»Wir stehen erst am Anfang«

Foto: OpenClipart Vectors / Pixabay

Als Gustav Groß 1885 seine 82-seitige Studie »Karl Marx« vorstellte, lag der Abschied vom Alten aus Trier gerade einmal zwei Jahre zurück. Der österreichische Industriellensohn und Politiker Groß wurde zum ersten Marx-Biografen, weil er meinte, »dass trotz des großen Rufes, welchen Marx als Gelehrter und Arbeiterführer erworben hat, doch nicht bloß im großen Publikum, sondern auch vielfach in den Reihen von Fachgenossen sehr ungenaue Anschauungen über seine wissenschaftliche Bedeutung und die von ihm verfolgten Ziele verbreitet sind«.

Dem Nationalökonom Groß ging es nach eigener Auskunft darum, »zur Klärung der Ansichten über Marx beizutragen« - Groß tat dies in einer Mischung aus Lebensbericht und Werkerläuterung, seine Anerkennung für Marx dabei kaum versteckend. Das »Manifest« nennt er ein »Meisterstück agitatorischer Geschicklichkeit«, sich selbst erwartet Groß für sein »Schriftchen« nicht mehr als, »diese und andere Perlen in den Schriften Marx’ aus der unverdienten theilweisen Vergessenheit zu ziehen«. Doch, auch das schreibt der Österreicher, habe es keineswegs in seiner Absicht gelegen, »eine abschließende Biografie zu liefern«.

Nonsens von A bis Z

Was aber wäre das eigentlich: »eine abschließende Biografie«? Über Marx sind ungezählte Bücher geschrieben worden, seine Vita und ihr Verhältnis zum Werk sind Gegenstand von Dutzenden Veröffentlichungen - angefangen von John Spargo 1912 über die biografisch angelegten, multiplikatorisch motivierten Bücher von Klara Zetkin, Franz Mehring und Otto Rühle bis zu den neueren Bekanntheiten unter den Marx-Biografien, etwa jener von Francis Wheen und Gareth Stedman Jones. Nicht zu vergessen Fritz J. Raddatz’ »Politische Biografie«, über die Wolfgang Harich urteilte: »Nonsens von A bis Z«, oder die biografischen Forschungen von Heinrich Gemkow in der DDR.

Nun also noch eine Marx-Biografie. Hier ist nicht die Rede von einer populären Massenware wie Jürgen Neffes »Der Unvollendete«, pünktlich zum Jubiläumsreigen 150 Jahre »Das Kapital« und 200 Jahre Karl Marx vom Bertelsmann-Verlag ins Rennen geschickt. Sondern etwas, was vielleicht am ehesten an den Begriff »eine abschließende Biografie« heranreichen könnte: Michael Heinrichs Mammutvorhaben einer auf drei Bände angelegten Biografie, die Marx auf der Bühne der »Geburt der modernen Gesellschaft« in den Blick nehmen soll. 

Zusammenhang von Leben und Werkentwicklung

Der erste Band soll 2018 im Schmetterling-Verlag erscheinen, die Bände zwei und drei sind für die Jahre 2020 und 2022 geplant. Heinrich, dessen Einführungen in die Kritik der Politischen Ökonomie ebenso bekannt sind wie seine Beiträge zu den Debatten über die Werttheorie oder die Kritik am Weltanschauungsmarxismus, will den »Zusammenhang von Leben und Werkentwicklung« untersuchen.

Seine Kernthese, das verrät ein jetzt gestarteter Blog zum Buch-Projekt, sieht die Entwicklung des Marx’schen Werks als »eine Folge von Anfängen, Abbrüchen und Neuanfängen unter veränderten Bedingungen. Sie lässt sich nur in ihrer Wechselwirkung mit dem Lebensweg von Marx und vor dem Hintergrund der Debatten und Konflikte seiner Zeit verstehen«.

Heinrich will das Feld der Marx-Biografien noch einmal neu, von vorn aufrollen

Das klingt zunächst banal, weil eine Befassung mit dem Werk von Marx, die sich nicht für den zeitgenössischen Hintergrund interessierte, ebenso sinnlos wäre wie eine Biografie, welche die Textproduktion von Marx als abgekoppelten Teil, als Paralleluniversum der Schreibstube missverstehen würde. Aber genau hier setzt Heinrich an: Natürlich weiß er, dass jede Biographie für sich beansprucht, Marx »in seiner Zeit« zu betrachten. Doch das sei, so der Autor, »bisher nur sehr unzureichend und punktuell« geschehen. Man könnte es so formulieren: Heinrich will das Feld der Marx-Biografien noch einmal neu, von vorn aufrollen.

Als er einmal nach einer Empfehlung gefragt wurde, habe er »eine eindeutig beste Biografie« nicht nennen können, verrät Heinrich in dem Blog. »Und umso mehr ich nach einer suchte, umso mehr musste ich feststellen, dass die vorliegenden Biografien recht unbefriedigend waren.« Das ist noch zurückhaltend formuliert, Heinrich weiter: »Es gibt nicht nur eine Vielzahl sachlicher Fehler, häufig wird das Material so ausgewählt, dass damit ein bereits vorhandenes Marx-Bild gestützt wird«.

So wird ein doppelter Ansatz erkennbar, einer, dem es um empirische Aktualisierung geht, um die Überwindung von Fehlern, die durch Kolportage in die Nähe gefühlter Wahrheiten gerückt wurden. Und zum anderen um einen tiefer gehenden Blick auf die Leben-Werk-Verbindung: Warum befasste sich Marx zu welcher Zeit mit welchen Fragestellungen und wie wirkte dies auf die Umstände der Ideenproduktion zurück? Immerhin hatte der Mann nicht nur Geldsorgen, war Flüchtling, konnte ein ans Manische gereichendes Interesse an diversen Wissenschaften zeigen, war zugleich Politiker und Kritiker, Journalist und prekärer Publizist.

Heinrich findet so etwas wie Vorbilder in den Marx-Biografien von Auguste Cornu und teils auch von David McLellan. Bücher, die mehrere Jahrzehnte alt sind und also den Forschungsstand was Manuskripte und biografische Erkenntnisse angeht keineswegs mehr widerspiegeln.

 Fallstricke biographischen Schreibens

Heinrich hat sich auch der Mühe unterzogen, erst einmal das Feld seiner eigenen Arbeit durchzuackern - was sind eigentlich die Grenzen und Erkenntnismöglichkeiten von Biografien? Rückt man den Einzelnen so nicht gerade aus seinem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang heraus, wenn man ihn auf der Vorderbühne ins Rampenlicht stellt? Heinrich hat hierzu einen speziellen Anhang in Aussicht gestellt, der sich mit den Fallstricken und Potenzialen des »biographischen Schreibens« befasst.

In dem Blog, der nun die Herausgabe der drei Bände begleitet, hat Michael Heinrich in einem ausführlichen Interview seine Motive für das Vorhaben erläutert. Ein Exposé fasst kurz das Ziel zusammen, kleinere Meldungen das publizistische Projekt betreffend finden sich dort ebenso wie eine kurze Geschichte darüber, wie es zum »Heinrich« in Karl Marxens Namen kam.

Noch ein Wort zum Begriff der »abschließenden Biografie«. Solange die Forschung über Marx Neuigkeiten hervorbringt, wird es eine solche natürlich nicht geben können und sollen. Seit Gustav Groß’ erster Marx-Studie sind rund 30 umfangreiche Biografien erschienen - und das stellt die Frage in den Raum, wie viel Neues eigentlich überhaupt noch gesagt werden kann?

Die MEGA, an der Heinrich mitgewirkt hat, habe gezeigt, »dass die schon lange bekannten Schriften von Marx und Engels eigentlich nur die Spitze eines riesigen Eisberges sind, dessen Umfang und Struktur wir erst so langsam erkennen«. Oder anders formuliert: Eigentlich ist immer ein neuer Beginn. 132 Jahre nach Gustav Groß sagt Michael Heinrich: »Wir stehen erst am Anfang der Debatten und ich hoffe, mit meiner Marx-Biografie auch eine Art Wegweiser durch diese vielen neuen oder auch neu beurteilten Texte zu liefern.«