Sowjetmacht, Parteiherrschaft, bürgerliche Demokratie?

Rat der Volkskommissare 1918
Rat der Volkskommissare 1918 Foto: See page for author [Public domain], via Wikimedia Commons Public Domain

Rosa Luxemburg wählt für die Beschreibung der Situation Ende 1917 das Bild des „Brachlandes“, in das sich nun die Revolutionäre, die ganze Gesellschaft begeben würden. (Luxemburg 1974, 338) Für das Schicksal und die Perspektiven der Revolution stellt sie insbesondere die Themen Krieg/Frieden, die Bodenfrage, die nationale und die Frage der Demokratie in den Mittelpunkt.

Die Beantwortung der damit verbundenen Fragen war Voraussetzung für die Stabilisierung der in Krieg und Revolution weitgehend zerfallenen Gesellschaft und die Durchsetzung elementarer Normen menschlichen Zusammenlebens.

Die in schneller Folge durch den Rat der Volkskommissare erlassenen Dekrete formulierten auf den hier angesprochenen Feldern hohe Ansprüche. Allerdings bedeutete diese Deklaration des „Andersseins“ noch lange keine andere Realität. Die Ergebnisse der Oktoberrevolution waren nämlich gar nicht so eindeutig. Sie waren Ausdruck sehr unterschiedlicher, oft gar nicht miteinander zusammenhängender oder auch gegensätzlicher Erwartungen. Auch war völlig offen, welche Dynamik und welche Richtung die nun ausgelösten Prozesse haben würden.

Über diese Offenheit der Situation wird in vielen Publikationen und Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem Revolutionsjubiläum schnell hinweggegangen. Im linken Spektrum dominiert häufig die leninsche Interpretation der Prozesse, im rechten Spektrum werden meist die Potentiale der bürgerlichen Demokratie überhöht. Beide Sichtweisen operieren in der einen oder anderen Hinsicht mit extremen Vereinfachungen. Die betrifft auch die Konstituierende Versammlung und ihre Geschichte. Auf der einen Seite wird sie als Hort der Konterrevolution präsentiert, auf der anderen Seite als Ausdruck lebendiger Demokratie.

Neue Konstellationen

Um die Rolle der Konstituierenden Versammlung zu verstehen, muss man sich die realen Verhältnisse um die Jahreswende 1917/1918 vor Augen halten. Die seit Oktober 1917 entstandene Staatlichkeit war nicht weniger kompliziert und instabil als die des Jahres 1917. Die alten Beamten sabotierten die Arbeit des neuen Apparates, die bewaffnete Konterrevolution begann sich zu formieren, verübte Terrorakte und bedrohte unter Kornilow und Kaledin vom Don her die Sowjetmacht. Am 14. Januar 1918 kam es zu einem Attentat auf Lenin, bei dem er unverletzt blieb. (vgl. zum beginnenden Weißen Terror Rat’kovskij, Il’ja 2017) Die Lage an den Weltkriegsfronten war katastrophal. Der Rat der Volkskommissare war durch den II. Sowjetkongress zwar bestätigt, aber in erster Linie nur durch den gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung legitimiert, die Volkskommissariate (Ministerien) waren gerade im Entstehen. Im Lande nahmen die örtlichen bzw. regionalen Sowjets, die ebenfalls vor allem durch die Aktion der revolutionären Soldaten, Bauern und Arbeiter legitimiert waren, staatliche Funktionen wahr, genauer, sie waren zu diesem Zeitpunkt die Sowjetmacht. Sie pflegten nur lockere Beziehungen zur Zentralgewalt und ignorierten meist die dort erlassenen Dekrete, wenn sie nicht ihren Interessen oder den Gegebenheiten entsprachen. (vgl. z.B. Smith 2002 (e-book), Pos. 750) Am 28. Dezember 1917 war der Oberste Volkswirtschaftsrat gegründet worden. Er hatte die Volkswirtschaft und die Staatsfinanzen zu organisieren, besaß dafür allerdings keine realen Machtmittel. (vgl. Schützler/Striegnitz 1987) Daneben waren die sich auflösende Armee und die Roten Garden der Arbeiter (gebunden an die Sowjets bzw. an die bolschewistische Partei) entscheidende Machtfaktoren. Am 20. Dezember 1917 wurde die Tscheka gegründet, die Gesamtrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage – wahrscheinlich das einzige wirklich straff organisierte und arbeitsfähige, aber eben auch lediglich aus der neuen Administration heraus legitimierte Organ der neuen Zentralregierung. Die Staatlichkeit, soweit existent, war also ungebunden und durch die Macht der Gewehre gestützt, das politische und soziale Leben spielte sich in einem weitgehend rechtsfreien Raum ab, bestimmt durch das revolutionäre Empfinden der WaffenträgerInnen. Sie war regional und national fragmentiert. Der Sowjetkongress als zentrales Organ brachte in erster Linie den Willen einiger Schichten der Gesellschaft zum Ausdruck und konnte so nur bedingt integrierend wirken. Die von Lenin und anderen Bolschewiki immer wieder bemühte Formulierung, dass die Massen hinter ihnen stünden, war angesichts dieser Bedingungen nicht ganz falsch, aber damit noch lange nicht richtig. Es war eine konditionierte Zustimmung, sie hing von der Realisierung konkreter Forderungen ab und war damit nicht stabil. Dessen waren sich die Bolschewiki offensichtlich auch bewusst, denn sie holten zur Eröffnung der Konstituierenden Versammlung starke zuverlässige Truppen nach Petrograd.

Hinzu kam nun die Konstituierende Versammlung. Mit ihr war seit dem Frühjahr des Jahres 1917 die Hoffnung verbunden, sie würde sich zu einem Organ entwickeln, das das gespaltene Land auf demokratischer Grundlage wieder zusammenführen und vor allem Frieden bringen könnte. Die Wahlen und die ersten Gesetzesprojekte wurden noch unter der Provisorischen Regierung vorbereitet. Es sollten allgemeine, direkte, geheime Wahlen nach dem Proportionalprinzip sein. Mit Ausnahme einiger genau bestimmter Fälle waren alle Bürgerinnen und Bürger ab dem 20. Lebensjahr wahlberechtigt. (vgl. Novickaja 1991a, 13–16) Im Sommer stellten die verschiedenen Parteien ihre Listen auf. Die Wahlen wurden für den 25. November 1917 festgesetzt. Am 11. Dezember sollte die Konstituierende Versammlung erstmals zusammenkommen. Daran änderte sich auch nach der Oktoberrevolution nichts. Der Rat der Volkskommissare hatte am 9. November, also unmittelbar nach dem Umsturz, erklärt, dass die Wahlen wie vorgesehen stattfinden würden. Auch der Termin des Zusammentretens wurde bestätigt, allerdings dann verschoben.

Große Erwartungen und neue Konflikte

Auf der Konstituierenden Versammlung ruhten hohe Erwartungen, hatten sich doch Millionen Menschen an der Abstimmung beteiligt. Sie war, im Unterschied zu den Sowjets, nach einheitlichen Regeln, aus einem gemeinsamen Akt der Massen entstanden. Dabei blieben die Bolschewiki und linken SozialistInnen-RevolutionärInnen, die Träger der Oktoberrevolution, in der Minderheit.

Wahlergebnisse

nach https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_konstituierende_Versammlung, eine differenzierte Analyse unternimmt Lenin 1919 (Lenin, W.I. 1974)

Es dürfte fraglos richtig sein, dass die Zusammensetzung der Versammlung nicht mehr den Willen der Mehrheiten widerspiegelte. Seit der Aufstellung der KandidatInnenlisten im Sommer 1917 hatten sich Verhältnisse und Menschen geändert. In der Oktoberrevolution und der Akzeptanz ihrer Entscheidungen bezüglich der Bodenfrage, für Frieden usw. kam eine massenhafte Ablehnung des Kurses der Kadetten, der Menschewiki und der rechten Sozialisten-Revolutionäre zum Ausdruck, die die Realisierung dieser Forderungen immer wieder hinausgeschoben hatten. Allerdings waren diese Veränderungen in vielen Regionen Russlands noch gar nicht sichtbar geworden, viele Politiker und Parteien wurden noch aus der Perspektive der Ereignisse Februar/März 1917 wahrgenommen, ihre spätere Entwicklung zum Herbst hin war vielen kaum bekannt. Die Listen der größten Partei, der Sozialisten-Revolutionäre, wurden von Rechten dominiert, während die linken SozialistInnen-RevolutionärInnen als Teil des revolutionären Flügels in einer deutlichen Minderheit blieben.

Die Bolschewiki konnten sich angesichts des Rufes der Konstituierenden Versammlung als Verwirklichung der demokratischen Ideen des Februar keinesfalls sicher sein, wie deren Entscheidungen in der Öffentlichkeit aufgenommen werden würden. Würden sich die Sowjets ihr, wie schon mehrfach im Jahre 1917 der Provisorischen Regierung, unterwerfen?

Die Bolschewiki versuchten, den in der Konstituierenden Versammlung manifesten Widerspruch zwischen der in der Praxis erfolgten Anerkennung der Macht der Sowjets durch die Massen und der gleichzeitig vorhandenen Erwartung, dass die Hoffnungen auf Frieden, Land, Demokratie usw. auf breitester Basis (also über die Bolschewiki hinaus) durch die die Konstituierende Versammlung dominierenden Exponenten des „alten Regimes“ verwirklicht werden würden, auf verschiedenen Wegen, vornehmlich repressiver Natur, zu lösen. In der Zeit zwischen Wahl und erster (einziger) Tagung am 18./19. Januar wurden nicht wenige Abgeordnete mindestens zeitweise verhaftet und die Partei der Kadetten wegen ihrer Verbindungen zu konterrevolutionären Kräften politisch weitgehend ausgeschaltet. Am 4. Dezember veröffentlichte das Exekutivkomitee der Sowjets auf Initiative Lenins ein Dekret, in dem den WählerInnen die Möglichkeit eröffnet wurde, Personen, die zwar gewählt, aber in Würdigung der Ereignisse der letzten Monate nicht mehr ihr Vertrauen genießen würden, abzuberufen. (vgl. Lenin, W.I. 1961) Tatsächlich sollen mehrere Abgeordnete abgewählt worden sein. Zudem wurde durch den Eintritt von linken SozialistInnen-RevolutionärInnen in den Rat der Volkskommissare, der faktischen Regierung, am 23. Dezember dessen politische Basis erweitert.

Unter den Bolschewiki und ihren Verbündeten standen sich zwei Tendenzen bezüglich des Umgangs mit der Konstituierenden Versammlung gegenüber. Die eine, repräsentiert von Lenin, wollte sie so schnell wie möglich ausschalten, die andere, repräsentiert von Kamenev und den SozialistInnen-RevolutionärInnen, gestanden ihr ein wenigstens zeitweiliges Existenzrecht zu. Obwohl er sich über den eher konterrevolutionären Charakter der Parlamentsmehrheit keine Illusionen machte, forderte Justizminister Isaak Šteinberg, ein linker Sozialist-Revolutionär, wegen der hohen symbolischen Bedeutung einen fairen Umgang mit dem Gremium. Er wollte den Massen an Hand des Verhaltens der Parlamentsmehrheit gegenüber ihren Forderungen zeigen, dass diese Konstituante nicht die ihre sei; sie sollte sich selbst diskreditieren. (Šteinberg 1929, 31f.)

Am 18. Januar 1918, dem Tag der Eröffnung der Konstituierenden Versammlung, kam es in Petrograd zu Demonstrationen zu ihrer Unterstützung. Die Masse der TeilnehmerInnen kam aus dem kleinbürgerlichen Milieu, aber auch ArbeiterInnen, die durchaus bolschewistische Positionen vertraten, waren dabei. Die Bolschewiki wollten die Demonstrationen verhindern und setzten Truppen und Rote Garden ein. Bei den Zusammenstößen starben etwa 21 Demonstrationsteilnehmer.

„Die überlieferten Schilderungen der Schießereien […] sind zwar ungenau, widersprüchlich, unvollständig und nicht zu verifizieren, aber doch so zahlreich, dass sie in ihrer Gesamtheit viele typische Merkmale der Angriffe auf die Demonstrationen … widerspiegeln. Erstens scheint die Zahl der Demonstranten weitaus höher gewesen zu sein als Zehntausend, wie die Sowjetbehörden schätzten, jedoch auch deutlich niedriger als Hunderttausend, wie der Bund zur Verteidigung der Konstituierenden Versammlung angab. Zweitens hatten die Fabrikarbeiter und Soldaten die Demonstration nicht völlig boykottiert ... Sie stellten aber eine verhältnismäßig kleine Minderheit der Teilnehmer dar. Drittens waren die Organisatoren und Teilnehmer zwar sichtlich nicht gewillt, dem Demonstrationsverbot in der Nähe des Taurischen Palais Folge zu leisten, aber es läßt sich nicht nachweisen, dass sie Waffen bei sich trugen oder ein bedrohliches Verhalten zeigten.“ (Rabinowitch 2010, 149f.)

Versuch der Revision der Rätemacht

Der Verlauf der Sitzung der Konstituierenden Versammlung bestätigte die Vermutung Šteinbergs, dass sie sich in den Augen der Massen diskreditieren würde. Die Mehrheit der Abgeordneten lehnte die von Swerdlow als Vertreter des Exekutivkomitees der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten erhobene Forderung nach Anerkennung aller Dekrete und Handlungen im Zuge der Oktoberrevolution, vorgetragen in Form einer Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes (vgl. Lenin, W.I. 1961), ab. Das mag prozedural nachvollziehbar und die in diesen Forderungen enthaltene faktische Selbstauflösung nach der geforderten Bestätigung des Handelns der bestehenden Sowjetmacht mag ebenso provokant gewesen sein (zudem aus Sicht der WählerInnen wahrscheinlich auch unverständlich). Dem Wesen der Sache nach lief die Ablehnung der Forderungen Swerdlows aber auf das Unterlaufen der Ergebnisse des Umsturzes vom 7. November 1917 und ihrer Anerkennung durch den II. Sowjetkongress hinaus. Es ging letztlich um einen Angriff auf die Sowjets als eigenständige Machtorgane und ihre Unterordnung unter die Konstituierende Versammlung. Diese Position entsprach einfach nicht mehr der Wirklichkeit. Wie in den Monaten zuvor hatte die Mehrheit der Abgeordneten kein Gespür für die Ursachen des Machtgewinns der Bolschewiki und interpretierte ihn rein als Ergebnis ideologischer Manipulation. Die Arbeiter müssten nur „verstehen“, dass nicht die Bolschewiki, sondern z.B. die Menschewiki oder die rechten Sozialisten-Revolutionäre ihre tatsächlichen Interessen vertreten würden. In diesem Geiste verlief etwa die Diskussion in der Führung der Menschewiki bezüglich der Taktik in der Konstituierenden Versammlung. (vgl. Nenarokow 2017) Auch hier wurden, wie bei Lenin, „Arbeitermassen“, die der Partei folgen würden, einfach imaginiert – während allerdings die Partei der Menschewiki aus den Wahlen real nur als marginale Größe hervorgingen und sich die Masse der Arbeiter für die Bolschewiki entschieden hatte. Man wollte nicht über die eigenen Fehler sprechen, die Konfrontation sollte mit den Bolschewiki gesucht werden. Diese Sichtweise prägte offensichtlich auch die Diskussionen in den anderen nichtbolschewistischen Parteien vor Eröffnung der Versammlung. (vgl. z.B. Radkey 1963, 375ff.)

In dieser Hinsicht hatte sich im Verhalten führender Köpfe der Februar-Phase der Revolution nichts seit dem Fall der Provisorischen Regierung und den gescheiterten Versuchen der Schaffung einer Einheitsregierung unter Beteiligung rechter Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki im November/Dezember geändert. So erwähnte Tschernow in seiner Eröffnungsrede die Realität der Sowjets und den II. Sowjetkongress mit keinem Wort, wohl aber die Beschlüsse des I. Sowjetkongresses von Mitte 1917, der sich praktisch gegenüber der Provisorischen Regierung selbst entmachtet hatte. Zwar distanzierte er sich wie auch Cereteli von einer Zusammenarbeit mit konterrevolutionären Kräften, bestanden aber darauf, dass die zentralen Entscheidungen des II. Sowjetkongressen bzw. des Rates der Volkskommissare zu den Punkten Land, Frieden, Rechte der Werktätigen und zur nationalen Frage faktisch kassiert werden sollten. Cereteli versuchte das mit dem Hinweis darauf zu begründen, dass die Rechte zwar deklariert seien, die Sowjetmacht aber in den zwei Monaten ihrer Existenz nicht in der Lage gewesen sei, die damit im Zusammenhang stehenden Probleme zu lösen. Auch wenn das richtig war erhob sich doch die Frage, warum Entscheidungen, die sich auf breite Zustimmung stützen konnten, und die von den beiden Rednern zwischen dem Februar und Oktober immer wieder hinausgeschoben wurden, nun zur Disposition gestellt werden sollten. Angesichts dieser Konstellation konnte das Ansinnen, dass sich die Sowjets der Konstituierenden Versammlung unterordnen sollten, nur als konterrevolutionärer Vorstoß verstanden werden. Die Schärfe der Abgrenzung zu den Kadetten (die in ihren Fraktionen nicht unbedingt geteilt wurde) und anderen konterrevolutionären Kräften wurde damit wenigstens teilweise zurückgenommen. Die durchaus interessanten Reformvorstellungen in den Auftritten (die modernen sozialstatlichen entsprachen) und in den vorgelegten Gesetzesprojekten traten angesichts dieser Grundrichtung in den Hintergrund. (zum turbulenten Verlauf der Tagung vgl. das nur in russischer Sprache vorliegende Stenogramm (Novickaja 1991b); übersetzte Auszüge bei Hedeler (2015, 159ff. sowie 1998a) oder die an dem Stenogramm orientierte Wiedergabe bei Rabinowitch (2010, 153–170))

Letztlich hatte die Konstituierende Versammlung den Massen nicht mehr zu bieten, als sie schon hatten, nur nunmehr nicht als durch die sie selber angeeignetes Recht, sondern als Gabe „von oben“. Das macht vielleicht verständlich, warum die Auflösung der Konstituierenden Versammlung gesellschaftlich kaum erschütternd wirkte. Und dies, obwohl die Diskussionen der Konstituierenden Versammlung bei ihrer Auflösung noch gar nicht bekannt sein konnten. Allerdings kam es durchaus in den folgenden Tagen zu Auseinandersetzungen, die mit Gewalt unterdrückt wurden und z.B. in Moskau auch wieder mit Toten endeten. In Petrograd selber boten Belegschaften von Betrieben, aufgeschreckt vom Vorgehen der Bolschewiki einen Tag zuvor, den Abgeordneten an, auf ihren Werksgeländen die Tagung fortzusetzen, was allerdings abgelehnt wurde. (vgl. Shubin 2017, 198f.)

So sie nicht kompromisslos zur Konterrevolution übergehen, werden viele der Anhänger der Konstituierenden Versammlung in dem folgenden Bürgerkrieg zwischen der Rätemacht und der Konterrevolution zerrieben. Die meisten der bolschewistischen Abgeordneten werden später Opfer der stalinschen Repressionen. (SibGUTI 2018)

Was Lenin betrifft, so fasst Valeriu Marcu in literarischer Form recht zutreffend die Formel des Erfolges:

„Seine Wurzel blieb das Dorf; trotz aller heraufbeschworenen menschenfreundlichen Philosophie des industriellen Westens wollte er nur das, was die Scholle ersehnte. Etwas anderes erschien ihm vielleicht geistreicher, wünschenswerter, aber nicht möglich.“ (Marcu 1927, 290f.)

Die von Lenin gebrauchte rhetorische Floskel, dass das Volk „sofort“ gemerkt habe, „was diese vielberühmte Konstituierende Versammlung eigentlich vorstellt“ (vgl. Lenin, W.I. 1974, 440) sollte man wahrscheinlich in diesem Sinne verstehen.

Das Ende

Die Sitzung wurde schließlich am frühen Morgen des 19. Januar kurz nach der Aufforderung durch den Kommandanten der Besatzung des Taurischen Palais, sie zu beenden, da die „Wache müde sei“, geschlossen. Am gleichen Tag erließ das Zentrale Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten (real die Mehrheit des ZK der Bolschewiki) das Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung. Die Bolschewiki stellten der Hoffnung der Massen auf eine demokratische Republik (gedacht als Republik der Sowjets) die Notwendigkeit der „uneingeschränkten Macht der Sowjets“ entgegen. Der alte Parlamentarismus sei mit den Aufgaben der Verwirklichung des Sozialismus absolut unvereinbar. Nicht gesamtnationale, sondern nur Klasseninstitutionen (wie es die Sowjets seien) würden in der Lage sein, den Widerstand der besitzenden Klasse zu brechen und das Fundament für eine sozialistische Gesellschaft zu legen. (vgl. Hedeler et al. 1998b, 416) Obwohl viele Handlungen und Äußerungen des leninschen Flügels der Bolschewiki und der Sowjetmacht in den vorangegangenen Wochen schon in diese Richtung gewiesen hatten, musste sich diese Auffassung aber auch erst am Tage der Sitzung der Konstituierenden Versammlung in der Fraktion der Bolschewiki (über die es bisher keine Unterlagen gibt) durchsetzen. Die Position Lenins, so vermerkt Rabinowitch zu Recht, war bis dahin nur im kleinen Petrograder Kreis, nie in der Partei selbst diskutiert worden. (vgl. Rabinowitch 2010, 152) Auch die Bestätigung der Entscheidung auf dem III. Sowjetkongress wenige Tage später war mit kontroversen Diskussionen zu dieser Frage verbunden. Dabei ging es dem leninschen Flügel nicht um Gegnerschaft zu dieser konkreten parlamentarischen Körperschaft, es ging um Gegnerschaft zum Prinzip demokratischer Herrschaft und um die Etablierung eines Politikstils, der sich die nächsten Jahrzehnte mehr oder weniger offen als Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie verstand und sich daraus legitimierte.

Für Wolfgang Ruge stellt die per Dekret beschlossene Auflösung der Konstituierenden Versammlung eine „historische Zäsur“ dar, insofern sich

„der immer wieder von Wunschvorstellungen vorangetriebene Realpolitiker Lenin, der sein Regime im Grunde von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wissen wollte, hier erstmals in aller Öffentlichkeit für die Machtausübung einer Minderheit gegen die Mehrheit aussprach.“ (Ruge 2007, 1027)

Brie beschreibt diese Zäsur so:

„Die … Auflösung der Konstituierenden Versammlung Anfang Januar 1918 markierte den Übergang des Leninschen Bolschewismus von einer Idee und Partei, wie sie sich seit 1903 formiert hatte, zu einem politischen und gesellschaftlichen Machtsystem. Die legitimatorische Basis dieses Systems war der erklärte Bezug auf das Interesse der Arbeiterklasse und den Marxismus als wissenschaftlicher Ausdruck dieser Interessen. Aber dieses Interesse erhielt nun in der Gestalt der Herrschaft der bolschewistischen Partei einen von den realen Arbeitern und der werktätigen Bevölkerung unabhängigen Ausdruck. Die Führung der bolschewistischen Partei berief sich auf die Arbeiter und machte zugleich deren eigenständige Aktion unmöglich. Die Diktatur des Proletariats wurde zu einer vom Willen der Angehörigen des Proletariats und deren Handeln abgekoppelten Instanz. Legitimiert wurde dies durch den Verweis auf die wissenschaftliche Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte.“ (Brie 2017, 138f.)

Der Arbeiterklasse verblieb die Rolle als Kaderreserve für die entstehenden Apparate; eine Perspektive, die sich als nur begrenzt emanzipatorisch erweisen sollte.

In Erwartung der Weltrevolution …

Um das Handeln der Bolschewiki richtig einordnen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass sie, aber auch ihre Bündnispartner von den linken SozialistInnen-RevolutionärInnen, immer noch auf den Ausbruch von Revolutionen in Westeuropa hofften. Die Erwartung der Weltrevolution ist bis 1920er Jahre hinein zentral für das Verständnis des Umgangs mit allen Problemen: Krieg/Frieden, Bodenfragen, nationale Frage, Demokratie. In seiner Rede in der Sitzung der Konstituierenden Versammlung begründete Bucharin die Ablehnung einer an bürgerlich-demokratischen Normen orientierten Ordnung genau in diesem Kontext:

„In einem Augenblick, wo der Feuerschein des Revolutionsbrandes auflodert und, wenn nicht gleich heute, so doch morgen die ganze Welt entflammen wird, erklären wir … von dieser Tribüne aus der bürgerlich-demokratischen Republik einen Kampf auf Leben und Tod.“ (Hedeler et al. 1998a, 412)

Der Verweis auf die bevorstehende Weltrevolution war auch ein Ausgangspunkt für die oben bereits angesprochene Eröffnung der Sitzung durch Swerdlow. Wozu also ein Parlament, wenn die bürgerliche Ordnung doch demnächst stürzen wird?

All diese Vorannahmen – sowohl die „unumschränkte Macht der Sowjets“ als auch die Weltrevolution waren zu diesem Zeitpunkt nicht Realität, sondern ein weiteres Versprechen. Wie wir heute wissen, ließen sich beide nicht einlösen. Wenn die von den Bolschewiki aufgebaute Fiktion einer hinter ihnen stehenden Rätemacht richtig gewesen wäre, dann hätte man die Konstituierende Versammlung tagen und diskutieren lassen und ihre Beschlüsse, so sie gegen die Räte gerichtet gewesen wären, ins Leere laufen lassen können (dieser Vorschlag bestand); oder man hätte, wie Rosa Luxemburg meinte, Neuwahlen ausschreiben können. (Luxemburg 1974, 353) Unumschränkte Macht hätte dann übrigens auch Macht der Sowjets gegenüber der bolschewistischen Partei bedeuten müssen. Aber diese Spekulationen sind müßig. Historische Tatsache ist, dass sich der für die zeitweilige Machtsicherung der Partei der Bolschewiki im Januar 1918 betretene Weg als Etablierung eines permanenten Ausnahmezustandes erwies. Extremer Ausdruck dessen war der stalinsche Terror. Unter dem Fokus der Ereignisse im Zusammenhang mit der Konstituierenden Versammlung hat Stalin die Oktoberrevolution nicht verraten, er war eine ihrer möglichen Konsequenzen, die mit den hier betrachteten Prozessen wahrscheinlicher wurde. Der Preis der tatsächlich erreichten Stabilisierung war die von Rosa Luxemburg befürchtete „Erdrückung des öffentlichen Lebens“ wodurch „die Quelle der politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft“ wurde. (vgl. Luxemburg 1974, 359) Damit war es aber ein Pyrrus-Sieg. Diese Weichenstellung führte letztlich in den Zusammenbruch der Macht der Sowjets durch ihre Umwandlung in ganz normale Staatsorgane und schließlich nach reichlich 70 Jahren zum Zusammenbruch der auf dieser Grundlage entstandenen Gesellschaften und Staaten.

 

Quellen und zum Weiterlesen

Brie, Michael (2017). Lenin neu entdecken: das hellblaue Bändchen zur Dialektik der Revolution & Metaphysik der Herrschaft, Hamburg: VSA: Verlag, abrufbar unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VS...

Hedeler, Wladislaw (2015). Nicolai Bucharin, Stalins tragischer Opponent: eine politische Biographie Erste Auflage., Berlin: Matthes & Seitz

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Lenin, W.I. (1961). Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 422–426

Lenin, W.I. (1974). Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariats, in: W.I. Lenin Werke Bd. 30 September 1919-April 1920, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 242–265

Luxemburg, Rosa (1974). Zur russischen Revolution, in: Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 4 August 1914 bis Januar 1919, Berlin: Dietz Verlag, 332–365

Marcu, Valeriu (1927). Lenin. 30 Jahre Russland, Leipzig: Paul List Verlag

Nenarokow, Albert (2017). Zur Rolle von Irakli Zereteli bei der Ausarbeitung der von der russischen Sozialdemokratie in der Konstituierenden Versammlung vertretenen Auffassungen, in: Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Die russische Linke zwischen März und November 1917, Berlin: Karl Dietz Verlag, 85–90

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