Da ist sie wieder, die Dolchstoßlegende… Nicht überraschend, pünktlich zum Jubiläum der Matrosenaufstände und der folgenden Novemberrevolution haben wir sie wieder. In der FAZ z.B. suggeriert uns ein Martin Eich, dass die Würdigung der Matrosenaufstände sich jenseits historischer Fakten bewege. Die simple historische Wahrheit, dass der letzte Versuch der Admiralität, in einer Seeschlacht irgendwie die schon überfällige Kapitulation zu verschleppen oder wenigstens bessere Konditionen zu erreichen, mit dem Tod tausender Matrosen bezahlt worden wäre (deutscher wie anderer), scheint den Autor nicht weiter zu bewegen.
Zudem war der Krieg auf dem Wasser allein schon nicht mehr zu gewinnen. Die Antwort der Entente wäre eine Bodenoffensive gewesen, die die Fronten zum Zusammenbruch gebracht hätte. Daran hätte der Ausgang der Seeschlacht nichts geändert. Lediglich die Zahl der Toten wäre noch höher gewesen. Militärtaktisch mag die Entscheidung für eine Seeschlacht rational gewesen sein, strategisch war sie unsinnig und verbrecherisch. Mir scheint die Entscheidung der Matrosen, die Feuer in den Kesseln zu löschen auf jeden Fall rationaler und gesellschaftspolitisch strategischer.
Bezeichnend ist die Parallelität in der Behandlung der Revolutionen in Russland und in Deutschland durch den immer weiter vordringenden Konservatismus. Vor einem Jahr wurde in Russland ähnlich wie jetzt in Deutschland die „Dolchstoßlegende“ aktiviert. In beiden Fällen wurde und wird eine Imagination der Weisheit und des nationalen Edelmuts der reaktionären Militäreliten beschworen. In beiden Fällen wird über die im Krieg verheizten (und verrohten) Soldaten und Matrosen in widerlicher Weise hergezogen. Die Muster sind in Russland und Deutschland identisch: Lassen sich Soldaten abschlachten, sind sie Helden, wollen sie sich nicht abschlachten lassen, sind sie Meuterer. Die Interpretationshoheit liegt bei denen, die das Töten befehlen. Deutlicher kann der Verlust jeglichen humanistischen Gewissens bei den geistigen NachfolgerInnen Wilhelm II., Moltkes, Hindenburgs usw. nicht sein. Natürlich hängt die Bewertung historischer Prozesse auch immer vom Blickwinkel des Schreibenden und seinen Präferenzen ab. Bitter ist, dass die Nachfahren der meuternden Matrosen und Soldaten die Beleidigungen ihrer Urgroßeltern kaum als solche zur Kenntnis nehmen. Dazu passt, dass nach Angaben einer Studie der Uni Leipzig, 40 Prozent der Deutschen einem autoritären Regime nicht abgeneigt seien. Eich scheint in seinem Artikel einen Kult der Selbstunterwerfung und der Selbstzerstörung zu zelebrieren, der genau diese Strömung befördert. Der Schritt zur Diffamierung der Demokratie wie in den 1920er Jahren und zur Forderung nach Aufopferung für die Volksgemeinschaft ist denkbar klein.