kapital150

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1867 hatte Marx endlich den ersten Band des Kapital geschrieben und veröffentlicht – und seither schreibt das Kapital seine Geschichte gleichsam selbst. Wenn der Weg zu Marx zurück durch die Geschichte des Marxismus hindurch führt, so gilt das für das Kapital erst recht: Es ist nicht zu trennen von seiner ungeheuren Wirkung. Das Kapital, in dem viel vom „Doppelcharakter“ gesellschaftlicher „Dinge“ und Verhältnisse die Rede ist, hat selbst einen merkwürdigen Doppelcharakter entwickelt: Ausgerechnet durch die ständige Beschäftigung mit ihm und mit der Frage nach seiner Aktualität hat es den entrückten Status eines Klassikers erhalten. Und gerade die widerstreitenden Interpretationen, die zu eigenständigen „Kapital“-Lesarten und verschiedenen „Marxismen“ geführt haben, sind Ausdruck der gemeinsamen Überzeugung, dass für die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft das „Kapital“ unhintergehbar und unübertroffen bleibt.

Warum erlangte das Kapital, das mit dem berühmten Satz über den „Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“, in die analytische Entwicklung dieser Produktionsweise einsteigt, eine solche Anziehungskraft? Den entscheidenden Hinweis gibt bereits der Untertitel. Er bringt mit drei Begriffen auf eine Formel, was das „Kapital“ eigentlich ist: Eine „Kritik der politischen Ökonomie“. Die Anziehungskraft dieser drei Begriffe – der Kritik, des Politischen und des Ökonomischen – liegt auch darin begründet, dass sie keineswegs geklärt sind. Im Gegenteil, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie fordert bis heute ebenso leidenschaftliche wie erbitterte Kämpfe um ihre Deutung heraus, aber auch um die Deutungshoheit: Was ist eigentlich Kritik? Was ist das Politische, was das Ökonomische der kapitalistischen Gesellschaft – und wie sind diese Sphären miteinander verschränkt und verwoben?

Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass Marx im „Kapital“ zwar keine Revolutionstheorie und auch keine neue Gesellschaft entworfen hat. Vielmehr hat er mit den Vorstellungen der Wissenschaft und des Alltagsverstands davon, wie die bestehende Gesellschaft verfasst ist, radikal gebrochen. Dieser Bruch besteht darin, dass für Marx eine angemessene wissenschaftliche Darstellung der politischen Ökonomie ihre Kritik bereits beinhaltet. Die Darstellung der Ökonomie muss zugleich Kritik sein, sonst hat sie ihren Gegenstand nicht erfasst. Das meint Marx, wenn er über sein „Kapital“ sagt, es sei „Kritik durch Darstellung et vice versa“.

Durch diese eigentümliche Verbindung ist Marx' Kritik der politischen Ökonomie nicht nur Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst, sie birgt auch eine Enttäuschung, die sich in die von Freud formulierten „drei Kränkungen der Menschheit“ einreihen lässt: Kopernikus’ „kosmologische Kränkung“, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, Darwins „biologische Kränkung“, dass der Mensch nicht von Gott erschaffen wurde, sondern aus der Tierwelt hervorgegangen ist, und schließlich die Kränkung, die uns durch Freud selbst widerfuhr: dass das Ich nicht Herr in seinem eigenen Haus ist. Die Kränkung, die unsere „aufgeklärte Gesellschaft“ durch Marx erfährt, besteht darin, dass sie dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit und der Produktionsmittel nicht gerecht wird. Die produktive Kraft, die der Verwertung der Arbeit und der Produktionsmittel entspringt, tritt laut Marx der Gesellschaft wie eine fremde Macht gegenüber. Sie erscheint nicht mehr als etwas von Menschen gemachtes, sondern als Gewalt außerhalb der menschlichen Gestaltungsmacht, sie wird zu einer zweiten, gesellschaftlichen Natur. Andererseits entzieht sie sich einer planvollen, krisenfreien und sozial gerechten, kurz: vernünftigen Anwendung im Interesse der gesamten Gesellschaft.

Der gesellschaftliche Charakter und die produktive Kraft der Ökonomie entziehen sich nicht nur ihrer vernünftigen praktischen Anwendung, sondern auch dem theoretischen Verständnis einer ökonomischen Wissenschaft. Ihr wies Marx schon zu seiner Zeit nach, dass sie ihren eigenen Gegenstand nicht recht begreifen kann. Kurzum, die kapitalistische Gesellschaft ist in Theorie wie Praxis ihrer eigenen Produktionsweise gegenüber ohnmächtig, hilflos, ausgeliefert: Sie kann ihre Ökonomie nur durch Krisen und Kriege, durch Ungleichheit und durch die Ideologisierung des Ökonomischen und Sozialen bewältigen. Gleichwohl – oder vielmehr gerade darum – ist Marx zufolge die Geschichte mit der kapitalistischen Produktionsweise nicht an ihr Ende gekommen.