Von allem anderen abgesehen, ist die sozialistische Erhebung in Russland vom Oktober 1917 eine ganz außerordentliche Geschichte. Sie ist der Höhepunkt all der umwälzenden Monate jenes Jahres, angefangen im Februar und fortschreitend mit dem vom Volk erreichten abrupten Sturz des Zaren Nikolaus II. und seines Regimes – eine Geschichte voller Intrigen, Verrat, Gewalt, Loyalitäten und viel Mut.
Aber weshalb dauert das Gefühl an, diese gigantischen Ereignisse lägen Epochen zurück und seien Welten entfernt? Seit 1989 und dem Untergang des Stalinismus hat die Mainstream-Kultur die Revolution zu Grabe getragen und ihre Beerdigung gefeiert – seitdem stehen sie im Gleichklang mit jenen erstarrten, despotischen Regimes, die ihre Wirklichkeit mit der Behauptung bemäntelten, sie repräsentierten etwas anderes als die Niederlage der Revolution. Sind diese gewaltigen Ereignisse heute nichts als unheilvolle Voraussagen? Oder etwas ganz Anderes? Hat die Revolution überhaupt noch irgendeine Bedeutung?
Sie hat sie. Denn die Dinge waren einmal anders. Warum könnten sie es nicht wieder sein? Konfrontiert mit der Frage nach ihrer Bedeutung kommt selbst in mir als einem, der von der russischen Revolution fasziniert und inspiriert ist, zuerst ein Zögern auf. Eine Stille. Doch ebenso wie Worte, so ist auch eine gewisse Wortlosigkeit Schlüssel zum Verständnis des Oktobers 1917.
In unserem Innersten mögen wir spüren, dass die Revolution Bedeutung hat, doch wortgewandt ihre ›Relevanz‹ angestrengt zu ›erklären‹, fühlt sich defensiv, belehrend, dogmatisch an. Eine impulsive Neigung, alles zu ›erklären‹, ist nicht nur ein Problem der Linken; doch sie ist besonders unangenehm, wenn sie von Radikalen kommt, die zumindest dem Prinzip nach darauf festgelegt sind, Geschichte gegen den Strich zu bürsten, Gegen-Narrative zu entwickeln, gängige Meinungen – auch die eigene – zu hinterfragen. (Ein heilsamer Effekt der letzten außergewöhnlichen politischen Tumulte – Corbyn, Sanders, Trump, die französischen Präsidentschaftswahlen und weitere, die folgen werden – war das Massensterben (carnage) politischer Gewissheiten und die Demütigung der Besserwisser. )
Putins russischer Staat weiß, dass die Revolution Bedeutung hat, was ihn in eine skurrile Position versetzt. Dem Kapitalismus verpflichtet (auch Gangster-Kapitalismus ist noch Kapitalismus), kann er sich kaum als Erbe eines Aufbegehrens gegen dieses System positionieren, doch zugleich macht es die offizielle Nostalgie der großrussischen Symbolpolitik (darin eingeschlossen das ausgelaufene stalinistische Modell), unmöglich, die Erinnerung mit einem Bann zu belegen. Die Revolution tendiert dazu, wie der Historiker Boris Kolonitsky es formuliert, »eine sehr unberechenbare Vergangenheit zu sein«.
Neulich, auf einer Reise nach St. Petersburg, fragte ich russische Freunde, wie die Regierung dies verhandeln würde, wenn sie es müsste. Würde sie dem 100. Jahrestag mit einer Feier oder einem Bann begegnen? »Sie werden sagen, dass es einen Kampf gab«, bekam ich zur Antwort, »und dass Russland gewonnen hat.«
Das ist eine weitere unter den vielen Tragödien der Revolution: dass ihre Bedeutung behauptet, ihre Substanz aber entleert wird. Eine Vision globaler Befreiung, hervorgebracht als ein Paar Trällertöne inmitten eines langen chauvinistischen Fanfarenstoßes.
Auf eine Weise ist unbestritten, dass 1917 Bedeutung hat. Schließlich handelt es sich hier um jüngste Geschichte, und es gibt keine Arena der modernen Welt, die von ihrem Schatten nicht berührt worden wäre. Nicht nur in den sozialdemokratischen Parteien, geprägt aus der Opposition zu revolutionären Ansätzen, und natürlich bei ihren Gegnern, sondern auch in den großen Linien der Geopolitik die vom Muster der weltweiten Bündnisse und Rivalitäten und der Staaten geprägt sind, gibt es die deutlichen Spuren der Revolution, ihrer Degenerierung und ihrer jahrzehntelangen Sackgassen.
Ebenso bleiben, weit entfernt von den rauhen Gegenden, wo die Staatskunst beheimatet ist, die russischen Avantgarde-Künstler Malewitsch, Popowa, Rodtschenko und andere untrennbar mit der Revolution verknüpft, die so viele von ihnen begeistert annahmen.
Ihr Einfluss verschließt sich allen Kalkülen. Der Kulturkritiker Owen Hatherley nennt den Konstruktivismus »die vielleicht intensivste und kreativste künstlerische und architektonische Bewegung des 20. Jahrhunderts«, die »Abstraktion, Pop Art, Op Art, Minimalismus, den abstrakten Expressionismus, den graphischen Stil des Punk und Post-Punk … Brutalismus, Postmodernismus, Hi-tech und Dekonstruktivismus« beeinflusst oder vorweggenommen habe. Wir können ihre Einflüsse in Kino und Soziologie, Theater und Theologie, Realpolitik und Mode verfolgen. Somit kommt ihr natürlich Bedeutung zu. Ganz wie Lenin wohl gesagt oder nicht gesagt hat: »Alles ist mit allem verbunden.«
Doch auch hier kommt wieder das Zögern auf, eine Idee dass dieser Zugang, in all seiner Lebendigkeit, sich eher im Kreis dreht, statt die Grundfrage zu stellen. Fragen wir also anders: Warum werden Menschen in dieser Diskussion zornig?
Es ist ein Gemeinplatz geworden, einzuräumen, dass Geschichte zählebiger ist als Francis Fukuyama nahelegt hat. Schließlich leben wir auch nur in der Post-Thatcher-Ära des TINA (there is no alternative, es gibt keine Alternative), in welcher bis auf einen verschwindend kleinen Raum zum Spielen und Basteln Grundfragen nicht angekratzt werden.
Ein System auch nur zur Diskussion zu stellen, das auf etwas anderem beruht als Profit und auf Graswurzelkontrolle, provoziert Augenrollen, trotz der immer sadistischeren Entfaltung der Austerität. Es ist also genau diese Vision einer Alternative, und noch dazu einer, die in ihren Anfängen die Unverfrorenheit besaß, erfolgreich zu sein, das Unangreifbare zu Fall zu bringen, durch die der Oktober Bedeutung hat. Deshalb gibt es auf allen Seiten Zorn statt bloßer Wut oder Belustigung. Denn was auf dem Spiel steht, ist nicht die Interpretation der Geschichte, sondern der Gegenwart. Die Frage danach, ob diese so sein musste und muss.
Was von den meisten geteilt wird, die in Opposition gegen alles Mögliche stehen, dabei aber 1917 betrauern, ist die Überzeugung, dass die späteren Auswüchse des Stalinismus ein unvermeidliches Ergebnis der Revolution waren. So kann sicherlich argumentiert werden: Doch zumeist wird dies als mehr oder weniger offensichtlich angenommen. Nicht dass es dabei irgendeine Annäherung an eine monolithische anti- oder prorevolutionäre Perspektive gäbe, die Sozialist*innen verschiedener Provenienz, Liberale, Konservative, Faschist*innen und andere einschlösse.
Manche mögen gar annehmen, die Bolschewiki seien fehlgeleitet gewesen und tragische und nicht einfach verruchte und machthungrige Personen gewesen. Es gibt sicherlich eine Sogwirkung hin zu einer kruden Erzählung über Moral. Jemand kann beispielsweise den Schlüssen des Historikers Orlando Figes widersprechen, ohne die Ernsthaftigkeit seiner Forschung in Frage zu stellen, doch seine Behauptung in »Russland. Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924 (1996) «, dass »Hass und Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leiden – zu verschiedenen Anteilen – tief verwurzelt in den Gemütern aller bolschwistischen Führer waren“, ist schlicht absurd (und seine von Missbilligung geprägte Faszination ihre Lederjacken betreffend sonderbar). Andererseits gibt es auch ein paar wahre Gläubige wie die winzige und groteske Stalin-Gesellschaft. Doch für jene, die in der Revolution Grund zur Feier finden, besteht in der Hauptsache die Frage darin, an welchem Datum wir mit der Trauerzeremonie beginnen. Wenn eine emanzipatorische Tradition gebrochen wurde, wann war der Bruch? 1921? 1924? 1928? 1930? Welche Kombination von Faktoren steht hinter der Degenerierung? Das Massaker des Bürgerkriegs? Interventionen der Alliierten, eingeschlossen die Enthusiastischen auf der Seite der antisemitischen Pogromisten? Das Scheitern von Revolutionen in Europa?
Das Verbindende ist ein Gefühl von Umbruch, von Einschnitt und Verlust, wo der Liberalismus und die Rechte Unausweichlichkeit sehen. »Es heißt oft, ›der Keim allen Stalinismus lag von Beginn an im Bolschewismus‹«, schrieb der dissidente Bolschewik Victor Serge 1939. »Nun, ich habe keine Einwände. Lediglich diesen, dass der Bolschewismus auch viele andere Keime enthielt, eine Masse anderer Keime, und jene, die den Enthusiasmus der ersten Jahre dieser ersten siegreichen sozialistischen Revolution mit durchlebt haben, sollten das nicht vergessen. Den lebenden Menschen nach den Todeskeimen zu beurteilen, welche die Autopsie aus seinem toten Körper zu Tage bringt – und die er vielleicht seit dem Tag seiner Geburt in sich getragen hat – ist das besonders sensibel?«
Dieses exzellente Zitat ist zu so etwas wie einem Klischee des antistalinistischen Sozialismus geworden. Was seinen Enthusiasten manchmal entgeht, ist dass Serge den Bolschewismus davon reinwäscht, unausweichlich zum Stalinismus geführt zu haben, aber nicht von jeglicher Verantwortung. Jede Bewegung, die sich der Hagiographie enthält, die sich kritisch mit ihren Traditionen auseinandersetzt, ist vital und sich ihrer selbst sicher. Dies bedeutet nicht nur Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg und der erzwungenen Isolation des Regimes, der Hungersnot und dem industriellen, landwirtschaftlichen und sozialen Kollaps, sondern auch mit der politischen Degeneration unter den Bolschewiki in den prekären Monaten und Jahren nach der Machtergreifung.
Welche Lektionen und welche Inspiration die Revolution auch immer eröffnen mag – manchmal ist eine recht närrische Maskerade zu beobachten in der Ablehnung, all dies unerschrocken zu prüfen, sowie in dem Wunsch, Lenins Partei von 1917 als Modell für die heutige Zeit zu begreifen. In den Diskussionen einiger radikaler Gruppen lässt sich gar der Einfluss des exzentrischen Tonfalls und Vokabulars jahrhundertealter sozialistischer Literatur ausmachen. Derlei bedeutet nicht, der Revolution zu viel Bedeutung zuzusprechen, sondern Bedeutung aus den falschen Gründen. Es braucht keine solche Verteidigung oder schwanzwedelnde Neuinszenierung: Darin liegt keine getreue Wiedergabe. Was auch immer die besonderen Bedingungen in Russland 1917 waren: Der Widerhall der Revolution im Heute begründet sich nicht nur aus analytischen Einsichten, sondern aus dem Horizont, den sie bietet, aus dem schlichten, trivialen als auch folgenschweren Faktum, dass es wieder so sein könnte, wenn die Zeit danach wäre. Dies ist die Verbindung zu heutigen Erniedrigungen, zu heutiger Gewalt, Ungleichheit und Unterdrückung, und zu dem, was sie mit sich bringen, so wie sie es unter sehr anderen Umständen ein Jahrhundert zuvor getan haben: ein schmerzliches Herbeisehnen einer radikalen Umgestaltung.
Um nun zurückzukommen auf unsere Frage: Warum hat die Revolution Bedeutung? Wegen dessen, was richtig daran war, und wegen dessen, was schiefging. Ihre Bedeutung liegt darin, die Notwendigkeit von Hoffnung, von angemessenem Pessimismus, die Wechselbeziehung zwischen beiden zu zeigen. Ohne Hoffnung, dieser tausendjährigen Kraft, gibt es keinen Antrieb, eine hässliche Welt zu überwinden. Ohne Pessimismus, der freimütigen Evaluation der Schwierigkeitsgrade, können Notwendigkeiten allzu leicht in Tugenden umgeformt werden.
So geschah es 1924 mit der Übernahme von Stalins Theorie des »Sozialismus in einem Land« durch die Partei nach Lenins Tod. Sie brachte den langwährenden Internationalismus zu Fall, die Gewissheit, dass die Russische Revolution in Isolation nicht würde überleben können. Das Scheitern der europäischen Revolutionen provozierte dies – es war eine aus der Verzweiflung geborene Veränderung. Doch einen autarken Sozialismus zu verkünden und letztlich anzupreisen, war eine Katastrophe. Ein nüchterner Pessimismus wäre weniger schädlich gewesen als diese verzweifelte Hoffnung.
Die Revolution ist auch deswegen bedeutsam, weil sie buchstäblich ein Jahrtausendereignis war. Ihre Gegner beschuldigen im Allgemeinen den Sozialismus, eine Religion zu sein. Diese Behauptung ist freilich heuchlerisch: Antikommunismus ist ebenso oft durchzogen von der kultischen Inbrunst des Exorzisten. Und was noch erheblicher ist, es ist keine Schwäche, dass die Partisanen von 1917 von einem utopischen Drang getrieben waren, vom Hunger nach einer besseren und neuen Welt und danach, zu denen zu werden, die imstande sind, jene Welt zu bewohnen.
All diese Gründe sind angemessen und von kritischer Bedeutung. Und alle miteinander bleiben sie unzureichend. Es gibt immer noch diesen eisigen Moment, diese Empfindung eines unsagbaren Exzesses. Wieder und wieder versagen Worte angesichts der Aspirationen der Revolution, ihren apokalyptischen Umständen, ihren Fehlern und Erfolgen, Sie versagen in den fast religiösen Briefen, die Soldaten an die Presse sandten, als das Jahr sich hinschleppte, voller Verzweiflung dass ihre Februarrevolution eine Apokalypse ohne Erneuerung war. Sie versagen in den mehrdeutigen Flugblättern der Bolschewiki vom Juli 1917, als sie versuchten, die Unruhe auf der Straße einzudämmen. Sie versagen auf spektakuläre Weise in dem Augenblick, da die Partei begreift, dass ihr Appell, nicht auf den Straßen zu demonstrieren, für den sie schon die Zeitungen vorbereitet hatten, weithin ignoriert werden wird. So wurden die Zeilen einfach herausgeschnitten, und die Prawda erschien am 4. Juli, um Peinlichkeit zu vermeiden, mit einer weißen Leerstelle mitten auf der ersten Seite.
Dies war nicht die erste gedruckte Stille in der russischen Linken. Fast 60 Jahre vor der Revolution veröffentlichte der radikale Autor Nikolai Tschernyschewski Was tun?, eine lange politische Novelle mit enormer Wirkung auf die sozialistische Bewegung, insbesondere auf Lenin, der 1902 seine eigene wegweisende Schrift nach dem Buch benannte. Tschernyschewskis Beschreibung der Scharnierstelle, eines Drehpunktes von der Geschichte zu künftiger Möglichkeit, beinhaltet in ihrer Gesamtheit zwei Reihen von Punkten. Aufgeklärte Leser*innen verstanden, dass es die Revolution war, die sich hinter der verlängerten Ellipse befand. Tschernyschewski umging also den Zensor, doch in diesem Nichtschreiben durch den atheistischen Sohn eines Priesters liegt etwas Religiöses, Eschatologisches. Apophatische Theologie ist, was fokussiert auf das, was nicht über Gott gesagt werden kann. Das ist ein apophatischer Revolutionismus, der ohne Scham über Worte hinausgeht.
In Russland, so schrieb Virginia Woolf in Orlando, »werden Sätze oft unvollendet gelassen, aus Zweifel darüber, wie sie am besten beendet werden können.« Gewiss ist dies ein literarischer Schnörkel, ein verbreiteter und unhaltbar romantisierter russischer Essentialismus. Doch selbst wenn, so wirkt die Formulierung prophetisch für eben diese russische Geschichte. Tschernyschewskis Punkte beschreiben die Revolution selbst. Die leere Stelle in der Prawda enthält Taktik. Unsagbarkeiten sind keineswegs alles in dieser seltsamen Geschichte, aber sie haben darin einen zentralen Ort.
Sie sind entscheidend dafür, warum alle dies bedeutsam ist. Denn das, was wir nicht aussprechen können, erleben wir vielleicht stattdessen. Deshalb kommt mit dem Zögern zu antworten auch eine Sehnsucht danach, nicht zu sagen, aber zu tun und zu sein, nicht zu kämpfen und darin zu scheitern, einen Oktober zu erklären oder auszusprechen, sondern Teil eines solchen zu sein.
Dieser Beitrag erschien am 6.Mai 2017 im Guardian. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch. In deutscher Sprache veröffentlicht auf der RLS-Seite LuXemburg online.