrund ihrer makroökonomischen Fundierung zu seinen wichtigsten Beiträgen zur Volkswirtschaftslehre. Überhaupt geht die Begründung einer Makroökonomie als deren Teildisziplin wesentlich auf ihn zurück. Er operierte wie niemand vor ihm mit Begriffen wie „Nationaleinkommen“ als Wertsumme des neu geschaffenen Produkts, verwendbar für den laufenden „Konsum“ und für die „Akkumulation“ des Kapitals, also für die „Investition“. Zusammen mit Friedrich Engels beschrieb Marx im Kommunistischen Manifest die Globalisierungstendenz des Kapitals. Es geht dorthin, wo die billigsten Arbeitskräfte, die lockersten Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen und die niedrigsten Steuersätze zu finden sind, ein Vorgang, der sich heute zum Beispiel im massenhaften Outsourcing ganzer Produktionen oder einzelner Teile in Billiglohnländer zeigt.

Eine Faszination geht von Marx bis heute aus, weil er nicht verschiedene  betriebswirtschaftliche Teilbereiche der Ökonomie untersuchte, sondern eine Produktionsweise. Er war der erste Theoretiker, der die Dynamik kapitalistischen Wirtschaftens und dessen unbändige Geldvermehrungslogik tiefgründig beschrieben hat. In G-W-G’ sah er „die allgemeine Formel des Kapitals“ (MEW Band 23,170). Geld aber, so seine Erkenntnis, wird nur zu Kapital und heckt Profit, wenn es investiert wird und Güter hergestellt werden, die sich gewinnbringend verkaufen lassen. Der Unternehmer muss unablässig auf Innovationen bedacht sein, in neue Verfahren und Produkte investieren, wenn er gegenüber der Konkurrenz überleben will. Er unterliegt dem „Zwangsgesetz der Konkurrenz“. Den Verdrängungswettbewerb überstehen bei schließlich gesättigten Märkten aber nur Firmen, die in hohen Stückzahlen am billigsten produzieren. Das sind in der Regel  meist Konzerne, die ganze Wertschöpfungsketten kontrollieren und kleinere Firmen vom Markt fegen.

Marx war der erste seiner Zunft, der in dieser Entwicklung die Tendenz zum Oligopol sah, das zur „Fessel der Produktionsweise“ wird. Die Größenstruktur der Unternehmen und deren Anteile am Umsatz in Deutschland sowie anderen kapitalistischen Ländern bestätigen die Aktualität  Marxscher Voraussagen zur Monopolbildung. Nur seine Annahme, der Kapitalismus würde von selber untergehen, weil sich im Zuge der Konzentrationsprozesse die Kapitalisten gegenseitig enteignen, weil die „Expropriateurs expropriiert“ werden (MEW Bd. 23: 791), erfüllte sich nicht. Von der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution war Marx überzeugt. Aber gemessen an seinen tiefgründigen Analysen über die Funktionsweise der kapitalistischen Ökonomie hat er wenig an Funktionsmerkmalen und Wirkungsmechanismen eines neuen, den Interessen von Bevölkerungsmehrheiten entsprechenden, nicht profitorientierten demokratischen Gemeinwesens hinterlassen. Verwundern kann das nicht, gab es doch zu seiner Zeit noch kein entsprechendes Analysefeld, keine praktischen Erfahrungen, die als Test für die Tauglichkeit und Realisierbarkeit von auf den Sozialismus zielenden Visionen und Konzepten hätten dienen können. Dem kritischen Denker Marx hätte es sicher nicht gefallen, wenn jeder Satz und jede Sicht von ihm unabhängig von Zeit und Umständen der Entstehung für die Ewigkeit in Stein gemeißelt werden. Er würde gewiss kritisches Weiterdenken empfehlen. Das betrifft zum Beispiel eine seiner Visionen, zu denen es unter Linken seit Jahren zum Teil heftige Debatten gibt.

Sozialismus war für Marx mit Warenproduktion unvereinbar.

Es geht um die Rolle von Warenproduktion, Markt, Wertgesetz und den davon abgeleiteten Kategorien in einer nichtkapitalistischen Wirtschaft. Im dritten Band des „Kapital“ schreibt Marx über den Sozialismus : „Nur wo die Produktion unter wirklicher vorherbestimmender Kontrolle der Gesellschaft steht, schafft die Gesellschaft den Zusammenhang zwischen dem Umfang der gesellschaftlichen Arbeitszeit, verwandt auf die Produktion bestimmter Artikel, und dem Umfang der durch diese Artikel zu befriedigenden gesellschaftlichen Bedürfnisse“ (MEW, Bd. 25:195). Mit anderen Worten: Die Beziehung zwischen der Produktion von Waren und den zu befriedigenden Bedürfnissen sollte direkt, d.h. ohne Bezug zu Wert und Markt in einem Planungsprozess hergestellt werden. Sozialismus war für Marx mit Warenproduktion unvereinbar,  Ware-Geld-Beziehungen waren für ihn Fremdkörper im Sozialismus, galten als „Muttermale des Kapitalismus“.

Diese Interpretation beherrschte Jahrzehnte das Denken vieler Politökonomen und das Handeln von für die Wirtschaft verantwortlichen Partei- und Staatsfunktionären in der Sowjetunion und den meisten anderen sozialistischen Ländern. Wissenschaftler, die wie Jewsei Liberman (Sowjetunion), Fritz Behrens oder Gunther Kohlmey (DDR), Ota Sik (Tschechoslowakei), Oskar Lange (Polen), Janos Kornai (Ungarn) und andere frühzeitig auf die unverzichtbare Nutzung von Marktkategorien und Wertkennziffern statt fast ausschließlich von Naturalkennziffern im Wirtschaftsmechanismus eines sozialistischen Landes hinwiesen, wurden mit harten Folgen für ihre berufliche Karriere des Revisionismus bezichtigt. Aber davon, wie die Antwort auf die Frage ausfällt, ob das Produkt gesellschaftlicher Arbeit unter Bedingungen einer sozialistischen Wirtschaft Warenform annimmt oder nicht, hängt ab, ob Begriffe wie Wert, Preis, Selbstkosten, Gewinn, Kredit, Zins usw. ökonomische Kategorien mit möglicher Hebelwirkung sind oder nur als Hilfsmittel technisch-organisatorische Bedeutung in einer ansonsten naturalwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsrechnung dienen.

Die Auseinandersetzung unter Linken, ob und wie sozialistisches Wirtschaften mit der Existenz von Warenproduktion, des Marktes, dem Wirken des Wertgesetzes sowie den davon abgeleiteten Kategorien zu vereinbaren ist, wird weitergehen. Doch kann sie nicht mehr theoretisch-abstrakt geführt werden, sondern muss die praktischen Erfahrungen des implodierten Realsozialismus einbeziehen. Die zentrale staatliche Wirtschaftsplanung ist in der 70- bzw. 40-jährigen Entwicklung der Sowjetunion und den anderen realsozialististischen Ländern den Nachweis, volkswirtschaftliche Proportionen garantieren zu können, überall schuldig geblieben. Was als „Planwirtschaft“ bezeichnet wurde, war im Kern ein zentralistischer Dirigismus, der letztlich eine planmäßige Entwicklung der Wirtschaft verhinderte. Er hat die genannten Ware-Geld-Kategorien durch eine Flut administrativer Surrogate wie Festpreise, Subventionen, ökonomische Hebel, Währungsumrechnungs- und Richtungskoeffizienten usw. ersetzt und damit eine zusätzliche Barriere zwischen real- und geldwirtschaftlichen Vorgängen errichtet. Den Betrieben wurden überwiegend naturalwirtschaftliche Auflagen erteilt wie Volumen der Industrieproduktion, des Exports, der Konsumgüterherstellung usw. Der Begriff „Tonnenideologie“ wurde geboren. Durch Vernachlässigung/Missachtung von Wertkennziffern waren die wahren Produktionskosten verschleiert und eine effiziente Ressourcenallokation beeinträchtigt. Unverfälschte Informationen über die realwirtschaftlichen Verhältnisse waren kaum zu erhalten. Eine international vergleichbare Wirtschaftlichkeitsrechnung war erschwert.

Der Staat darf sich die Definitionsmacht darüber, wie Märkte funktionieren sollen, nicht aus der Hand nehmen lassen.

Ob und wann eine Planung des Aufkommens an Gütern und Leistungen in einer reifen, auf Gemeineigentum beruhenden Entwicklungsphase einer künftigen Gesellschaft direkt nach den in ihnen enthaltenen Arbeitszeiten möglich ist ohne Bezugnahme auf Wertkategorien, ist eine heute nicht zu beantwortende Frage. Seit einigen Jahren verstärkt sich unter linken Ökonomen eine Diskussion darüber, wie eine Synthese von Planung und Marktregulierung aussehen könnte, ob es eine „sozialistische Marktwirtschaft“ oder eine „sozial gesteuerte Marktwirtschaft“ geben kann. Marktwirtschaft und Kapitalismus dürfe man nicht gleichsetzen, heißt es. Eine Tausch- und Warenwirtschaft existiere bereits Jahrtausende, bevor sich ihre gerade einmal vier Jahrhunderte alte kapitalistische Form herausbildete. Eine sozialistische Marktwirtschaft könne durch Verknüpfung von gesellschaftlichem (nicht schlechthin verstaatlichtem) Eigentum an Produktionsmitteln und Regulierung durch Angebot und Nachfrage entstehen. Es sei nicht einzusehen, weshalb sozialistische Eigentümer nicht in der Lage sein sollten, ihre Unternehmenspolitik an Markterfordernissen, also an Wünschen von Kunden, auszurichten und stattdessen unflexibel an zentralistisch erstellten Plänen haften sollten. Ich teile die Auffassung, dass Staat und Markt keine Gegensätze sind, sondern gemeinsam die Alternative zur Anarchie. Aber der Staat darf sich die Definitionsmacht darüber, wie Märkte funktionieren sollen, nicht aus der Hand nehmen lassen. Vor allem müssen sie von den Auswüchsen des entfesselten Finanzkapitalismus befreit werden.

Es geht nicht darum, ob Marx sich geirrt hat oder nicht. Die Bedingungen im Realsozialismus entsprachen nicht den Voraussetzungen, von denen er bei seiner Voraussage ausging. Das Eigentum an den Produktionsmitteln war verstaatlicht, nicht vergesellschaftet. Die demokratische Mitwirkung der Beschäftigten war eher formal, statt real. Die Produktionsmöglichkeiten ließen es nicht zu, dass jeder nach seinen Bedürfnissen leben konnte. Das in der Politik vorherrschende Menschenbild war einseitig. Einzelwirtschaftliche Effizienz und gesamtwirtschaftliche Stabilität waren nicht verbunden. Dass aufgewandte gesellschaftliche Arbeit erst mit der Realisierung auf dem Markt Anerkennung findet, war nicht im Blick. Auf dem Wege zu einem alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell sind weitere Such- und Lernprozesse zwingend.