Wessen Größe, wessen Illusion? Zu Gareth Stedman Jones’ Marx-Biografie

Austellung "150 Jahre Kapital", Hamburger Museum für Arbeit 2018

Dass an Gareth Stedman Jones’ voluminöser Marx-Biografie womöglich etwas nicht stimmen könnte, wird schon durch den Umstand angezeigt, dass der deutsche Verlag den Untertitel der englischen Originalausgabe unterschlägt. Dieser lautet Greatness and Illusion, und das blöde an dieser Art von Untertiteln ist, dass sie schon vorweg die Pointe des ganzen Buchs verraten. Man weiß sofort, dass das Buch und sein Autor sich viel auf die geleistete ‚schonungslose Desillusionierung’ zu Gute halten; das Ganze zielt auf Entlarvung. Die Leserin aber, die beobachtet, wie hier mit Aplomb weit offen stehende Türen eingerannt werden, fragt sich bei einem solchen Untertitel dann fast unwillkürlich, um wessen angemaßte Größe und vor allem: um wessen Illusionen es hier eigentlich geht.

Der deutsche Verlag tut also gut daran, den Original-Untertitel zu unterschlagen; das Urteil der New York Times Book Review, wonach wir es hier mit der „definitive[n] Biographie für unsere Zeit“ zu tun hätten, das der deutsche Ausgabe stattdessen in Form eines Stickers aufgepappt wurde, ist indes genauso vorhersehbar und zudem inhaltlich falsch – auch und gerade, wenn man es an Stedman Jones’ Intention misst: Denn er will ja zeigen, dass es keinen Marx für unsere Zeit gibt, und seine Biografie will dies bloß illustrieren. Beide Ausgaben, die englische wie die deutsche, teilen ansonsten das gleiche Design: Über Marx’ Namenszug in fetten Majuskeln prangt in Gold (!) dessen grimmiges Konterfei, abgezogen von einer der ikonischen Büsten aus Sowjetzeiten: Die Verlage wollen also offenbar mit genau der ‚aufgeblähten’, monumentalisierten Greatness („ein furchteinflößender bärtiger Patriarch und Gesetzgeber, ein Denker von gnadenloser Konsequenz“; S. 13) ihren Reibach machen, die im Buch entlarvt werden soll. Nun, ja: it’s a monkey business. Noch vor jeder Lektüre bereiten Titel und Cover so schon jenen „unvorteilhaften ersten Leseeindruck“ vor, den Timo Luks in seiner überaus instruktiven Rezension im Archiv für Sozialgeschichte festgestellt hat. Im Buch selbst also wird’s, so ahnen wir, nicht besser.[1]

Wer wenig oder nichts über Marx weiß – zumal über seine Biografie – für den bietet Stedman Jones’ Buch sicher einiges Wissenswertes; alles davon ist indes lange bekannt, es werden keine neuen Quellen erschlossen, keine neuen Zusammenhänge hergestellt. Die vorliegende Biografie ist so „über weite Strecken austauschbar“, wie Luks hart, aber gerecht schreibt. Warum also empfiehlt es sich – oder empfiehlt es sich eben nicht – genau zu dieser zu greifen? Besonders kurzweilig ist die Lektüre jedenfalls nicht. Stedman Jones pflegt zwar jenen gut lesbaren Stil, der britischen Historikern offenbar habituell eignet (und den man in Deutschland immer vermisst): Hier muss nichts akademisch aufgeplustert werden; was nicht in plain English prose zu sagen ist, kann gleich ungesagt bleiben. Insofern also eigentlich gute Voraussetzungen, auch, weil die Übersetzung von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn sorgfältig und umsichtig verfährt und die britische Nonchalance souverän ins Deutsche überträgt. Auf einen unique selling point von Stedman Jones’ Biographie, der in kaum einer Rezension unerwähnt bleibt: dass es sich der Biograph nämlich herausnimmt, den Protagonisten seiner Biografie durchweg mit dem Vornamen anzukumpeln („Karl, wie wir ihn fortan nennen wollen“; S. 13), möchte ich hier gar nicht weiter eingehen; ich halte das eher für eine stilistische Fehlleistung, die im Original womöglich besser funktioniert. Für wen das schon erfrischend „respektlos“ ist, der hat offenbar sonst nicht viel zu lachen.[2]

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Das Lesevergnügen kommt allerding schon nach wenigen Seiten zum Erliegen. Und das liegt an Stedman Jones’ Methode, die wir nach der Denomination seiner Professur als „politische Ideengeschichte“ bezeichnen können. Dass wir diesen Umweg überhaupt gehen müssen, liegt auch daran, dass im Buch selbst fast nichts zur Methode gesagt wird, und dass das, was davon praktiziert wird, erstaunlich dünn bleibt: Es gehe ihm darum, „Marx wieder in sein zeitgenössisches Umfeld des 19. Jahrhunderts zu stellen“; im Original findet sich dazu noch die restauratorische Metapher, dass Marx’ Bild von späteren Übermalungen und Retuschen befreit werden solle, um dessen Originalzustand wiederherzustellen. Das war’s. In der Praxis sieht das dann so aus, dass nach längeren ersten Kapiteln über Marx’ Kindheit und Jugend im preußisch annektierten Rheinland jedes einzelne Kapitel (zugeordnet den Stationen der Lebensgeschichte) mit langen und zum Teil wenig inspirierten Nacherzählungen und Paraphrasen (Luks: „bloße Abstracts [...], die irgendwo zwischen Lexikoneintrag und Klappentext angesiedelt sind“), derjeingen Texte beginnt, die Marx in eben jenem Abschnitt seines Lebens geschrieben hat. Im letzten Teil jedes Kapitels werden die zuvor vorgestellten Ideen und Theorien dann kurz und bündig widerlegt; das Längenverhältnis zwischen Paraphrase und Widerlegung bewegt sich jeweils zwischen 5:1 und 10:1.

Das ist nicht nur ermüdend zu lesen; vieles ist auch schlichtweg falsch oder wenigstens tendenziös im Hinblick auf die seit dem Untertitel bekannte Entlarvungsthese hin zugeschnitten; das hat Lucia Pradella in ihrer Rezension in der International Review of Social History eingehend dargelegt.[3] Stedman Jones’ tatsächliches Verfahren unterläuft aber auch seine eigene methodologische Absichtserklärung. Denn gegen eine historische Kontextualisierung, so wie er sie als „Ziel“ angibt, ist ja prinzipiell nichts einzuwenden. Eine der besten Marx-Biografien, die wir haben: Jonathan Sperbers Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert (im Original: Karl Marx: A Nineteenth-Century Life) von 2013, macht genau das; auch Sperber will – durchaus in kritischer und ikonoklastischer Absicht – die Zeitgebundenheit von Marx’ Denken zeigen. An Sperbers Biografie muss die von Stedman Jones gemessen werden, und Sperber schneidet dabei durchweg besser ab, gerade weil er als ausgewiesener Kenner der Rhineland Radicals, denen er schon sein erstes Buch gewidmet hat,[4] Marx tatsächlich historisieren und damit relativieren kann. Stedman Jones hingegen fasst jeden einzelnen Text selbst des ganz jungen Marx, jedem Gelegenheitstext späterer Jahre gewissermaßen als heiligen Text auf, der zunächst zusammengefasst und kommentiert und dann widerlegt werden muss. Eine Kontextualisierung kommt so gerade nicht zu Stande; Marx erscheint vielmehr von Anfang an und immer schon als großer Philosoph, der quasi als Solitär aus seiner Zeit herausragt. Er wird von seinen Zeitgenossen zwar beeinflusst – natürlich werden auch die Junghegelianer, die französischen Kommunisten, die englischen Chartisten etc. von Stedman Jones ausgiebig paraphrasiert –, aber diese sind eben immer bloß Marx’ Zeitgenossen und Einflussgeber. Statt ein Milieu, ein Geflecht von Stimmen und Bewegungen zu rekonstruieren, in dem, mit dem und gegen das Marx agiert und „reift“, bis er schließlich zur einzigen Figur aus jenem Milieu geworden ist, über die heute noch dickleibige Biografien geschrieben werden, wird seine Größe (greatness) in einer seltsamen Negativ-Fixierung von Stedman Jones von Anfang an vorausgesetzt: quod erat demonstrandum. Das Projekt einer selbst historiografisch und theoretisch reflektierten Theoriegeschichte jenseits einer Geschichte großer Theorie-Männer wird so keinen Millimeter weiter gebracht.

Und umgekehrt steht zu vermuten, dass gerade im Fehlen eines neuen, „innovativen Interpretationsvorschlag[s]“ (Luks), eines neuen Narrativs für die allseits bekannten Fakten und Zusammenhänge der Schlüssel für den Erfolg von Stedman Jones’ Biografie im „bürgerlichen“ Feuilleton zu suchen ist. Denn sie bestätigt maximal umständlich genau das Bild, das man immer schon von Marx hatte: genial, aber abgehoben; philosophisch brillant, aber realpolitisch eine Niete; persönlich faszinierend, aber fies. Greatness and Illusion eben. Ein Untertitel hätte gereicht.

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Offensichtlich wird so schließlich in jedem einzelnen Kapitel, dass die Illusion der Größe, die auf den gut 700 Seiten entlarvt wird, vor allem Stedman Jones’ eigene sein muss. Irgendwann einmal, wann auch immer, muss er Marx für genau den Giganten gehalten haben, den er nun stürzt: Die erst ge-, dann durchschaute Größe erweist sich so nicht so sehr als Illusion, sondern vor allem als Projektion. Damit wiederum könnte das Buch nun auf einer zweiten Ebene Aussagekraft gewinnen; denn Projektionen sind ja nie bloß individuell und idiosynkratrisch, sondern historisch signifikant, ja symptomatisch. Dem nachzugehen, wäre eine eigene Arbeit: eine Geschichte der Marx-Rezeption im Spiegel historiografischer Paradigmenwechsel, speziell in der New Left – grob gesagt: von der Sozial- zur Ideengeschichte, vielleicht auch, wie Pradella vorschlägt, „from Marxism to post-structuralism“. Timothy Shenk hat in seiner Rezension in der London Review of Books unter dem schönen Titel „Find the Method“ Stedman Jones’ eigene wissenschaftliche Biografie im Hinblick auf diese Entwicklung rekonstruiert.[5]

In Stedman Jones’ Buch selbst indes findet sich kein einziger noch so kleiner Hinweis darauf, dass sich der Autor der auto-dekonstruktiven Dimension seines Buches bewusst wäre; dann erst würde es ja richtig interessant. Stattdessen verfestigt sich bei Lesen zunehmend der Eindruck, immer tiefer in ein Spiegelkabinett der Projektionen und vermeintlichen Entlarvungen zu geraten, ein „game of mirrors“, wie Pradella schreibt.

Wie hinaus? Vielleicht sollte ich mich fragen, warum ich mich eigentlich so über dieses Buch ärgere: soviel Auto-Dekonstruktion muss sein. Ich werde wohl feststellen müssen – in einem Akt der Gegenübertragung vielleicht –, dass sich in der Lektüre eine Illusion zerlegt, die ich selbst einmal gehegt habe und die ich durchaus in einer gewissen Größe in Stedman Jones’ früheren Büchern und in seinem Wirken als langjähriger Herausgeber der New Left Review verkörpert sah. Stedman Jones stand für eine „theorieorientierte Sozialgeschichte“ (so Peter Schöttler im Untertitel der von ihm herausgegebenen ersten deutschsprachigen Sammlung früher Texte von Stedman Jones, die schon 1988 beim Westfälischen Dampfboot erschienen ist),[6] in der eben all das zusammengebracht wurde, was in der deutschen Theorie- und Geschichtsszene lange als unvereinbar galt: britische Sozialgeschichte und französische Sozialanthropologie, Marxism and post-structuralism. Und es sind zum Teil genau die Elemente seiner früheren Arbeiten wie Outcast London oder Languages of Class, die mich fasziniert haben, die nun in einer – wie ich finde – unredlichen Weise gegen Marx ausgespielt werden: so das Beharren auf der politischen und kulturellen Selbsttätigkeit und Autonomie der Klasse gegenüber allen großprogrammatischen und parteipolitischen Zurichtungen; oder die Betonung der Insistenz heterogener – etwa religiöser – Traditionen und Gegenströmungen in der Arbeiterbewegung.

Klar, man hätte es wissen können. Etwa weil Joan Scott – die selbst für die unorthodoxe Verbindung einander zunächst fremder Theorietraditionen steht – schon früh gezeigt hat, dass sich gerade hinter Stedman Jones’ Adaption post-strukturalistischer Sprachtheorie in Languages of Class eine letztlich ziemlich traditionelle Abbildtheorie der Sprache verbirgt.[7] Man wird also die alten Bücher neu lesen und anders weiterführen müssen. Die aktuelle Enttäuschung über Stedman Jones’ Marx-Biographie sollte einen und wird mich nicht davon abhalten, weiter nach historiografisch-theoretischen Nordwest-Passagen jener Art zu suchen, auf der Stedman Jones sich selbst nunmehr verfahren hat. 

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[1] Timo Luks: Rezension von: Gareth Stedman Jones, Karl Marx. Greatness and Illusion, Allen Lane, London 2016, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 57, 2017, URL: <http://www.fes.de/cgi-bin/afs.cgi?id=81801> [28.2.2017].

[2] Vgl. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/biografien-zum-geburtstag-karl-mar...

[3] Lucia Pradella, Rezension von: Gareth Stedman Jones, Karl Marx. Greatness and Illusion, Allen Lane, London 2016, in: IRSH 62 (2017), S. 329–349; vgl. auch Lucia Pradella, Globalization and the Critique of Political Economy: New Insights from Marx’s Writings, New York 2015.

[4] Sperber, Jonathan, Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert, München 2013. Ders., Rhineland Radicals: The Democratic Movement And The Revolution Of 1848/1849, Princeton 1991.

[5] Timothy Shenk, „Find the method“; in: LRB 29/13, 29.6.2017, S. 17–20. Vgl. dazu auch Patrick Eiden-Offe, „Der alte Karl Marx“, in: Merkur Nr. 817, 6/2017, S. 66–75.

[6] Gareth Stedman Jones, Klassen, Politik, Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte, hg. v. Peter Schöttler, Münster 1988.

[7] Vgl. Vgl. Joan W. Scott, Über Sprache, Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse, in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994 [1987], S. 283–309. Auch den Hinweis auf den Artikel von Scott verdanke ich der Rezension von Timo Luks.