Gekappte Linien

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Die offiziöse Kanonisierung von Marx und seine Einbalsamierung von Links. Georg Fülberth über gekappte Verbindungslinien und wieso es schön wäre, sie wüchsen wieder zusammen. Zum 199. Geburtstag von Karl Marx.

Die Huldigungen, die Marx nicht nur zum Doppeljubiläum 2017 (150 Jahre „Das Kapital“, Band I) und 2018 (200. Geburtstag des Meisters) dargebracht werden, könnten seine viele Jahrzehnte lang durch die Wüste gewanderten Anhänger(inn)en zur klammheimlichen Annahme verleiteten, sie seien jetzt doch noch, wider Erwarten, in der Diktatur des Proletariats angekommen.

Die UNESCO hat zwei seiner Schriften ins Weltkulturerbe aufgenommen, neben u.a. der Himmelsscheibe von Nebra, der Gutenberg-Bibel, Beethovens Neunter Sinfonie und dem Nibelungenlied. Die Marx-Engels-Gesamtausgabe, einst von Stalin gemeuchelt, wurde 2015 zum dritten Mal gerettet: in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch Walter Ulbricht und Nikita S. Chruschtschow, in den Neunzigern dem Vernehmen nach durch Helmut Kohl sowie 2015 durch den Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK), der Nachfolgeorganisation der früheren Bund-Länderkonferenz für Bildungsplanung und Forschungsförderung, und Herfried Münkler. In den beiden letzten Fällen geschah dies unter einer Auflage: die Edition solle akademisiert (=entpolitisiert) erfolgen, so dass die beiden Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung ebenso in 19. Jahrhundert eingesperrt werden dürfen wie die Brüder Grimm.

Damit nicht genug. Jetzt wird auch hier und dort öffentlich darüber gegrübelt, ob Marx und Engels nicht doch in Vielem Recht gehabt hätten. Schon im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 hätten sie die Globalisierung zutreffend vorausgesehen. Strukturelle Massenerwerbslosigkeit aufgrund zunehmenden Ersatzes von menschlicher Arbeit durch Maschinen, ständige Zentralisierung des Kapitals, Entstehung und Dominanz der Aktiengesellschaften, die Ablösung der selbst im Unternehmen tätigen Kapitalisten durch Manager: all dies werde im ersten Band des „Kapital“ zutreffend analysiert. Und selbst mit dem Gesetz vom „tendenziellen Fall der Profitrate“ – aufgestellt im dritten Band – können sich einige Leute anfreunden: Sinken der Rendite auf lange Sicht. Auch habe Marx erstmals die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus als Gesetzmäßigkeit entdeckt. (Genauer: es war Engels, 1844).

Man kann noch hinzufügen: Die zentrale These der materialistischen Weltanschauung: Abhängigkeit aller politischen, juristischen und kulturellen Überbauten von der ökonomischen Basis, wird zwar immer wieder in der Theorie bestritten, aber in der Praxis verhalten sich ihre Gegner allesamt nach ihr, übrigens auch in der gleichsam offiziellen akademischen Wissenschaft: Die stramm marktradikale „Ökonomische Theorie der Politik“, auch „Neue Politische Ökonomie“, verkündet: „It’s the economy, stupid!“, wenngleich in der plattesten Form: dass ohne Moos nichts los sei und alles in der Welt auf Angebot und Nachfrage beruhe.

Das waren die guten Nachrichten. Jetzt kommen ein paar schlechte, teilweise vorgetragen von denselben Leuten, die Marx neuerdings so viel Wohlwollen entgegenbringen. Marx sei zu seinen beachtlichen Ergebnissen aufgrund einer falschen theoretischen Annahme gekommen und habe eine verstiegene politische Konsequenz daraus gezogen. Der theoretische Kardinalfehler sei seine Theorie vom Mehrwert. Auf diesen Holzweg sei er geraten, weil er der Irrlehre vom Arbeitswert anhing.

Die praktische Sünde habe darin bestanden, dass er partout auf eine Revolution hinaus wollte. Dieser Voluntarismus habe auch seine Theorie verzerrt. Ohne den Patzer müsse man „Das Kapital“ nicht als Beweis dafür lesen, dass der Kapitalismus unter bestimmten Umständen seinem Ende zusteuern könne, sondern als ein Lehrbuch darüber, wie er funktioniert.

Nur unter wohlwollendem Hinwegsehen über diese beiden Peinlichkeiten erfolgt die gegenwärtige offiziöse Kanonisierung von Marx. Es ergeht ihm damit wie Lenin, dem man auch im kapitalistischen Putin-Russland seinen Platz im Mausoleum am Roten Platz gönnt.

Es gibt noch eine andere Art der Einbalsamierung. Wenn man aus dem „Kapital“ von Karl Max nur überzeitliche logische Strukturen heraus kristallisiert, die aus ihrem historischen Kontext herausgelöst sind und aus denen dann auch politisch nichts folgen muss. Aber das ist eine innerlinke Debatte, und die lassen wir hier jetzt mal und wenden uns, wie es sich gehört, stattdessen wieder dem ideologischen Klassenkampf gegen den bürgerlichen Hauptfeind zu.

Ironischerweise sind gerade die beiden Werke, in denen die zwei schlimmen angeblichen Fehler begangen wurden, ins Weltkultur-Erbe aufgenommen worden: das „Manifest der Kommunistischen Partei“ (Revolution) und der erste Band des „Kapital“ (Mehrwert).

Wie steht es nun mit diesen Defekten?

Seit 1983 sind einige Arbeiten erschienen – von den Israelis Emmanuel Farjoun und Moshé Machover, dann u. a. den Schotten Paul Cockshott und Allin Cottrell sowie den Deutschen Nils Fröhlich und Fritz Helmedag –, die eine Rehabilitation der Arbeits- und Mehrwertlehre nahelegen. Zusammengefasst und eigenständig weitergeführt sowie begründet liest man das am besten nach bei Fröhlich: Die Aktualität der Arbeitswerttheorie. Theoretische und empirische Aspekte. Marburg 2009. Welche politischen Konsequenzen daraus zu ziehen wären, lässt er offen. Eine davon könnte sein: Keine.

Damit kommen wir zum zweiten Problem: der Sache mit der Revolution.

Dass in der heutigen Welt nicht alles zum Besten bestellt ist, wird allgemein eingeräumt, und die neuen falschen Freunde von Marx billigen ihm ja zu, dass er schon in seiner Zeit viel davon vorausgesehen habe. Selbst die räudigen Verteilungsverhältnisse ließen sich mit ihm recht gut erklären. Es müsse viel geändert = reformiert werden. Wenn das nicht gelinge, sehe es für die Zukunft düster aus. Und dann?

Wissen wir nicht. Marx und Engels waren Revolutionäre des 19. Jahrhunderts, die nur mit den Mitteln und aufgrund der Faktenlage eben dieses 19. Jahrhunderts handeln konnten.

Im 21., 22. oder wer weiß in welchem künftigen Jahrhundert wird aufgrund anderen Materials, aber vielleicht doch mit Hilfe derselben – wenngleich durch die veränderten Verhältnisse ziemlich umgekrempelten – Theorie agiert werden. Vielleicht gibt es dann auch keine Fremdwörter mehr und das Ding heißt nicht mehr Revolution, sondern Umwälzung oder etwas ganz Anderes auf Chinesisch, Arabisch oder Kisuaheli.

Zwei Verbindungslinien sind zur Zeit gekappt: vom Mehrwert zu den Übeln der Welt, von diesen zur Umwälzung. Vielleicht wächst aber noch einmal zusammen, was zusammengehört.

Wäre schön.