Sichten auf Revolutionen und Bewegungen

Titel Jahrbuch 2017

In der aktuellen deutschsprachigen Ausgabe des transform-Jahrbuches (2017), finden sich drei Beiträge, die sich aus unterschiedlichen Gesichtspunkten mit Fragen der Revolutionen 1917 und ihren Folgen auseinandersetzen.

Alexander Buzgalin, einer der prominentesten VertreterInnen der (kleinen) marxistischen Strömung in Russland, hebt in seinem Beitrag die Veränderungen hervor, in den vergangenen einhundert Jahren alle Seiten des Kapitalverhältnisses durchgemacht haben und skizziert davon ausgehend die Aufgaben der Linken. Er wählt dabei seinen Bezugspunkt in der politischen Ökonomie und geht von den Veränderungen der Warenproduktion und ihrer konstituierenden Momente aus:

„Vor 100 Jahren begann die Aushöhlung der Warenproduktion. Heute sind Markt und Konsumtion durch Unternehmen manipuliert. Keine Kartellgesetzgebung kann der Marktmacht der der größten Kapitale etwas anhaben. Der Markt stimuliert heute nicht vorrangig die Effektivität, sondern dient als Schirm des die Welt in die Sackgasse führenden Modells der Involution. Wir sind gefangen in einem Spinnennetz, in dem die Unternehmensspinnen uns manipulieren, nicht nur die Produktion und die Konsumtion ihren Interessen unterwerfen, sondern das ganze Leben des Menschen kommerzialisieren. Alles steht zum Verkauf: Kunst und Bildung, Gesundheit und Liebe, Natur und Staat. Der Markt wird total. Das ist eine Macht, die den Menschen stärker unterwirft als der stalinistische NKWD, und Verhaltensnormen schärfer diktiert als jede kommunistische Propaganda. An die Grenzen der zahlungsunfähigen Nachfrage in der materiellen Produktion und Konsumtion stoßend ist der Markt gezwungen, sich auch in die virtuelle Welt zu verlagern. Mehr und mehr werden uns nicht nur Waren und Dienstleistungen verkauft, sondern Symbole und Zeichen. Wir fallen in einen simulierten Markt und unterwerfen uns dem Rhythmus der Markenökonomie. Und das betrifft alle – vom armen asiatischen Arbeiter, der davon träumt, Markenware zu kaufen, bis hin zum Milliardär, der im Trend liegen muss.“

Er hebt die Rolle des Bündnisses zwischen des „Kreativen“ und den klassischen LohnarbeiterInnen und die Rolle der „öffentlichen Güter“ hervor:

„Das hebt die Aufgabe der breitesten Entwicklung der Sphäre der Produktion öffentlicher Güter auf einen der ersten Plätze im Kampf der Linken für soziale Befreiung. Diese wachsende Schicht steht ihrer ökonomischen Lage nach dem Industrieproletariat nahe und wird zu einem neuen potenziellen Subjekt des Kampfes für soziale Befreiung. Die materielle Grundlage dafür, der Inhalt ihrer Tätigkeit, ist allgemeine freie Arbeit. Reales Subjekt der sozialen Befreiung wird diese Schicht aber nur in dem Maße, in dem sie erstens Züge einer besonderen Klasse annimmt, der Klasse kreativer Arbeiter, die im gesellschaftlichen Sektor beschäftigt ist, und auf dieser Grundlage zweitens »Klasse für sich« wird und ihr politisches und ideologisches Gesicht findet.“

Dabei ginge es aber, so Buzgalin weiter, nicht mehr um ein Bündnis der ArbeiterInnenklasse mit einer deren Ideologie formierenden kleinen Schicht von Intellektuellen, sondern um die

„Einheit von zwei Klassen, die gleichermaßen an der sozialen Befreiung interessiert sind und die sich ihrer sozialökonomischen Lage in der Gesellschaft nach nahestehen und sich einander immer mehr annähern.“ Den Schlüssel sieht er in der „ Schaffung von offenen freien Assoziationen …, von Modellen der Selbstorganisation, die die Prinzipien der kommunistischen Partei (die praktische Beteiligung an der Arbeit der Organisation, die Einheit im Handeln, die bewusste Disziplin) und die moderne Netzwerkorganisation (Offenheit, Freiwilligkeit, nichthierarchische Beziehungen) in sich vereinigen.“

Ludmilla Bulavka, Kulturwissenschaftlerin aus Moskau, widmet ihren Beitrag der „Suche nach dem Subjekt von Geschichte und Kultur“ im Hier und Heute:

„Die Ereignisse der letzten Zeit zeigen, dass heute sowohl für den Westen, wie auch für die russische Gesellschaft nicht das Problem der Modernisierung immer wichtiger wird, dieser Zug ist lange abgefahren, sondern eine Revision der Grundlagen ihrer zukünftigen Entwicklung selbst erforderlich ist. Diese Grundlagen, die von der Bestätigung der Idee des Menschen als Subjekt sozialhistorischer und kultureller Entwicklung der Gesellschaft ausgehen müssten, wären eine linke Idee. Aber das ist nur möglich, wenn das schöpferische Individuum selbst die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert, in denen es lebt.“ Sie betrachtet das als eine große Herausforderung: „Vor fast 100 Jahren, im Jahre 1917, forderten die Bolschewiki am Ausgang des Ersten Weltkrieges mit ihrer sozialistischen Alternative den Weltimperialismus heraus. Im postsowjetischen Russland, im Jahre 1991, geschah das Gegenteil. Es wurde nicht nur der liberale Vektor, der Vektor des Rückschritts gewählt. Die Absage an die Suche nach einer Alternative sowohl zum neoliberalen Kapitalismus als auch zum sowjetischen Bürokratismus führte dazu, dass nach dem Fall der UdSSR die Entwicklung des russischen Systems in den Gleisen einer rückläufigen, reversiven Logik verlief. Diese rückläufige Bewegung führte auf der einen Seite zum Zerfall all dessen, was das Potenzial tatsächlicher Entwicklung hätte darstellen können, und auf der anderen Seite zu einer Stärkung alter (sowjetischer) Formen der Entfremdung sowie zur Entstehung einer schon neuen »mutantenkapitalistischen« Form der Entfremdung. Beispiele dafür begegnen uns ständig. Die Ideologen des russischen Liberalismus meinen, eine Alternative zum sowjetischen Bürokratismus kann nur der Markt sein; aber im Ergebnis der Marktreformen erhielten wir als Resultat einer Synthese der schlechtesten Züge des sowjetischen und des kapitalistischen Systems eine korrumpierte Bürokratie.“

Um unter diesen Bedingungen eine Ausbruch aus der Entfremdung zu erreichen , ist es erforderlich, erst einmal ein Nein zu formulieren:

„Eine Kulturpolitik der Linken muss davon ausgehen, dass die gegenwärtig herrschenden Spielregeln, die vom globalen Kapital bestimmt werden, nicht unsere Sache sind. Wir müssen und können entschieden nein sagen: Das betrifft erstens die totale Kommerzialisierung des menschlichen Lebens überhaupt und der Kultur im Speziellen; zweitens sagen wir nein zum privaten Menschen und seinem Alter Ego, dem Individualismus des Privateigentümers; drittens sagen wir nein zur Absage an Subjektivität und zur Verspießbürgerlichung des Menschen; viertens zur Eliminierung des Menschen als Persönlichkeit: fünftens zur Entfremdung des Menschen von Kultur und schöpferischer Tätigkeit.“

Zu den Grundlagen eines solchen Ausbruchs schreibt Bulavka:

„Kann es sein, dass der Nationalstaat hier Lösungen anbietet? Eine derartige Tendenz wird unter Konservativen immer populärer. Hier ist es wichtig, sich wiederum an positive Praktiken und Lehren der UdSSR zu erinnern. Das Prinzip des Universalismus war eine der wichtigsten Stützen der drei Eckpunkte der sowjetischen Erfahrungen: der Revolution, der Kultur und des Widerstehens gegenüber dem Faschismus. Genau aus diesen drei miteinander verbundenen Säulen des sowjetischen Erbes erwuchs die große Brüderlichkeit der Völker nicht nur unseres Landes, sondern, und das ist besonders wichtig, der Welt insgesamt. Und schließlich die wichtige Frage: Auf welcher Grundlage kann man die Beziehungen zwischen verschiedenen Völkern mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Gewohnheiten ordnen? Notwendig ist ein Dialog aller Seiten. Hier kann eine kritische Analyse der Vergangenheit viel für das Heute und Morgen bringen.“

Diese Analyse bezieht sie dann auf die Erfahrungen der Sowjetunion, vor allem in den 1920er Jahren. Ihr Fazit ist, dass man den Zustand überwinden muss, dass, nach den Worten Franz Kafkas, der Mensch sich selbst aus seiner Rolle als aktiver Gestalter der Welt verabschiedet habe.

Buzgalin und Bulavka gehören zu der Gruppe marxistischer Intellektueller, die die Zeitschrift „Alternativy“ herausgeben und sich in vielfältiger Weise für die Bewahrung und Aktualisierung der marxschen Positionen einsetzen. Mit Bezug auf die Revolutionen 1917 hat diese Gruppe auch einen mehr als eintausend Seiten umfassenden Sammelband unter dem Titel „Verschina velikoj revoljucii. K 100-letiju Oktjabrja“ (Der Höhepunkt der großen Revolution. Zum 100. Jahrestag des Oktober) veröffentlicht. Einige Beiträge aus diesem Band werden wir (meist in Auszügen) demnächst im Debatten-Teil von Marx200 in deutscher Übersetzung zugänglich machen.

Schließlich sei noch auf den Beitrag „The Left and the Labour Movement in Europe – What History? From the 19th to the 21st Century” von Serge Wolikow verwiesen. Er ist Professor am der Universität Burgund (Dijon) und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates der Gabriel-Peri-Stiftung, einem der Partner im transform-Netzwerk. Dieser Beitrag liegt nur in englischer Sprache vor.

Er zeichnet aus westeuropäischer Sicht ein Bild der widersprüchlichen Entwicklung der linken Bewegungen in den vergangenen einhundert Jahren. Schwerpunkt sind dabei die Prozesse in Frankreich – beginnend Ende des 19. Jahrhunderts, über die Erfahrungen der Volksfront des antifaschistischen Widerstandes bis hin zu den verschiedenen Phasen der Zeit seit 1945. Seine Schlussfolgerung ist der von Buzgalin und Bulavka ganz ähnlich:

„The situation of Europe’s left is inseparable from the mobilisation of the organised labour movement and the broader world of work. From this perspective there is certainly no possibility of a true rebound without this mobilisation, which presupposes new modes of alliance to be imagined and developed.”

Die deutschsprachige Ausgabe des transform-Jahrbuches erscheint im VSA Verlag.  Die Print-Fassung ist über den Buchhandel oder beim Verlag selbst zum Preis von 22,80 Euro zu beziehen.