„Neue Marx-Aneignung“ seit den 1960er Jahren

Angela Davis (Mitte) betritt die Royce Hall an der UCLA für ihre erste Philosophie-Vorlesung, Oktober 1969
Angela Davis (Mitte) betritt die Royce Hall an der UCLA für ihre erste Philosophie-Vorlesung, Oktober 1969 Foto: GeorgeLouis, Wikipedia

Die „Neuen Marx-Aneignungen“, die nach dem 2. Weltkrieg vor allem, aber nicht nur, im globalen Westen aufkommen, werden mit dem gesellschaftlichen Auf- und Umbruch Ende der sechziger Jahre verbunden – StudentenInnenbewegungen, Bürgerrechtskämpfe, „Neue Linke“. Diesem „1968“ folgte das „roten Jahrzehnt“ der 1970er Jahre, das mit dem „Deutschen Herbst“ zumindest in der bundesrepublikanischen Geschichte bereits wieder endete. Seit diesem mit dem Signum 1968 verbundenen Einschnitt hat es keinen vergleichbaren Umbruch in den Theorien und Debatten nach Marx mehr gegeben. Die nachfolgenden Diskussionen und Theoriebildungen bilden eher Fortführungen und Verzweigungen dieser neuen Aneignungen.

Eine „Neue Marx-Aneignung“ – zunächst auch mit dem Sammelbegriff Neo-Marxismus bezeichnet – fand vor allem in den westlichen Industrienationen statt, aber auch in den Nischen des Realsozialismus. Ja, letztlich war eine neue Marx-Aneignung ein weltweites Phänomen. Sie grenzt sich einerseits vom Umgang mit Marx in den realsozialistischen Staaten sowie in den sozialistischen, kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien und Organisationen im Westen ab, andererseits war sie eine Rückkehr zu den Texten von Marx.

Diese Rückkehr wurde durch die Diskussionen des Westlichen und heterodoxen Marxismus gleichsam schon vorbereitet. Vor allem das Kapital und die Texte, die in seinem Umfeld entstanden wie die Grundrisse und die Theorien über den Mehrwert, werden nun neu und anders gelesen. Die neue Marx-Aneignung betrieb aber keineswegs nur die Rückkehr zu einem „authentischen“ Marx, und sie beschränkte sich auch nicht auf eine bloße Re-Lektüren seines Werks. Charakteristisch für die neue Marx-Aneignung ist auch die Suche nach neuen Formen des Sozialen, Politischen und Kulturellen und nach anderen Formen der Wissensaneignung und der Bildung. Das hatte wiederum praktische Konsequenzen, nicht zuletzt in denjenigen Kreisen, welche diese Marx-Aneignung nun vorantrieben: von der Selbstorganisierung in Lese- und Projektgruppen über die Reform der traditionellen kommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen Repräsentationsformen bis zu neuen Organisationsweisen jenseits der Partei- und Bewegungstraditionen der Linken.

Kurzum, sowohl die inhaltliche Erneuerung im Bereich des Marxismus als auch die neuen Formen der Marx-Aneignung fanden nun vor allem im Umfeld dessen statt, was allgemein als „Neue Linke“ oder „Neue Soziale Bewegungen“ bezeichnet wird. Die Marx-Aneignung war mithin weniger rein akademisch motiviert, treibend war eher das Bedürfnis nach neuen sozialen, politischen und kulturellen Praxen sowie nach einer Aktualisierung, die Marx‘ Kritik ins Verhältnis setzt zu der sich konsolidierenden Nachkriegsgesellschaft, zu den Entwicklung in der Massen- und Pop-Kultur und in den Geschlechterverhältnissen, zum Realsozialismus, zu den Naturverhältnissen und der Ökologie usw.

Mit dieser neuen Marx-Aneignung beginnt endgültig eine Pluralisierung, Vervielfältigung und Fragmentierung. Im Zuge dessen haben sich regelrechte Lesarten herausgebildet, d.h. relativ eigenständige Methoden der Marx-Aneignung und hier wiederum besonders des Kapital. Entstanden sind etwa strukturale, post-strukturale und dekonstruktive Lesarten, operaistische, post-operaistische und biopolitische Lesarten, werttheoretisch-formanalytische Lesarten, praxisphilosophische Lesarten und gramscianische Lesarten – um nur die bekanntesten zu nennen. Sie sind stark vom jeweiligen politisch-sozialen und ideengeschichtlichen Kontext der Länder ihrer Entstehung bestimmt, der oft bis heute in den Marx-Lesarten erkennbar ist.

Mittlerweile wird ein Strang dieser neuen Marx-Aneignung als „Post-Marxismus“ bezeichnet. Auch wenn er mitunter mit dem endgültigen Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 in Verbindung gebracht wird, hat er sich bereits Ende der 1970er Jahre herausgebildet und ist stark von der französischen Philosophie beeinflusst. Dazu werden Texte gezählt von z.B. G. Deleuze, A. Negri, J. Derrida, G. Agamben, A. Badiou, A. Balibar, J.-L. Nancy, J. Rancière, F. Guattari, E. Laclau, Ch. Mouffe, A. Negri oder S. Žižek

Vor allem seit dem endgültigen Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 sind in der an Marx orientierten Gesellschaftskritik neue Themen dazugekommen: Die Politik des Neoliberalismus und die Ökonomie des Finanzkapitalismus, die sog. Globalisierung, neue Kriege, die neuen Technologien und Medien, Ökologie und Klimawandel etc. Im Gegensatz zu den 1960er und 1970er ist die Marx Diskussion jedoch nicht mehr getragen von einer weltweiten Situation des Um- und Aufbruchs. Konnte sich die Diskussion damals noch an den Universitäten etablieren, so findet die Marx-Aneignung nur mehr in bestimmten Nischen statt, oft gänzlich außerhalb der Universitäten und der klassischen politischen Organisationen, mitunter sogar in isolierten Einzelanstrengungen. Allerdings gibt es auch eine zunehmende Internationalisierung der Marx-Diskussion.

Westdeutsche Marx-Aneignung

Mit den Neuanfängen einer Kritik nach Marx sind in den 1960er Jahren in West-Deutschland zahlreiche Namen verbunden. Sie stehen zunächst weniger für Protagonisten einer bestimmten Marx-Lesart im engen Sinne, sondern sie sorgen zunächst grundsätzlich für eine neue Marx-Aneignung und eine Erneuerung einer „Kritik nach Marx“.

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Formanalytisch-werttheoretische Marx-Lektüre (ab Mitte 1960er Jahre)

Dieser Strang der „Neuen Marx-Aneignung“ ist in Westdeutschland aus einer Phase hervorgegangen, die als „Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie“ bezeichnet wird und Mitte der 1960er begann. Diese Phase der Rekonstruktion kennzeichnet die „Neue Marx-Aneignung“ in der Bundesrepublik und z.T. in der DDR ganz allgemein.

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Marx-Forschung in der DDR (1949-1989)

Die Allgegenwart von Beschwörungsformeln, denen zufolge in der DDR „die Lehren von Marx verwirklicht“ worden seien, lässt vermuten, der Marxismus sei bloße Herrschaftsideologie der SED gewesen. Doch diese Perspektive ist zu eng: Zwischen 1946 und 1989 hat es in Ostdeutschland nicht nur heterodoxe Marx-Debatten in den Nischen des Realsozialismus gegeben, sondern auch eine umfangreiche wissenschaftliche Beschäftigung mit Marx. Ertragreich waren vor allem die Ergebnisse der Geschichtsforschung und der Marx-Edition, hier wiederum besonders die Arbeiten zur MEGA.

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Operaistische und sozialrevolutionäre Marx-Lektüre und Autonomist Marxism (ab Anfang 1960er Jahre)

Der Operaismus ging in Italien bereits Anfang der 1960er Jahre aus der Theoriearbeit politischer Intellektueller hervor, die aus der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei Italiens sowie aus der Sozialwissenschaft kamen. Wichtige Orte der Diskussion waren die Zeitschriften Quaderni Rossi und Classe Operaia.

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Post-Operaistische Marx-Lektüre (ab 1970er Jahre)

Bereits Anfang der 1970er ging aus dem Operaismus eine post-operaistische, stark von der französischen Philosophie und hier wiederum vom Post-Strukturalismus und von den Arbeiten Michel Foucaults beeinflusste Marx-Lesart hervor.

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Strukturale Marx-Lektüre (ab Mitte 1960er Jahre)

Der Strukturalismus hat alle wichtigen Bereiche der (Geistes-)Wissenschaften beeinflusst, darunter die an Marx orientierte Gesellschaftskritik.

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Post-strukturale und dekonstruktive Marx-Lektüren (ab 1970er Jahre)

Von der Philosophie des Post-Strukturalismus und der Dekonstruktion beeinflusst, entwickelte sich vor allem in Frankreich eine dekonstruktive Marx-Lesart. Jacques Derridas Marx‘ Gespenster gilt als einer der Referenztexte, einen englischen Auszug aus dem Buch findet man hier.

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Post-Colonial Studies und Subtaltern Studies

Die post-strukturale und dekonstruktive Philosophie hat unter anderem die Post-Colonial Studies und die Subaltern Studies beeinflusst, die ihrerseits wiederum auch auf Marx zurückgreifen. Die Anfänge einer post-kolonialen Kritik stehen Mitte des 20. Jahrhunderts noch im engen Zusammenhang mit der Kritik am Kolonialismus und Imperialismus.

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Marx-Diskussion und Cultural Studies (ab 1960er Jahre)

Die Cultural Studies entstanden in den 1960er Jahren im angelsächsischen Raum. Gemäß ihrer stark interdisziplinären Ausrichtung haben sie auf die Bedeutung von nicht unmittelbar ökonomischen und politischen Verhältnissen aufmerksam gemacht, die in anderen Spielarten des Marxismus oft übersehen oder lediglich unter „Überbauphänomene“ verbucht wurden.

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Political Marxism (ab 1970er Jahre)

Der Political Marxism entstand vor allem im angelsächsischen Raum und ist von den Cultural Studies beeinflusst. Er zeichnet sich durch eine Rückbesinnung auf empirische und sozial-historische Forschung aus und untersucht hier insbesondere die Alltagskultur, ihre Akteure und Praktiken sowie die Klassenverhältnisse.

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Regulationstheorie (ab 1970er Jahren)

Die Regulationstheorie entstand in den 1970er Jahren im Umfeld französischer ÖkonomInnen und SoziologInnen im Umfeld des Volkswirtschaftlers Michel Aglietta.

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Weltsystemtheorie (ab 1970er Jahre)

Die Weltsystemtheorie entstand in den 1970er Jahren aus damals aktuellen Marx-Diskussion und Geschichtstheorien der französischen Annales-Schule sowie aus der Kritik sozialwissenschaftlicher Methoden.

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Open Marxism

Diese Strömung entstand in den 1980er und 90er Jahren.

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Analytischer Marxismus (Ende 1970er Jahre)

Der Analytische Marxismus, auch rational-choise-marxism genannt, entstand im angelsächsischen Raum. Den Auftakt machte 1978 Gerald A. Cohens Buch MarxTheory of History, ihm folgten einschlägige Arbeiten von John E. Roemer und Jon Elster.

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Post-Marxismus

Bereits in den 1980er Jahren wurden ganz verschiedene Autoren gelegentlich als post-marxistischbezeichnet – darunter Hannah Arendt oder Theodor W. Adorno oder auch Jürgen Habermas. Heute wird unter Post-Marxismus meist eine Theorieströmung verstanden, deren Marx-Aneignung stark von post-strukturalen und post-operaistischen Lektüren beeinflusst ist.

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